§ 27. Rechts- und Verfassungsgeschichte des Hochmittelalters

(H. Hirsch)

Die Bibliographie zur Rechtsgeschichte ( 1318) für das J. 1928 in der Rivista di Storia del Diritto Italiano, zu deren Ausarbeitung sich eine Reihe italienischer und nichtitalienischer Gelehrter -- von deutschen wird E. Wohlhaupter genannt -- zusammengetan haben, sei als wertvolles Hilfsmittel besonders erwähnt. Der für die Aufnahme eines Hinweises gezogene Rahmen ist ziemlich


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weit gespannt. Die drei Hauptgruppen, in denen die einzelnen Angaben, in Unterabteilungen angeordnet, aneinandergereiht wurden, sind 1. Allgemeines; 2. Geschichte des italienischen Rechtes; 3. Geschichte der fremden Rechte. -- Auch auf den Bericht von E. Schmidt ( 1353) über die strafrechtliche Literatur wollen wir hier hinweisen und die ausführliche Besprechung von His, Geschichte des deutschen Strafrechtes bis zur Karolina und von Mitteis, Politische Prozesse des früheren MA. in Deutschland und Frankreich besonderer Beachtung empfehlen.

Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß das Zusammenwachsen von Forschungsgebieten, die früher allzusehr getrennt waren, nun von Zeit zu Zeit zum Austausch der Ergebnisse führt. An den in diesem Absatz zu besprechenden Arbeiten tritt dies erkennbar hervor. Die Schrift von Schönbauer ( 1352) »Beiträge zur Geschichte des Bergbaurechts« gilt zu drei Viertel dem Bergrecht der römischen Zeit und den Quellen hierfür, das letzte Viertel ist aber der Frage gewidmet, inwieweit das ma.liche, bes. das deutsche Bergrecht, »von dem römischen abhänge und mit ihm im Zusammenhange stehe«. Die Antwort fällt bei aller Vorsicht in der Fassung der Ergebnisse doch ziemlich günstig für Dopsch und seine Lehre von der Fortdauer römischer Errungenschaften in germanischer Zeit aus. Für die Entwicklung des ma.lichen Bergbaurechtes stellen die römischen Domänenordnungen »eine wichtige Komponente« dar, auch die Frage »der tatsächlichen Kontinuität des Bergbaues« ist »für manche Bergwerke« zu bejahen, das Bergrecht selbst ist aber nicht übernommen, ja Schönbauer ist geneigt, die Rechtseinrichtungen, aus denen es besteht, »zu den schönsten Schöpfungen deutschen Geistes im MA. zu zählen«. Auf die Auseinandersetzung eines ausgezeichneten Kenners des ma.lichen Bergrechtes, A. Zycha, Ztschr. d. Sav. Stift. f. Rg. germ. Abt. 50, 407 ff., wird im Bericht des folgenden Jahres einzugehen sein. -- In einer großzügigen Darstellung, die die antiken Verhältnisse ebenso einbezieht wie die orientalischen, gelangt Hintze ( 1322) zu Auffassungen von Wesen und Verbreitung des Feudalismus, die von denen der früheren Zeit, namentlich denen G. von Belows, erheblich abweichen und wie schon H. Mitteis, HZ. 142, 308 ff., mit Recht betont hat, für rechtsgeschichtliche Forschung und Darstellung der Folgezeit von geradezu programmatischer Bedeutung sind. Drei Elemente, in denen sich der Feudalismus entwickelt, sind an Stelle der Unterscheidung, die v. Below zwischen Lehenswesen und Feudalismus gemacht hat, als Kennzeichen zu setzen: das militärische, das wirtschaftlich-soziale und das politische. Aus dem militärischen wird das Entstehen der Vasallität erklärlich, die nach Auflösung der Sippe an deren Stelle tritt, aus dem zweiten geht die grundherrlich-bäuerliche Wirtschaftsweise hervor, in der weltlichen und geistlichen Grundherrschaft, die die aus der Sippenverfassung hervorgegangene Dorfgenossenschaft keineswegs aufgesogen hat, findet der Bauer Schutz, zugleich gerät er in Abhängigkeitsverhältnisse mannigfacher Art, dem Vasallen aber, der nun zum Vertreter eines privilegierten Kriegerstandes wird, gewährt die grundherrschaftlich-bäuerliche Wirtschaftsweise »ein arbeitsfreies Renteneinkommen«. Der politische Faktor endlich, der im Feudalismus sich ausprägt, wird in der Aneignung obrigkeitlicher Rechte durch die Inhaber von Grundherrschaften und die Ritter wirksam. Als These stellt Hintze hin: »Feudalismus im vollen Sinne stellt sich in der Regel nur da ein, wo die normale, direkte Entwicklung vom Stamm zum Staat abgelenkt


