§ 28. Städtewesen des Mittelalters

(R. Koebner)

In einem Gutachten über eine bei der belgischen Akademie eingereichte Preisarbeit hat G. Des Marez für die Frühgeschichte des nordfranzösischen Städtewesens eine Entwicklungsskizze niedergelegt, deren Gesamtansicht nahe an das Bild herankommt, das uns für das benachbarte Rheingebiet vertraut ist ( 1374). Die Akademie hatte eine Untersuchung über die Civitates der Belgica secunda vom Ende des 3. bis zum 11. Jhd. verlangt; im Thema lag das Doppelproblem des Untergangs der antiken und der Entstehung der ma.lichen Stadt. Der Bearbeiter legte die Zäsuren in die späte Merowingerzeit und in den Ausgang der Gesamtepoche; er machte die Sperrung des Mittelmeers durch die Araber für den Verfall der römischen civitas verantwortlich und ließ andrerseits den wirtschaftlichen Wiederaufstieg erst kurz vor der Verfassungsbewegung der »Kommune« beginnen. Beiden Ansätzen widerspricht Des Marez. Der erste hätte zur Voraussetzung, daß wir uns die civitates im nördlichen Gallien für den Ausgang der Römerzeit als ebenso »römisch« vorzustellen hätten wie die des Südens. D. M. erklärt, daß die Quellen diese Annahme weder für die Rechtsordnung noch für die Wirtschaft rechtfertigen. Wir haben keine Spuren für die curia und das römische Gesetzesrecht; die Belgica der römischen Endzeit war ein »pays de coutumes«. In den Grabungsfunden sind Erzeugnisse der Mittelmeerkultur kaum in spärlichen Resten vertreten. Darum ist es abwegig, dem islamischen Vordringen am Mittelmeer einen zerstörenden Einfluß auf diese entfernten Gegenden zuzuschreiben. Wir müssen bei der alten Auffassung bleiben, nach der schon die germanische Invasion die Kultur maßgebend veränderte. Sie hat das Gebiet der nördlichen civitates in ein rein ländliches verwandelt. Entscheidend war dabei, daß sie eine Aufteilung des agrarischen Nutzungslandes in kleine Besitztümer mit sich brachte. Die unter solchen Bedingungen ansässige Gesellschaft konnte keine städtische Produktion anregen. Das vermochte erst der Ausbau der Grundherrschaft, der in der Karolingerzeit einsetzte. Die Bedürfnisse der Grundherren haben recht eigentlich das städtische Macht- und Gewerbewesen in Gang gebracht. Darum sind aber auch die Nachrichten über portus, emporia, suburbia von ihrem ersten Auftreten, d. h. von den Karolingern an, als Zeichen des entstehenden städtischen Lebens aufzufassen. Die hier allmählich herangewachsene Gesellschaft tritt dann in der Kommunebewegung in ihre zweite, ihre »konstitutionelle« Entwicklungsphase; sie strebt nach einem ihrer wirtschaftlichen Besonderheit und Einheit entsprechenden Recht.

Von dieser Endphase der nordfranzösischen Entwicklung spannt L. von Winterfeld Beziehungen über das rheinische Deutschland bis nach Wien und Lübeck ( 1381). Ihr gilt eine am Gottesfrieden orientierte Schwurverbandsverfassung, eine Verfassung der »pax iurata« als Grundform der deutschen Stadtverfassung (vgl. Jahrg. 1928, S. 269). Sie will jetzt insbesondere die von Rörig herausgehobene Gruppe der ältesten »Gründungsunternehmerstädte« von hier aus verstehen. Zugleich bekämpft sie aber aufs schärfste das ganze Thesengefüge, das diesen Begriff bei Rörig trägt; und sie bekämpft es an der gleichen Stelle, an der R. es begründet hat: sie unterwirft die älteste Geschichte Lübecks einer Nachprüfung, die mit den Zeugnissen der Raumverteilung und des Besitzwechsels vielfach noch subtiler operiert, als dies R. getan hat. Rörigs


