I. Theorie.

Gerhard Ritters Vortrag (1929: 1439) leitete die Vorlesungen über »Volk und Reich der Deutschen« in der Vereinigung für staatswissenschaftliche Fortbildung ein. Er zieht die Parallele zwischen der insularen (englischen) Entwicklung und der kontinentalen, dann zwischen der französischen und der deutschen und wendet sich gegen die überscharfe Kritik an den heutigen Mißständen im deutschen Parlamentarismus. Sie berücksichtige nicht die Hemmungen der historischen Entwicklung, die durch die geographische Lage und den durch diese bedingten außenpolitischen Druck herbeigeführt wurden. Nicht in jahrhundertelanger Entwicklung wie in England, das durch seine Lage gegen kriegerische Invasionen geschützt ist, nicht aus dem Emanzipationsbedürfnis eines reifen Bürgertums heraus wie in Frankreich, sondern unter schwerstem außenpolitischen Druck, der Franzosenherrschaft von 1806--13, die das Versagen der eignen staatlichen Macht zeigte, entstand in Deutschland die Anteilnahme der Nation an ihrem Geschick. Die Kleinstaaterei, die Parteipolitik zur Nörgelei ausarten ließ, das von Lassalle organisierte Proletariat, das dem Bürgertum mit seinen sozialistischen Forderungen in den Rücken fiel, als der Kampf zwischen Monarchie und Volksvertretung noch nicht entschieden und die Frage der nationalen Einigung noch ungelöst war, schließlich der frühzeitige Übergang Bismarcks zum allgemeinen Wahlrecht führte nach R.s Meinung zu den Schwächen im deutschen Parteiwesen, die noch heute nicht überwunden sind.


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