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wird durch eine weltgeschichtliche Konstellation, die zu einem überstürzten Imperialismus führt.« Jeder, der die Schwierigkeiten kennt, die sich namentlich bie Darstellung verfassungsrechtlicher Verhältnisse des hohen MA. vom Standpunkt der von den staatsrechtlichen Doktrinen des 19. Jhds. völlig beherrschten früheren Auffassungen ergeben, wird die Schrift Hintzes als eine befreiende Tat begrüßen; sie eröffnet für den Neuaufbau einer Verfassungsgeschichte des hohen MA. Ausblicke erfreulichster Art.

In diesem Bericht sind im besonderen Ausmaß Leistungen zu würdigen, in denen Reichsrecht und Reichsverfassung des hohen MA. Gegenstand von Forschung und Darstellung sind. Die Studien zu frühma.lichen Aufzeichnungen über Staat und Verfassung von P. E. Schramm ( 1335) gelten jenem Quellengebiet, dem sich jetzt die Aufmerksamkeit der Forscher mehr und mehr zuwendet, den Ordines. Das erste Kapitel ist der 1908 veröffentlichten »Decursio de gradibus« gewidmet, in der der Verfasser eine Gelehrtenarbeit sieht, die nur teilweise »aus dem Rechtsleben der Abfassungszeit« schöpft, einen »Versuch, mit alten literarischen Mitteln ein neues Thema, die eigenen Rechts- und Verfassungszustände, zu fixieren«. Im zweiten Abschnitt wird das Polypticum des Bischofs Atto von Vercelli als cluniacensisch betonter, tiefsinniger und gedankenreicher Traktat über den Staat des MA., als »Weltspiegel« oder als Spiegel des öffentlichen Lebens hingestellt, im dritten und vierten werden die ältere (S. IX) und die jüngere (S. XI) Liste der römischen Pfalzrichter auf Grund eingehender handschriftlicher Studien abgedruckt, die Zusammenhänge der älteren mit der Konstantinischen Schenkung aufgedeckt und die Stellung der jüngeren wie der älteren in der Entwicklung der römischen Theorien klargelegt. Doch kommt ihnen schon im Hinblick auf das, was über die Beziehung der dort beschriebenen Ämter zum Kaiser gesagt wird, eine über die Stadt Rom hinausgreifende Bedeutung zu. Als Erbe der sieben Richter, deren Namen und Kompetenz in beiden Listen erklärt werden, ist das Kardinalskolleg zu betrachten. -- Im Gegensatz zu Waitz, der die Pfalzgrafen gerade in der Ottonenzeit als die Vertreter der königlichen Rechte gegenüber den Stammesherzögen hervorgehoben hatte, tritt Lintzel ( 1338) dafür ein, daß »der Niedergang ihrer Stellung« gerade bereits im 10. Jhd. deutlich und die Mitte des 9. Jhds. »ihre große Zeit« gewesen sei, in der sie im ostfränkischen Reiche Ludwigs des Deutschen noch als erste Hofbeamte wirkten und den höchsten geistlichen Hofbeamten gleichgestellt erscheinen. Freilich betont L. anderseits, daß die Erinnerung an den Amtscharakter der Pfalzgrafschaften und den Inbegriff ihrer Rechte nicht nur in Italien, sondern, wie nicht allein das Zeugnis Eikes von Repgau beweist, auch in Deutschland in den dem 10. folgenden Jahrhunderten eine sehr starke gewesen sein muß. Für diese Zeiten werden weitere Untersuchungen Bedeutung und Umfang der pfalzgräflichen Rechte noch zu klären haben. -- »Der fränkische Staatsgedanke und die Aachener Königskrönungen des MAs. Eine diplomatische Untersuchung nebst einer Antikritik zum ersten Bande der Rheinischen Urkundenstudien« bezeichnet Oppermann ( 1333) das Buch, in dem er sich mit U. Stutz vornehmlich über die Frage, ob es eine Thronsetzung vor der Krönung gegeben habe, auseinandersetzt. Die Ergebnisse sind von Eichmann, HZ. 140, 585 ff., und R. Holtzmann, D. Ltztg. 1929, 1684 ff., in der Hauptsache abgelehnt worden und U. Stutz hat Ztschr. der Sav. Stift. f. Rg. germ. Abt. 50, 441 ff., seinen Standpunkt nochmals und mit Erfolg dargelegt. Die Arbeit enthüllt