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Theorie der Gründungsunternehmung besagte, daß Heinrich der Löwe den Boden der Stadt Lübeck einem Konsortium von Kaufleuten zur Besiedlung überlassen habe, und fand die Durchführung dieser Besiedlung noch in den Eintragungen des ältesten erhaltenen Oberstadtbuchs, das erst 1284 beginnt, wiedergespiegelt. Sie deutete den hier zahlreich und namentlich am Markte zusammengedrängten Besitz der ratsfähigen Geschlechter als den Restbestand dieses Grundbesitzes: das Konsortium habe den städtischen Boden zum überwiegenden Teil unter seine Glieder aufgeteilt; die einzelnen Familien hätten ihn dann weiter parzelliert. Ein Teil der Marktfläche und der Marktbaulichkeiten sei im Gemeinbesitz des Konsortiums verblieben. Aus ihm sei später der Grundbesitz der Stadtgemeinde hervorgegangen. Ursprünglich habe es einen solchen ebensowenig gegeben wie ein stadtherrschaftliches Nutzungsgelände; der Boden um die Marienkirche, an dem im 13. Jhd. die Stadtgemeinde durchgängig als berechtigt erscheint, sei erst seit etwa 1300 mit Buden besetzt und in die Marktanlage hineingezogen worden. -- v. W. untersucht nun zunächst, was unter »Boden der Stadt Lübeck« ursprünglich zu verstehen ist. Es zeigt sich: das von Heinrich d. L. den Bürgern übergebene Gebiet umfaßte nicht den ganzen Werder, sondern einen Bezirk in seiner Mitte, der an die Trave und Wakenitz nicht heranreichte; erst das Barbarossaprivileg hat den städtischen Raum bis ans Wasser geführt. Dieser Nachweis und die mit ihm verbundenen topographischen Untersuchungen sind in ihrer Methode, die die Urkundeninterpretation mit der Stadtplananalyse lehrreich zu verbinden weiß, und in ihrem Ergebnis von mehr als bloß ortsgeschichtlicher Bedeutung. Für die Beurteilung der Rörigschen These besagen sie aber nicht sonderlich viel; hier, wie auch sonst öfter, ist die von der Verfasserin angestrebte Darstellungsform der »aufbauenden Kritik« nicht gerade glücklich bewältigt. Der Angriff gegen R. entfaltet sich erst, wenn W. sich ihrerseits mit den Stadtbucheinträgen beschäftigt. Hier legt W. namentlich auf folgende Punkte Wert: 1. Geschlossene Komplexe eines Familienbesitzes finden sich nur an wenigen Stellen, und ihre Zusammensetzung unterliegt einem derartigen Wechsel, daß ein sicherer Rückschluß auf den ursprünglichen Bestand nicht möglich ist. 2. Das Alter der als Inhaber solcher Grundstückskomplexe nachweisbaren Bürgerfamilien bleibt ungewiß. 3. Andrerseits ist für die Anfangszeit ein Bodenbesitz der Stadtherrschaft zum mindesten bei den Plätzen der Gerichts- und Regalienverwaltung anzunehmen, und auch der gemeinstädtische ist alten Datums. Wenn am Marienkirchhof erst spät feste Marktbaulichkeiten errichtet worden sind, so besagt das nichts über das Alter der Marktnutzung dieses Raumes; seine Lage zum Hafen läßt darauf schließen, daß er das Zentrum der Gründungsanlage gebildet hat. v. W. geht noch weiter und möchte in Umkehrung der R.schen Interpretation annehmen, daß das von R. als ältester Markt betrachtete Gebiet nördlich vom Marienkirchplatz erst nachträglich (vielleicht gar erst nach Einrichtung des Jahrmarkts 1236) zum Markte hinzugezogen sei. Wäre auch hierfür der Beweis gelungen, so wäre ein ursprünglicher Besitz der Großbürger auf Marktboden überhaupt nicht mehr nachzuweisen, -- und in der Tat zielen v. W.s Deduktionen auf dieses Kernstück des von R. gezeichneten Entwicklungsbildes. Aber in Wahrheit hat sie nur dem Konstruktionsschema, zu dem R. den patrizischen Häuser- und Budenbesitz am Markte ergänzt hat, die Grundlage entzogen. Es ist -- so wird man mit ihr annehmen müssen -- nicht bezeugt, daß dieser Besitz und die

