§ 29. Territorialverfassung und Ständestaat

(H. Spangenberg)

Das Problem einer vergleichenden Betrachtung der dem christlichen Abendland eigentümlichen Ständeverfassungen ist bisher noch niemals ernsthaft in Angriff genommen worden. Schon diese Tatsache verleiht der anregenden und ergebnisreichen Abhandlung Otto Hintzes »Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes« ( 1323) eine ganz besondere Bedeutung. Hintze scheidet innerhalb des allgemeinen, vornehmlich durch die Landesvertretung und den Dualismus der Stände bestimmten Typs »zwei speziellere Typen, Gruppentypen«, die er »nach dem sie charakterisierenden morphologischen Zuge als Zweikammersystem (natürlich nicht im modernen Sinne genommen) und Dreikuriensystem« bezeichnet und auf ihre historischen Bedingungen zurückzuführen sucht. Der erste durch das Überwiegen des genossenschaftlichen Faktors und die Organisation der Vertretung in zwei Häusern (Oberhaus und Unterhaus) charakterisierte Typ ist vor allem in England, ferner in den Randländern des alten karolingischen Reiches, in den nordischen Staaten, Polen, Ungarn, Böhmen vertreten; der zweite Typ, für den das Überwiegen des herrschaftlichen Faktors charakteristisch ist, findet sich vor allem in Frankreich, in den Ländern der aragonischen Krone und Neapel-Sizilien, auch in den meisten deutschen Territorien. Beide Typen sind geschieden nach der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zum karolingischen Reiche. Es herrscht ein »doppelpoliges«, durch das Herkommen und das wechselnde Machtverhältnis zwischen beiden Teilen bestimmtes System; »der eine Pol liegt am Hofe des Königs; der andere Pol liegt im Lande«. In den Ländern der alten Zweikammerorganisation neigt die Entwicklung ebenso deutlich zum Parlamentarismus, wie in den Ländern des jüngeren Dreikuriensystems zum Absolutismus. Die Erklärung für die abweichende Bildung der beiden Typen findet Hintze in der tiefdringenden, den Ländern des alten karolingischen Reiches eigentümlichen Einwirkung des Lehnwesens, sodann »in der stärkeren, umfassenderen und rationaleren Ausbildung des Verwaltungsstabes in den Ländern des zweiten, jüngeren Typs«, die man in der Hauptsache auf die Einwirkungen des römischen Rechtes zurückführen kann.

Die Abhandlung Hintzes kann ihren vollen Nutzen der Forschung nur dann bringen, wenn künftige Monographien über ständische Verfassung die entscheidenden, von ihm und anderen angeregten Fragen (z. B. die Bedeutung des Magnum consilium bzw. des »geschworenen Rates« der deutschen Territorien »als Vorstufe« der ständischen Verfassung) aus gründlichem Quellenstudium zu klären suchen, wie es beispielsweise Martin Haß in mustergültiger Weise getan hat. Die Abhandlung von E. Paulus ( 1393) gibt zu allgemeinen Erörterungen weniger Anlaß, weil sie lediglich den Übergang vom Lehnstaat zum Ständestaat in der Oberlausitz bis zum Thronwechsel des Jahres 1319, in dem Ritterschaft und Städte erhöhte Bedeutung für die ständische Entwicklung gewinnen, darstellen will. Dagegen geht die im übrigen verdienstliche Monographie Anton


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Brunners über die Vorarlberger Landstände bis zum Beginn des 16. Jhds. ( 1363) der Erörterung wesentlicher prinzipieller Fragen aus dem Wege. Es genügt nicht, die bloße Tatsache zu erwähnen, daß ein Gesetzgebungsrecht der Stände nicht existiert habe, und die Vorarlberger Landstände ohne nähere Begründung und Angaben irgendwelcher Quellen einfach als Vertreter des Landes und Volkes (!) zu bezeichnen. Das Vertretungsproblem hätte sich an den Besonderheiten der Vorarlberger Landstände besonders eindrucksvoll erörtern lassen. Die Eigenart der Vorarlberger Landstände besteht darin, daß der Landtag sich hier nicht, wie in anderen österreichischen Ländern, aus Adel, Geistlichkeit und Städten, sondern von Anfang an nur aus Vertretern der Städte und freien bäuerlichen »Gerichte«, d. i. Gemeinden, zusammensetzte. Adel und Geistlichkeit gehörten dort niemals zu den politisch berechtigten Ständen -- die Bezeichnung »Dreikuriensystem« paßt also auf die Vorarlberger Verhältnisse nicht. Seit 1541 entwickelte sich der von Landeskommissären geleitete, nur zweimal (1573 und 1620) in Anwesenheit des Landesherrn abgehaltene Ständetag zur bleibenden Institution. Die Stände verhandelten Angelegenheiten des engeren Heimatlandes ganz unabhängig von jedem Einfluß der Regierung auf freien ständischen, von ihnen selbst ausgeschriebenen Zusammenkünften; sie schufen zur Verteilung und Aufbringung der steuerlichen und militärischen Leistungen einen ständischen Verwaltungsapparat mit eigenen Beamten und wußten ihre um 1573 zum Höhepunkt gediehene Machtstellung trotz des im dreißigjährigen Kriege beginnenden Niederganges »der Regierung gegenüber im wesentlichen« bis zum Beginn des 18. Jhds., länger als die Stände aller übrigen österreichischen Länder, zu wahren.