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wieder die Vorzüge und Schwächen des verdienten Verfassers -- dem Bestreben, weite Zusammenhänge zu erfassen und das Entstehen einer Urkunde mit einer ganzen Fülle von Beobachtungen vielfach zutreffender Art aufzuklären, steht eine zu weitgehende Skepsis nachteilig gegenüber, der Urkunden auch dann zum Opfer fallen sollen, wenn über die Unechtheit zum mindesten kein unbedingt klarer Bescheid gegeben werden kann. Deshalb habe ich mich im Gegensatz zu O. -- was am Schlusse des Buches zur Sprache kommt -- über das Diplom Lothars III. No 40 für S. Pantaleon im 8. Bd. der DD. nicht unbedingt ablehnend geäußert, obwohl der uns gelungene Nachweis über den Schreiber die Anzahl der Verdachtsgründe verstärkt. Wenn O. nun weitere Gründe für die Unechtheit der Urkunde in Aussicht stellt, ist das sehr zu begrüßen, aber die Gültigkeit dessen, was ich in den Vorbemerkungen vom Standpunkt des J. 1924 gesagt habe, wird dadurch kaum aufgehoben werden können. -- Eine auf Anregung von E. Rosenstock entstandene Arbeit von Prausnitz ( 1344) gilt den feuda extra curtem, d. h. den »Lehen, die ein Landesherr in dem Territorium eines anderen Landesherrn vergibt«. Es ist eine Fülle von Fragen, die bei Erörterung dieses Problems von der Darlegung der juristischen und historischen Grundlagen an bis zur Aufzeigung der treibenden Kräfte bei dem Untergange der feuda extra curtem zu stellen und meistens zu beantworten sind. Der Verfasser hat die allgemeinen Ausführungen darüber mit besonderen über die brandenburgischen Lehen in Österreich verbunden und es muß anerkannt werden, daß er das für diesen zweiten Teil in Betracht kommende archivalische Material mit großer Genauigkeit gesammelt und seiner Darstellung zugrunde gelegt hat. Österreich war als Vorwurf für eine derartige Untersuchung besonders geeignet. Nach der älteren, durch die Arbeit von Heinrich Brunner über das gerichtliche Exemtionsrecht der Babenberger begründeten Anschauung war die Gerichtsgewalt und die Landesherrlichkeit des Herzogs von Österreich auf Grund der markgräflichen Rechte so fest gefügt, daß unabhängige Gewalten im Bereich des Herzogtums nicht bestehen konnten. Die Arbeit von Prausnitz zeigt, daß dies sehr wohl der Fall war und die Abwehrmaßnahmen des späteren MA. und die Entstehung der Souveränität im 16. Jahrhundert notwendig waren, um jenen Zustand herbeizuführen, den für Österreich teilweise das privilegium minus von 1156 und besonders das privilegium maius von 1358 vorwegnimmt. Alle diese Nachweise passen sehr gut zu der in jüngster Zeit namentlich von Stowasser -- von diesem allerdings in zu scharfer Form -- vertretenen Auffassung, Österreich habe die volle Landeshoheit später, als früher angenommen wurde, erreicht. Die anerkennenswerten Bemühungen des Verfassers, in dem Streit, den es darum gesetzt hat, vermittelnd einzugreifen, seien besonders hervorgehoben. Der Verfasser hätte bei noch schärferer Erfassung der österreichischen Probleme und Verhältnisse in diesen Fragen noch zu weiterer Klärung vordringen können, doch mag ihn daran das Bestreben, eine allgemeine auch für andere Länder gültige Darstellung zu liefern, gehindert haben. Aber es ist immer noch sehr viel, was sich bei solcher Verbindung allgemeiner und besonderer Gesichtspunkte für die Darlegung österreichischer Verfassungsverhältnisse ergeben hat. -- Der Vortrag, den E. Hoyer ( 1343) auf dem Heidelberger Rechtshistorikertag 1927 über das Sprachenrecht des Sachsenspiegels gehalten hat, ist mit Anmerkungen überreich ausgestattet in Druck erschienen und gilt einem der vielgestaltigen Probleme, die Eike von Repgau mit seinem