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gemeinstädtischen Besitzungen aus einer großen, sogar die ganze Stadt umfassenden Bodenzuteilung Heinrichs des Löwen an das »Unternehmerkonsortium« stammen. Vielmehr bestehen, so weit unsere Kenntnis zurückreicht, privates und öffentliches Grundeigentum nebeneinander. Aber R.s Annahme, daß das private Eigentum am Markte -- wenigstens der Hauptsache nach -- auf einen Besitz zurückgeht, der den führenden Familien der Gründungszeit hier gleich bei der Gründung eingeräumt wurde, hat an innerer Wahrscheinlichkeit nichts verloren. Sie steht im Einklang mit der -- auch von W. hervorgehobenen -- Tatsache, daß der Boden der Lübecker Siedlung überhaupt nicht mit stadtherrschaftlichen Zinsansprüchen belastet ist. Heinrich d. L. hat offenbar bei der Gründung Lübecks weitgehend auf Bodennutzungen verzichtet, die er sich hätte wahren können. Die Kaufleute aber, die den Handelsverkehr Lübecks wiederbeleben sollten, waren die privilegierten Nutznießer dieser Freigebigkeit. Es bleibt wahrscheinlich, daß ihnen damit Leistungen für den Aufbau der Siedlung entgolten wurden. In diesem Sinne dürfen wir sie doch wohl die »Gründungsunternehmer« Lübecks nennen.

Die Untersuchungen v. W.s folgen denen R.s von den besitzrechtlichen Fragen der Gründungsgestaltung auf die verfassungsrechtlichen; sie folgen ihnen darum von Lübeck nach Freiburg i. B. und Wien, wo R. das Unternehmerkonsortium auch als Urform des Rates nachzuweisen gesucht hatte. Gegen diese Auffassung wendet sie ähnliche Bedenken ein wie v. Below und Th. Mayer (vgl. Jahrg. 1928, S. 273); sie knüpft aber an die Kritik zugleich den Versuch eines Neuaufbaus, der, wie erwähnt, die pax iurata des Gottesfriedens als Kernstück der Verfassung in diesen Städten festzuhalten sucht. Sie überträgt diese Anschauung auch auf Lübeck: hier gilt ihr in überaus kühner Konstruktion das Stadtsiegel, das Insassen eines Schiffes mit erhobenen Händen zeigt, als Symbol jener pax. Das Schiffsiegel stellt aber in seiner besonderen Form -- als Nef-Siegel -- zugleich eine Beziehung zu Paris her, und v. W. gewinnt auch dieser Beziehung zur Stadt der »mercatores aquae« eine verfassungsrechtliche Seite ab. Die Schwurverfassung sei ursprünglich von den Gliedern einer »Großen Gilde« getragen worden, die später in der Genossenschaft des »gemeinen kopman bi der Travene« fortlebe. Schließlich wird eine Verbindung dieser Schwur- und Gildeverfassung mit der Kirchspielsverfassung angenommen, die auch ihrerseits auf den Gottesfrieden zurückweise und im übrigen als Selbstverwaltungsordnung dem System der Gesamtgemeinde zeitlich vorangehe. Die Quelleninterpretationen, mit denen v. W. hier arbeitet, können sich nur als unsichere Vermutungen aussprechen; diese Unbestimmtheit lastet auf ihrer Formulierung. Methodisch und sachlich ertragreich sind dagegen weitere Untersuchungen, die sich die Beziehungen der Verfassung Lübecks zu den Institutionen der städtischen Frühzeit in Altdeutschland zum Problem stellen. In diesem Zusammenhang werden namentlich über die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen der Soester und der Lübecker Gerichtsverfassung und über das Recht des Marktzwangs und des Marktstanderwerbs Aufklärungen gegeben.