Die Entwicklung der ständischen Verfassung steht im Mittelpunkte auch des sehr ausführlichen, als »Grundriß« bezeichneten Werkes von Anton Mell ( 1358), das die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Steiermarks im Rahmen der österreichischen Geschichte mit rühmenswerter Beherrschung der Literatur und der von der Forschung angeregten allgemeinen Probleme in sechs Hauptabschnitten darstellt; die in Vorbereitung befindliche Edition der steirischen Landtagsakten von 1411--1521 konnte noch nicht benutzt werden. Mell geht von der Entwicklung des steiermärkischen Territoriums aus und schildert dann in den ersten beiden bis zur Durchführung der Gegenreformation reichenden Abschnitten neben der Verwaltung und ihren Reformen zur Zeit Maximilians I. das steirische Ständewesen bis zu seiner Blütezeit im 16. Jhd. Der 1412 zum erstenmal einberufene Landtag setzte sich aus der Prälatenkurie, der Herren- und Ritterschaftskurie und den Vertretern der Städte und Märkte zusammen. Die Herrenkurie, der politisch führende Stand, umfaßte zwei verschiedene soziale Schichten, eine vornehmere Schicht der Ministerialen und die einfachen Ritter und Knechte (milites); »auf der Teilung der unfreien Ritter beruhte die Ausbildung zweier adliger Kurien«. Der vierte, durch eine breite Kluft von den drei oberen Ständen geschiedene Stand der Städte und Märkte mußte sich mit einer bescheidenen Stellung begnügen. Das Land brachte mit Hilfe eines rein ständischen Beamtenkörpers den Fürsten namentlich in der Finanz- und Heeresverwaltung in fühlbare Abhängigkeit; das »Landaufgebot« galt als ständische Truppe. Die »Zurückdrängung der ständischen Gewalten« (Abschnitt 3) vollzog sich im engsten Zusammenhang mit dem Religionskampf. Seit Durchführung der Gegenreformation durch das Religionsmandat vom J.


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1628, welches Ausweisung protestantischer Herren und Landleute anordnete, war die Niederlage des ständischen Prinzips im wesentlichen entschieden. Die drei letzten kürzeren Abschnitte behandeln »die Zeit des Absolutismus«, in der die Stände zur Bedeutungslosigkeit herabsanken, wenn auch die Formen des Ständewesens und der Landtage noch erhalten blieben, ferner die »Verfassungsänderungen von 1848 bis zum Zusammenbruch der Monarchie« und »die Republik Österreich und das Bundesland Steiermark«.

Die Monographie Landmessers ( 1409) verarbeitet die von Friedensburg herausgegebenen Ständeakten der Zeit Kurfürst Joachims II. zu einer systematischen, dreiteiligen, die Organisation, die Rechte sowie die Tätigkeit der Landstände umfassenden Darstellung. Die Landtagsfähigkeit beruhte in der Kurmark schon damals, wie es scheint, nicht auf dem Besitze eines Rittergutes oder einer Burg, sondern auf dem Lehnsverhältnis. Die in drei Kurien gegliederten Stände bildeten keine Korporation im rechtlichen Sinne; ein Einungs-, Versammlungs- und Widerstandsrecht der Stände bestand nicht. Die Entstehung der mit Einnahme und Verwendung der bewilligten Steuern seit 1549 beauftragten ständischen Steuerverwaltung, des sog. »Kreditwerkes«, erhielt ihren Abschluß noch zu Joachims II. Zeit, die auch nach Landmessers Ansicht den Höhepunkt ständischer Macht in der Kurmark bezeichnet, wenn auch die Bedeutung des bekannten, nur den Oberständen erteilten und »tatsächlich fast ohne Wirkung gebliebenen« Reverses vom J. 1540 für die Entwicklung des kurmärkischen Ständewesens bisher stark überschätzt worden ist (vgl. Exkurs S. 99 ff.). Die im letzten ausführlichsten Abschnitt geschilderte Tätigkeit der Stände umfaßte, abgesehen von der auswärtigen Politik und der allgemeinen Landesverwaltung, namentlich Finanz-, Justiz- und Polizeiwesen, Kirchen- und Schulwesen, auch Handel und Wirtschaft (vgl. S. 291 ff.).