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Werk der rechtsgeschichtlichen Forschung gestellt hat. Manches deckt sich mit dem, was ich selbst in einem bei einer sudetendeutschen Tagung in Reichenberg (August 1926) gehaltenen Vortrag ausführen durfte: Eike von Repgau steht auf dem Standpunkt, daß Deutsche und Wenden das Recht haben, zu verlangen, daß die Klage in ihrer Muttersprache vorgebracht werde. Wo nicht zu Königsbann gedingt wird, darf ein Wende nur von Volksgenossen gerichtet werden, ausgenommen im Falle der handhaften Tat, in dem es sich nicht mehr um den Beweis der Schuld, sondern nur mehr um die Verhängung und den Vollzug der Strafe gehandelt hat und in dem es nach Eike auch den Wenden gestattet war, über einen Sachsen zu urteilen. Es ist sehr wirkungsvoll, wenn H. auf Grund solcher und anderer Ergebnisse wieder einmal feststellt, daß die Deutschen auch im Zeitalter höchster Machtentfaltung gegen die Slawen nicht mit Zwang und Entrechtung vorgegangen sind und die Germanisierung slawischer Volksteile eine Folge der starken Volksvermehrung der Deutschen und ihrer höheren Kultur gewesen ist. --Klewitz ( 1373) hat durch eine Preisarbeit über die Geschichte der Ministerialität im Elsaß bis zum Ende des Interregnums von neuem die These erhärtet, daß der Stand der Ministerialen »sich im Wesentlichen aus unfreien Elementen zusammensetzt.« Hiefür wäre auch die von dem Verfasser (S. 14) vorgeführte Bestimmung der Weißenburger Diplome anzuführen gewesen, die die Ministerialität bei Ungehorsam der Zwangsgewalt des Vogtes (vgl. über diese Pischek, Vogtgerichtsbarkeit 87 ff.) unterstellt; denn diese Zuchtgewalt bei inoboedientia oder rebellio hat ihren Ursprung in der unfreien Herkunft derer, die ihr unterliegen. Auf das Kapitel über die Reichsministerialität im Elsaß sei besonders hingewiesen.