Ein so einfaches und handgreiflich anschauliches Bild der Gründungsgeschichte Lübecks, wie es die R.sche »Unternehmerthese« hingestellt hatte, kann aus den Nachweisen, Vermutungen und Zweifeln, die sich bei v. W. aneinanderreihen, nicht entstehen. Das darf unsere Entscheidung natürlich nicht beeinflussen. Aber eben in ihrer Anschaulichkeit hat R.s Auffassung eine starke Anziehungskraft


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betätigt. So hat sie Kleinau ( 1390) in seine Untersuchungen über die Braunschweiger Grundzinse hineingearbeitet. Die Tatsache, daß sich in Braunschweig keine auf »Gründerleihe« zurückweisenden herrschaftlichen Zinsansprüche finden, daß dagegen die zum Empfang von Erbleihezinsen Berechtigten in erster Reihe den Altstädter Ratsgeschlechtern angehören, scheint dem Verfasser am ehesten erklärlich, wenn »sich die Gründung mit Hilfe einer Unternehmervereinigung ... abgespielt hat«. Außerhalb dieses Zusammenhangs steht die lehrreiche Feststellung, daß die Braunschweiger »Wortzinse« -- gleichförmige, geringe und gruppenweise auftretende Belastungen -- der »Gründerleihe« zwar ähneln, aber doch nicht auf sie zurückzuführen sind, sondern offenbar »bei der Bebauung frei gebliebene Plätze« betreffen, die im Laufe der Zeit von der Stadt zum weiteren Ausbau der Straßen ausgeliehen wurden.

Auch in Schünemanns Forschungen zur Entstehung des Städtewesens in Südosteuropa spielt die Unternehmerthese hinein ( 1400). Die Untersuchung gilt in ihren ersten Abschnitten der Vorgeschichte des ma.lichen Städtewesens in Ungarn, in ihrem Hauptteil den Anfängen der Stadt Gran. Magyarische Siedlungstraditionen haben auf die Städtebildung nicht eingewirkt. Die Magyaren haben bei ihrer Einwanderung die Reste von Römerstädten sowie deutsche und slawische Burgen der Karolingerzeit vorgefunden; an einem solchen schon aus der Römerzeit herrührenden Zentralort ist auch die königliche und erzbischöfliche Residenz Gran errichtet worden. Ein städtisches Siedlungsleben aber ist erst seit dem 12. Jhd. durch Einwanderer aus dem Westen ins Land gebracht worden. In Gran wurde damals, abgesondert vom Markt und älteren kleinen Kaufmannssiedlungen der »vicus Latinorum« begründet. »Latini« ist hier eine Bezeichnung für Ansiedler französischer Herkunft; so weit die Namen Rückschlüsse zulassen, ist ihre Heimat Nordfrankreich und das deutsch-französische Grenzgebiet. Die Gemeinde dieses vicus erscheint als das Kerngebilde der Stadtgemeinde; der »maior« und die »iurati« der Lateiner leiten die Bürgerschaft. Sch. führt die Vereinigung des Lateinerviertels mit den übrigen Siedlungen zu einem Stadtgebiet und einer städtischen Rechtseinheit auf etwa 1200 zurück (eine Begründung dieser Datierung habe ich in der -- nicht sehr straff angeordneten -- Untersuchung nicht finden können). Das Lateinerviertel gruppierte sich um eine Marktstraße, in der sich die »Kaufkammern« der Franzosen aneinanderreihten. Ein Teil dieser Verkaufsstände ist in den Besitz des Graner Domkapitels gelangt; die meisten aber stehen im Eigentum der Lateiner selbst. Das erinnert den Verfasser an Rörigs Anschauung vom ältesten Aufbau des Marktes zu Lübeck und läßt ihn Gran als analoge Bildung zu der nordöstlichen »Unternehmer«-Gründung ansehen. -- Die Analogie ist recht äußerlich. Rörigs Deduktion ging von der Tatsache aus, daß die Lübecker Patrizier weitgehend Eigentümer der Grundstücke sind, auf denen die Markthändler zur Miete sitzen; die Verkaufsstände, die sie selbst als Kaufleute nutzen -- die Gewandkammern im späteren Rathausgrundstück -- geben für seine Theorie das wenigste her. Bei den Kaufkammern der Lateiner in Gran aber handelt es sich -- nach allem, was die Darstellung Sch.s erkennen läßt -- nur um Eigenbetriebe der Lateiner selbst, und diese liegen abseits vom Markt. Gerade das, was R. als Hauptvorgang der Gründung Lübecks ansieht, die Auslieferung des herrschaftlichen Marktbodens an eine Gruppe kaufmännischer Unternehmer, hat in Gran in keinem Falle stattgefunden. Die Bedeutsamkeit der Verhältnisse, über die uns Sch.