Die Entstehung der Landesherrlichkeit ist im Berichtsjahre ergiebiger nur von Otto Stolz ( 1368) in einer Kritik über P. Valèrs Züricher Dissertation (»Die Entwicklung der hohen Gerichtsbarkeit und die Ausbildung der Landeshoheit im Unterengadin«, Chur 1927; vgl. Jberr. 1927 S. 627) behandelt worden. Den Ergebnissen Valèrs, der als erklärter Anhänger der grundherrlichen Theorie die Rechtstellung der tiroler Landesfürsten im Unterengadin nicht auf eine alte Grafengewalt, sondern auf Erweiterung grundherrlicher Rechte zurückführen und damit beweisen will, »von welch eminenter Bedeutung die Grundherrschaft für die Ausbildung der Landeshoheit« gewesen sei (vgl. P. Valèr S. 41), stellt St. seine abweichende, m. E. wohlbegründete Ansicht zusammenfassend mit folgenden Worten gegenüber: »Die Landeshoheit der Grafen von Tirol ist in ihrem ganzen Gebiete, das durch Vereinigung verschiedener Grafschaften des ehemaligen bayrischen Stammesherzogtums und in lehnrechtlicher Abhängigkeit von den Hochstiften Trient und Brixen zusammengewachsen ist, eben aus der alten Grafschaftsgewalt hervorgegangen, hat diese zur rechtlichen Voraussetzung und Grundlage gehabt. Letztere wäre aber doch nicht dauernd zur Geltung gekommen, wenn nicht der neue Landesherr stets darnach getrachtet hätte, der größte Grundherr und Grundgültenbesitzer in seinem Gebiete zu werden« (S. 447); die landesfürstliche Gewalt »bedurfte der Grundherrschaft als einer materiellen Stütze ihrer Entwicklung.« Mit Recht bemerkt Stolz, die Entwicklung der »Landeshoheit« sei in Tirol, »wie in anderen deutschen Landesfürstentümern gegen Ende des 13. Jhds. zum Abschluß«


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gekommen; nur scheint mir die Bezeichnung Landeshoheit anstößig zu sein. Leider wird noch immer nicht zwischen »Landesherrlichkeit« und »Landeshoheit« scharf geschieden und dadurch das rechte Verständnis der Verfassungsentwicklung verdunkelt. Der dingliche Charakter, den die »Landesherrlichkeit« im 12./13. Jhd. unter dem Einfluß des Lehnwesens angenommen, verwandelte die Staatsgewalt in ein lehnbares Eigentum, das geteilt und veräußert werden konnte. Je ausschließlicher das Lehnrecht in seiner eigentümlichen Entwicklung zur Geltung kam, um so mehr verlor man den staatsrechtlichen Gesichtspunkt aus den Augen. An Stelle der im 12./13. Jhd. aus der Erblichkeit des Lehens entstandenen Landesherrlichkeit erhob sich seit dem 14./15. Jhd. in der »Landeshoheit«, d. i. in der ihrem Wesen nach einheitlichen, unteilbaren, unveräußerlichen obrigkeitlichen Gewalt, ein ganz neues Prinzip, das mit Hilfe des römischen Rechts die im Eigentumsbegriff fast untergegangene Staatsidee, Einheit und Ordnung wiederherstellte. Die Landeshoheit suchte im Kampf mit den schädlichen Wirkungen des Lehnrechts eine starke, in sich selbst ruhende fürstliche Gewalt, die staatliche Einheit wieder aufzurichten und führte damit das Fürstentum aus dem Niedergange heraus, in den die »Landesherrlichkeit« durch die vom Lehnwesen begründete privatrechtliche Auffassung geraten war. Vgl. O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 297, 535, 536, 650, Bd. 2, S. 856, 857. -- Die seit Entstehung der Landeshoheit beginnende Entwicklung des modernen Staatswesens mit seinem Anspruch auf Gebietshoheit wird von O. Prausnitz ( 1344) an dem Schicksal der »feuda extra curtem«, d. i. der Lehen, »die ein Landesherr in den Territorien eines anderen Landesherrn vergibt« (feuda extra territorium), mit besonderer Berücksichtigung der brandenburgischen Lehen in Österreich für den Zeitraum vom 14. bis zum 19. Jhd. veranschaulicht, indem er in drei Abschnitten »die Entwicklung der feuda extra curtem« (die historischen und juristischen Grundlagen für das Bestehen der Außenlehen), ferner »das Recht der feuda extra curtem und die Aushöhlung des Lehnrechts durch das Staatsrecht« (die Kollisionen zwischen Lehnsherrn und Landesfürsten auf richterlichem, legislativem und konfessionellem Gebiet) und endlich den »Untergang der feuda extra curtem« darstellt. Der »Zusammenstoß zwischen Lehnrecht und Staatsrecht« erfolgte im 16. Jhd.; damals begannen die Landesfürsten, den Einfluß der fremden Lehnsherren im eigenen Lande mehr und mehr zu beseitigen, die als Fremdkörper empfundenen Außenlehen mit dem Lande, in dem sie lagen, zu verschmelzen und sich die volle Gebietshoheit zu sichern. Aber lange währte es noch, bis die feuda extra curtem »in die Sphäre des Privatrechts herabgedrückt« wurden; der endgültige Austausch der Lehen zwischen Brandenburg und Österreich war erst 1828 beendet. Sieben am Schluß beigefügte Exkurse geben auf Grund der Austauschakten des preußischen Justizministeriums einen Überblick über die Außenlehen, die Preußen in Sachsen, Braunschweig, in den Niederlanden, Schwarzburg, Schaumburg-Lippe, Hessen, Anhalt und die letztgenannten sieben Staaten in Preußen besessen haben.


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