U. Stutz ( 1334) setzt sich mit einer Hamburger Dissertation (1927) von Hans Schröter, die den Titel trägt »Der Jüngste stimmt zuerst« auseinander und verlangt mit Recht, daß diese Frage auf viel breiterer Grundlage zur Erörterung gelange. Daß die Aufklärung die alte Stimmfolge vom Älteren zum Jüngeren umkehren geholfen hat, erscheint auch uns mit Stutz ganz unwahrscheinlich und ebenso pflichten wir diesem darin bei, daß jener Teil der Abstimmungsordnung bei der Königswahl, derzufolge der Erzbischof von Mainz seit Karl IV. als letzter seine Stimme abgab, von Sch. falsch erklärt worden ist.

Die nachgelassene, 1916 entstandene Arbeit von Riggenbach ( 1357) über die Tötung und ihre Folgen, nach alamannisch-schweizerischen Quellen dargestellt, um deren Veröffentlichung sich R. His ein Verdienst erworben hat, ist ein wohlgelungener Beitrag zum Strafrecht des MA. und der ersten Jahrhunderte der Neuzeit, in vieler Hinsicht eine Fortführung und Ergänzung der vortrefflichen Darlegungen, die über diesen Stoff in Osenbrüggens alamannischem Strafrecht zu finden sind. Als besonders bemerkenswert heben wir die Nachweisungen hervor, daß die Blutrache noch im 14. Jhd. teilweise Bestand gehabt und auch die Friedlosigkeit sich in gewissen Abspaltungen erhalten habe. Die strenge Systematik, die den modernen Gesichtspunkten strafrechtlicher Betrachtung ebenso gerecht wird wie denen, die im MA. gegolten haben, ist besonders zu rühmen. Die Arbeit hätte, schon früher veröffentlicht, in dem seit 1918 erschienenem Schrifttum oft Berücksichtigung finden müssen. -- Dem Gebiete des Strafrechtes gehört auch die Arbeit von Geßler ( 1351) an, der die Strafe des Niederbrennens oder Wüstens der Häuser bei Kriminalfällen wesentlich auf Grund flandrischer Quellen aber mit stetiger Bedachtnahme auf


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die Quellen des deutschen Rechtsgebietes und die Äußerungen deutscher Rechtshistoriker bespricht. Von diesen sind aber gerade die besonders wichtigen Ausführungen von His, Strafrecht 1, 421 ff., unbeachtet geblieben. -- Die Untersuchung von E. Wohlhaupter ( 1365) über Hoch- und Niedergericht in der ma.lichen Gerichtsverfassung Bayerns führt die Forschung über den Stand, der durch Rosenthals Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Bayerns gekennzeichnet ist, erheblich hinaus. Die Auseinandersetzung mit neueren Lehrmeinungen läßt diese Darstellung besonders wertvoll erscheinen; sie ist von der Entscheidung der Frage, ob die Baiuwaren vor der Karolingischen Gerichtsreform Grafschafts- und Hundertschaftseinteilung gekannt haben, über die Zeit, in der Vogtei- und Immunitätsrechte die bayerische Gerichtsverfassung wesentlich bestimmten, heraufgeführt ins 14. Jhd. bis an die Schwelle des späteren MA. Die Entstehung der Hofmarken und der Dorfgerichte und die Erörterung, in welchem Ausmaß die herzoglichen Städte Bayerns über Gerichtsrechte verfügten, ergeben sich damit von selbst als Schlußkapitel des Buches.