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berichtet, liegt in andern Zusammenhängen, die er selbst unberührt läßt. Der »vicus Latinorum« in Gran erinnert uns aufs lebhafteste an die Fremdenviertel böhmischer und mährischer Landeszentren, vor allem an die vici Teutonicorum des Sobieslaw'schen Privilegs für Prag. Diese Kaufmannsniederlassungen waren gleichfalls außerhalb des Marktraumes angelegt. Daß derartige Bildungen auch der westeuropäischen Kultur vor der Entstehung der bürgerlichen Gemeinwesen nicht fremd sind, haben uns jüngst F. Beyerles Untersuchungen (»Zur Typenfrage in der Stadtverfassung«, Ztschr. der Savigny-Stiftung, Germ. Abt., Bd. 50), über die im nächsten Jahrgang eingehender zu sprechen sein wird, auf breiter Grundlage dargetan. In den slawischen Grenzgebieten Deutschlands aber -- und zwar nicht bloß in Böhmen und Mähren, sondern auch auf piastischem und pommerschem Boden -- haben diese kaufmännischen Fremdengemeinden eine besondere geschichtliche Stellung gewonnen; aus ihrer Umgestaltung ist das Städtewesen der deutschen Kolonisation, die Stadt nach deutschem Stadtrecht hervorgegangen. In Ungarn hat sich die Verfassung der Fremdengemeinde länger erhalten und rechtlich präziser durchbilden können, -- und man möchte fragen, warum Sch. die eingehende Darstellung, die ihr A. von Timon in seiner Ungarischen Verfassungs- und Rechtsgeschichte gewidmet hat, nicht einmal dem Titel nach erwähnt. In der Verfassungsgeschichte von Gran scheinen sich nach allem, was er von ihr berichtet, die Traditionen der Fremdengemeinde -- in der hier nicht, wie in den Slawenländern, Deutsche, sondern Franzosen dominieren, -- mit den Einflüssen der deutschen Stadtverfassung eigentümlich zu kreuzen. Die »lateinische« Kaufmannskolonie erwirkt sich die Rechte einer Bürgergemeinde in einem Stadtgebiet. -- Hat Sch.s Abhandlung somit die allgemeinen Probleme, in deren Kreis sich die Entstehung von Gran stellt, nur unvollständig erörtert, so hat sie doch für ihre Bearbeitung wertvolle Materialien beigesteuert: hierhin gehören ihre Feststellungen über die Verteilung des Grundbesitzes in der Umgebung der Stadt, über die Rechte des Kapitels und die aus ihnen erwachsenen Besitz- und Gerichtskonflikte sowie über das Gemisch der Nationalitäten, die sich mit den führenden »Lateinern« zur Bürgerschaft verbunden haben. --

Verfolgen wir am Beispiel Grans die Einbeziehung der osteuropäischen Kultur in die bürgerlich-städtische Entwicklung des Westens, so dürfen wir nicht vergessen, daß das Städtewesen zur gleichen Zeit auch in seinen Ursprungsländern seinen Einflußbereich erst zu entwickeln hatte, und daß nur allmählich zur Seite der Hauptplätze, an denen es entstanden war, das Land mit kleinen Städten durchsetzt wurde, die der Rechtsbildung jener »Ur-Städte« folgten. Däppen ( 1367) hat in seiner Abhandlung über die ältere Verfassungsentwicklung der Städte, die im 14. Jhd. allmählich unter die Herrschaft Berns traten, ein Kapitel aus dieser Geschichte der städtischen Durchdringung des Landes zur Darstellung gebracht. Seine Untersuchung ist aber darauf abgestellt, gerade an dieser städtischen Kleinwelt die Grundverhältnisse der mittelalterlichen Stadt, namentlich auch nach der Seite der in ihr lebendigen Rechtsprinzipien zur Darstellung zu bringen. Wenn er damit auch seinem Thema vielleicht eine übergroße Belastung aufgebürdet hat, so gewinnt seine Arbeit doch durch die starke begriffliche Präzision, die sie unter dieser Zielsetzung gewinnt, ihren eigenen Wert, und die Gedrungenheit ihrer Gedankenführung macht sie stilistisch anziehend.