Ansehnlich wie immer sind die Leistungen französischer und italienischer Gelehrter auf dem Gebiete der hochma.lichen Rechtsgeschichte. Der zweite Band der allgemeinen Geschichte des öffentlichen und privaten Rechtes in Frankreich ist von Chénon ( 1323a) noch zur Hälfte vollendet worden, die sein Schüler und Nachfolger Olivier Martin mit den nötigen Ergänzungen herausgegeben hat. Die Wissenschaft vom Recht darf sich so des Besitzes erfreuen, den eine Darstellung der französischen Rechtsgeschichte von der ältesten Zeit bis ins 18. Jhd. aus der Feder eines führenden Rechtshistorikers der vergangenen Generation bedeutet. Auf Einzelheiten einzugehen ist hier nicht am Platz, es genüge auf die eingehende und lohnende Besprechung von H. Mitteis, Ztschr. d. Sav. Stift. f. Rg. germ. Abt. 50, 546 ff. hinzuweisen, in der beide Bände des großen Werkes in ihrem Aufbau und in dem Verhältnis, in dem die Darstellung zur deutschen Rechtswissenschaft steht, geschildert werden. Der hier zur Anzeige vorliegende Band enthält die Geschichte des privaten und öffentlichen Rechtes vom 10. Jhd. an und er wird von den deutschen Fachmännern in besonderem Ausmaß gewürdigt und herangezogen werden müssen, wenn, wofür mancherlei Anzeichen sprechen, die Rechtsgeschichte des hohen MA. gegenüber der germanischen und fränkischen bevorzugtes Gebiet der Forschung und Darstellung kommender Jahre werden sollte. Denn für jene Zeit werden wichtige Probleme nur auf Grund vergleichender Betrachtung gelöst und in ihrer Eigenart diesseits und jenseits des Rheins erkannt und gewürdigt werden können. Dieser rechtsvergleichenden Forschung aber, zu der sich, wie Mitteis treffend hervorhebt, in neuester Zeit mehr und mehr auch jüngere französische Forscher bekennen, wird das Werk von Chénon, und zwar gerade den deutschen Vertretern dieser Richtung, ein wertvoller und zuverlässiger Wegweiser werden. --Ganshof ( 1337) geht der Erscheinung nach, daß es seit dem 11. Jhd. und in den folgenden Jahrhunderten für einen Lehensträger üblich wurde, Vasall mehrerer Herren zu werden. Aus einer Aufzeichnung, in der der Propst und der Vogt von St. Martin de Tours 895 vor dem Grafen Berengar von le Mans darüber Klage führen, daß einer seiner Vasallen ihre Güter bedränge, worauf sie zur Antwort erhalten, dieser würde belangt, sei aber auch Vasall Roberts, des späteren Königs, will G. den Schluß ziehen, daß solche Doppelverhältnisse,


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die eine Befragung des ersten Lehensherrn unnotwendig machten, sich vornehmlich seit der Zeit Karls des Kahlen ausgebildet hätten. Dieser Auffassung widerspricht Kienast, HZ. 141, 562 ff., der meint, zur Anschauung von Waitz zurückkehren zu sollen, derzufolge die Entstehung der Doppelvasallität in den Beginn des 9. Jhds. zu verlegen sei. Daß die von G. vorgebrachten Quellenzeugnisse wertvoll sind und die Frage selbst noch weitere Aufklärung sehr nötig habe, räumt er gerne ein und betont, daß es an sich ein Verdienst gewesen sei, diese bislang vernachlässigten lehenrechtlichen Fragen wieder erörtert zu haben. -- Von Calassos ( 1345) Buch über die Statuten-Gesetzgebung in Süditalien ist der erste vorliegende Teil der Darstellung der historischen Grundlagen des Themas, der Entwicklung städtischer Freiheiten von der Zeit der Begründung des Königreiches Sizilien bis zur Zeit, aus der Statuten vorliegen, gewidmet. Der Verfasser hofft so am wirkungsvollsten die ältere Meinung kritisieren zu können, die dahin ging, daß die süditalienischen Städte im Gegensatz zum Norden keine Statutengesetzgebung, keine »statuta«, sondern nur »consuetudines« gehabt hätten. Die Darstellung hebt mit dem 11. Jhd. mit der Begründung der Normannenherrschaft und ihrem Verhältnis zu den süditalienischen Städten an, stellt das Aufkommen örtlicher Autonomien in der Zeit des Überganges der Herrschaft von den Normannen zu den Staufern, die Bedeutung der Herrschaft Friedrichs II., die einer Annullierung örtlicher Autonomie zustrebte, den Wiederaufstieg städtischer Freiheitsbestrebungen nach seinem Tode in das rechte Licht. In der Zeit der Anjous hat sich der Übergang der Stadtverwaltung durch königliche Beamte zu solcher durch wählbare Organe vollzogen, dem 15. Jhd. blieb vorbehalten, die Trennung der städtischen Interessen und Rechte von denen des Staates durchzuführen. In einer Nachschrift weist der Verfasser auf Übereinstimmungen hin, die sich im gleichzeitig erschienenen 3. Band von E. Bestas Diritto pubblico italiano finden. -- Die Arbeit von Tamassia über die geschichtlichen Ursprünge des Fodrums, Rivista di storia del diritto italiano, 2, 5 ff., 213 ff., wird ausführlicher zu besprechen sein, sobald die Abhandlung abgeschlossen vorliegt. Die bisher erschienenen zwei Teile führen die Geschichte dieser Abgabe von der spätrömischbyzantinischen und der ostgotischen Zeit bis ins 9. Jhd. Schon jetzt darf als ein Verdienst bezeichnet werden, daß der Verfasser über die fränkische Zeit hinweg in der römisch-gotischen die Grundlagen zu gewinnen trachtet, aus denen Entstehung und Fortbildung des Fodrums erklärt werden können.