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Andere Erscheinungen, als sie sonst bei der »Entstehung des Städtewesens« zur Erörterung stehen, verleihen der ältesten Geschichte des Städtchens Rattenberg im Inntal -- vielleicht der kleinsten Stadt Deutsch-Österreichs -- das Interesse, um dessen willen ihm Kogler ein Buch ( 1364) und v. Wretschko in der Besprechung dieses Buches (Ztschr. der Sav.-Stiftg., Germ. Abt., Bd. 49, S. 449) noch eine eingehende Abhandlung gewidmet haben. An einer bayrischen Zollstätte entstanden, ist dieser Ort wechselnd Grenzplatz Bayerns gegen Tirol und Tirols gegen Bayern. Die Siedlung hat hier vor allem die Funktion, die Burgbefestigung, die sich über ihr erhebt und an die ihre Mauer sich anschließt, zu ergänzen. Die Bürger müssen die Lasten dieser Verteidigungsaufgabe tragen; dafür wird die Stadt aber auch von den Fürsten geflissentlich gefördert: sie darf einen Marktzwang ausüben, der in ihrem Gebiete aus rein wirtschaftlichen Gründen offenbar kaum entstanden wäre, und die Begünstigung der Bürger vor den »Inwohnern« wird streng durchgeführt. -- v. Wretschko hat seine Besprechung zum Anlaß genommen, um in ausführlichen Bemerkungen auf die Bedeutung der ma.lichen Termini forum, civitas, oppidum einzugehen.

P. Meyers Rostocker Dissertation ( 1387) könnte ihrem Titel nach als ein Beitrag zur Entstehung der Stadtverfassung in Rostock erscheinen. Aber wenn sie sich deren Untersuchung »bis zur Ausbildung der bürgerlichen Selbstverwaltung (um 1325)« zum Ziel setzt, so soll unter »Ausbildung« so viel wie »volle Entfaltung« verstanden werden. Der Endpunkt ist mit einiger Willkür gewählt; im J. 1325 ist nichts geschehen, was in der Rostocker Verfassungsgeschichte einen Einschnitt bildete; das etwa die Hälfte der Darstellung einnehmende 4. Kapitel, das »die Verfassung Rostocks seit der Ausbildung der bürgerlichen Selbstverwaltung«, also seit 1325 zum Gegenstand hat, arbeitet großenteils mit Zeugnissen des 13. Jhds. Wie im Gesamtaufbau ist die Darstellung auch im einzelnen kaum genügend durchdacht. Sie will vor allem das Anwachsen der städtischen Machtbefugnisse und Verwaltungsfunktionen demonstrieren. Aber das Thema, das sich im allgemeinen städtegeschichtlichen Zusammenhange an dieser Stelle darbot, die organisatorische Entwicklung einer Kolonisationsstadt auf der Grundlage des Lübischen Rechts, ist in ihr unbearbeitet geblieben. Überhaupt blickt der Verfasser zu wenig über Rostock hinaus; daher wird auch seine Interpretation der Ordnungsverhältnisse zuweilen -- so bei der Darstellung des Gerichtswesens -- recht abwegig. Aber als arbeitsame und -- trotz der Dispositionsmängel -- leicht zu durchblickende Materialsammlung für die Behandlung der soeben angedeuteten Aufgabe kann uns seine Arbeit willkommen sein. -- Im übrigen wird in ihr der Zusammenhang mit der allgemeinen Problemstellung der städtischen Rechtsgeschichte immer noch wesentlich besser gewahrt als in den Betrachtungen, die uns gleichzeitig Reineke ( 1383) in seiner Abhandlung über das Bremische Bürgerrecht vorgelegt hat. Was hier z. B. über die Entstehung der Ratsbefugnisse auf dem platten Lande oder über die Pflichten der Handwerker gegenüber dem Stadtherrn bemerkt wird, zeigt gegenüber der Erörterung, die derartige Fragen für andere Städte schon gefunden haben, eine Gleichgültigkeit, wie sie sich heute nicht mehr aussprechen sollte.