Am Schluß dieses Berichtes soll wieder wie am Eingange von einer Arbeit Hintzes ( 1323) die Rede sein, mit der sich der Meister auf jenem Fachgebiet bewegt, auf dem er der Wissenschaft schon so schöne und große Leistungen geschenkt hat. In seiner »Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes« untersucht er die Frage, »ob es einen allgemeinen Typus der ständischen Verfassung gibt und ob innerhalb desselben sich ... speziellere Typen für verschiedene Gruppen oder Zonen unterscheiden lassen« und gelangt zu dem Ergebnis, daß allerdings »zwei speziellere Typen, Gruppentypen« zu unterscheiden seien, das Zweikammersystem, der englische, ältere Typus, zu dem auch die Randländer, die den Kern des alten Karolingischen Reiches umgeben, die nordischen Staaten, Polen, Ungarn und Böhmen gehören, und das jüngere Dreikuriensystem, dessen Hauptvertreter Frankreich ist, das aber auch den territorialen Ländern des deutschen Reiches eigentümlich ist. Der »Staatstypus, dem


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das Dreikuriensystem entspricht«, erscheint in der Darstellung Hintzes als der »eines fortgeschrittenen, intensiveren Staatsbetriebes«, der der Stärkung des monarchischen Faktors zugute kam. Dem Zweikammersystem eignet nach H. eine mehr extensive, rückständige Betriebsweise, in diesem »ist der ständische Faktor dem monarchischen ... viel eher gewachsen, ja oft überlegen. Hier neigt die Entwicklung ebenso deutlich zum Parlamentarismus wie dort zum Absolutismus.«

Mit dem Bericht über diese bedeutende Leistung sind wir bereits über das hohe MA. hinaus in das spätere und in die Jahrhunderte der Neuzeit vorgedrungen. Dieser späteren Zeit gehört auch die folgende Arbeit an. Klocke ( 1340) bespricht die Ursprungsgruppen des niederen Adels, wobei sich eine Verschiedenheit zwischen dem in den modernen Adelsstatistiken herrschenden Sprachgebrauch und der standesgeschichtlichen Forschung hinsichtlich der Bezeichnung Uradel und der Einteilung des Adels in Gruppen ergibt. K. möchte den Aufbau des deutschen niederen Adels in zwei Gruppen 1. selbständig geschichtlich erwachsener Adel, 2. gnadenweise briefmäßig verliehener Adel, erfassen und schlägt für die erste Hauptgruppe die Unterabteilungen 1. ritterbürtiger (Land-)Adel, 2. patrizischer (Stadt-)Adel, 3. anderweitig dinglich ersessener Adel (besonders Beamten- und Offiziers-Adel) vor.


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