Zu den lehrreichsten Mitteilungen der Untersuchung P. Meyers gehören seine Angaben über den ländlichen Grundbesitz und den Handel der Rostocker


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Ratsgeschlechter. Das hier angerührte Thema -- Ursprung, wirtschaftliche Grundlagen, soziale Charakterzüge des städtischen Patriziats -- wird für eine andere Kolonisationsstadt, für Breslau in dem breit angelegten und ungeheuer stoffreichen Buche G. Pfeiffers ( 1397) durch drei Jahrhunderte verfolgt. Ich habe mich an andrer Stelle (Ztschr. des Ver. f. Gesch. Schlesiens, Bd. 63, S. 400) bereits eingehend über diese Leistung ausgesprochen. Auf der Grundlage einer für jeden auftauchenden Namen bis ins Genaueste durchgeführten Familienforschung untersucht Pf. vor allem die Beziehungen zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft in allen den verschiedenen Formen, die sie vom 13. bis zum 16. Jhd. durchlaufen: den bürgerlichen Güter- und Rentenerwerb auf dem Lande, die Abhängigkeit dieses Erwerbs von kaufmännischen Erfolgen und die Art, wie die Bürger ihn selbst kaufmännisch auswerten, den Übertritt von Landedelleuten und Lehngutsbesitzern in die städtische Gesellschaft, die zeitweilige Annäherung und die in späterer Zeit sich immer entschiedener ausprägende ständische Scheidung von Landadel und Stadtpatriziat. Daß Pf. die Untersuchung dieser Verhältnisse zum Anlaß genommen hat, um sich mit der Frage nach dem Ursprung des »Kapitalismus« und zumal mit der »Grundrententheorie« Sombarts in einer von diesem selbst nicht mehr aufrecht erhaltenen Fassung eingehend auseinanderzusetzen, bedeutet eher eine Belastung als eine Bereicherung des Buches; die reiche lebendige Anschauung, die es uns vermittelt, widersetzt sich selbst dem Für und Wider der theoretischen Entscheidung, die hier in Angriff genommen wird. Ein weiterer Ertrag der familiengeschichtlichen Studien, aus denen die Untersuchung sich zusammensetzt, liegt in ihren Nachweisungen über die Herkunftsbeziehungen der Breslauer Bürger, unter denen die fortdauernd erneuerten Beziehungen zu Altdeutschland besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Zur Stadtbuchforschung bietet Zander ( 1394) mit seinem Bericht über das »rote Buch« von Görlitz einen Beitrag aus dem Bereiche der Gerichtsprotokollbücher des Magdeburgischen Rechtskreises. Von verfassungsgeschichtlichem Interesse ist die in dem Buch hervortretende konkurrierende Wirksamkeit der beiden Kollegialbehörden des Magdeburger Verfassungstyps, des Rates und der Schöffen, bei schiedsgerichtlichen Akten.

Nachdem wir vom nordfranzösischen Städtewesen schon bei den Problemen des frühen MA. und -- aus Anlaß Lübecks und Grans -- auch bei der Städtegeschichte der Kolonisation zu sprechen hatten, seien zum Schlusse zwei Untersuchungen genannt, die sich mit den flandrischen Nachbarstädten der Reichsstadt Cambray, mit Arras und Douai beschäftigen. Monier ( 1375) bringt die Rechtsverhältnisse von Arras im 12. Jhd. zur Übersicht, die aus den spärlichen Zeugnissen nur in Umrissen hervortreten. Auf Schritt und Tritt werden wir dabei an Fragen der deutschen Stadtverfassung des Zeitalters gemahnt: Kreuzung gräflicher und bischöflicher Gerichtsrechte, frühzeitige gerichtliche Absonderung des Stadtgebiets unter dem Stadtschöffen-Gericht, kommunale Funktion der Schöffen, Gliederung der Bürgerschaft in ein Patriziat (primi civitatis cives) und »populares«. --Espinas' Studie über Douai ( 1377) führt den Beweis, daß die »manants« der urkundlichen Überlieferung eine von den bourgeois durch mindere Rechte unterschiedene Standesschicht darstellen. Sie entsprechen also deutschen »Inwohnern«. Sie sollen den Schutz der Stadt genießen. Aber E. erzählt ein Vorkommnis, bei dem ein aus Lille gebürtiger manant


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in Douai während eines Zwistes der beiden Städte durch seine Stellung außerhalb des Bürgerverbandes den Grausamkeiten der Parteileidenschaft hilflos preisgegeben ist.


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