III. Konservative Parteien.

In Walter Franks Buch über Stöcker und die christlich-soziale Bewegung (1928: 1228) haben Gerh. Ritters und Heffters Arbeiten über die preußischen Konservativen bzw. die Kreuzzeitungspartei (vgl. 1927, S. 326) gewissermaßen ihre Fortsetzung und Ergänzung erfahren. Die von Stöcker eingeleitete christlich-soziale Agitation hat in die eben als gouvernementale Partei wieder zusammengeschlossenen Deutschkonservativen mit der Forderung der vom Staate unabhängigen evangelischen Kirche alsbald wieder Opposition gegen die Regierung und inneren Zwiespalt hineingetragen. Bis zu Stöckers Ausscheiden aus der Partei ist sie in ihrer Entwicklung durch ihn und die um seine Persönlichkeit immer wieder entbrennenden Kämpfe beeinflußt worden. Frank ist es in einer bei einer Erstlingsarbeit besonders hoch einzuschätzenden Vollkommenheit gelungen, Entstehung und Wandlung einer politischen Bewegung mit der Biographie ihres Führers zu verbinden. Freilich ist auch beides selten so eng mit den Vorzügen und Fehlern des letzteren verknüpft wie hier; die Parallele ließe sich vielleicht mit Lassalle ziehen.

F. wird dem starken Idealismus und dem inneren Glauben gerecht, der Stöcker immer wieder unter Gefährdung seines geistlichen Amts als Agitator in die Öffentlichkeit treten ließ. Gleichzeitig stellt er aber unter umfassender Beherrschung der zeitgenössischen Quellen und Literatur, die seinen Vorgängern noch verschlossen blieb, die Mängel fest, welche Stöckers Charakter wie seine Ziele aufwiesen und schließlich zu einem entscheidenden Fehlschlag für ihn persönlich wie von seinem Standpunkt für die ganze Bewegung führten. Eine große christlich-soziale Partei sollte -- anfangs selbständig, später in der konservativen Partei aufgehend und dieser neues Leben einhauchend gedacht -- die Aufgaben übernehmen, die die innere Mission durch die christliche caritas allein nicht erfüllen konnte. Stöckers selbständiger Versuch, eine christlichsoziale Arbeiterpartei zu gründen, scheiterte schnell, nach Franks Ansicht deshalb, weil St. das politische Machtstreben im Arbeiterstand nicht genügend würdigte; die neue Partei sollte nur wirtschaftliche Konzessionen bieten, die politisch herrschende Stellung der alten Gesellschaftsschichten aber unverändert bestehen lassen. St.s Endzweck blieb stets die Neuverankerung der protestantischen Kirche in den großen Massen. Er nahm dann den Protest des Mittelstandes gegen die Aussaugung durch die Juden auf und lenkte die christlichsoziale


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Bewegung in das Fahrwasser einer wesentlich mittelständisch-bürgerlichen Partei. Als Abgeordneter schloß er sich der konservativen Fraktion an und nötigte diese, seine Programmpunkte zu berücksichtigen. Fr. weist darauf hin, wie St. hier der allgemein einsetzenden Umstellung der politischen Parteien zu »nicht mehr ideologisch, sondern wirtschaftlich-interessenpolitisch fundierten Machtgruppen folgte«. St. wurde der populärste, aber auch der meist gehaßte Agitator des Antisemitismus, aber ihm fehlte die Menschenkenntnis und damit engverbunden die Befähigung, als Organisator einer Partei zu wirken. Immer wieder wurde er kompromittiert, weil er nicht einwandfreie Persönlichkeiten zu seinen Mitarbeitern wählte.

Fr. arbeitet die Hauptursache heraus, die St. nicht zum Ziele kommen, ihn schließlich sein Amt verlieren und die Führung der christlichsozialen Bewegung seinen Händen entgleiten ließ: die mangelnde Fähigkeit, klare Entscheidungen zu treffen, die Fr. auf eine aus seiner Herkunft zu erklärende Charakterschwäche zurückführt. St., der Sohn eines ehemaligen Tagelöhners und Kürassierwachtmeisters, wollte nicht auf die gleichberechtigte gesellschaftliche Stellung verzichten, die er durch seine Stellung als Hofprediger und konservativer Abgeordneter in den Kreisen des Hofs und des preußischen Adels errungen hatte. Vor die Wahl gestellt, auf sein Amt oder seine agitatorische Tätigkeit zu verzichten, sagte er stets das Letztere zu. Der politische Kampf war ihm aber Lebensbedürfnis und ließ ihn sein Versprechen nie halten, bis er aus dem Amt entlassen wurde. Ähnlich verpaßte er den rechten Zeitpunkt zum freiwilligen Austritt aus der konservativen Partei. Als er schließlich ausscheiden mußte, hatte er durch Konzessionen an diese die Fühlung mit seinen ursprünglich treuesten Mitarbeitern Naumann und Hellmut von Gerlach verloren. Als ein wesentlicher Faktor des tragischen Schicksals muß aber auch die verhängnisvolle Rolle bewertet werden, die Wilhelm II. im deutschen Parteileben spielte und die von Fr. scharf herausgearbeitet worden ist. Von bestem Willen beseelt, machte er infolge seines Mangels an tieferem innenpolitischen Verständnis durch die wechselnde Begünstigung einzelner Parteien und ihrer Führer und durch die Schlagworte seiner Reden immer von neuem die Möglichkeit einer ruhigen parteipolitischen Entwicklung Deutschlands zunichte.

Stocks Arbeit über die wirtschafts- und sozialpolitischen Bestrebungen der deutschkonservativen Partei 1876--1890 (1928: 1095) ist in der Hauptsache durch Franks Stöckerbiographie und Heffters »Kreuzzeitungspartei« (vgl. 1927, S. 326) überholt worden. Überhaupt hat es seine Bedenken, solche Studien im wesentlichen auf den stenographischen Berichten des Reichstags aufzubauen, wie St. es tut, und die Zeitungen als Quelle nicht heranzuziehen. Im einzelnen ist das Kapitel über die Bemühungen der Konservativen um den gewerblichen Mittelstand zu beachten.

Die Biographie Robert von Puttkamers (1928: 847) bringt in der Wiedergabe von Briefen aus seinem Nachlaß auch für das Parteiwesen beachtenswertes Material. Eine Nachprüfung hat aber ergeben, daß sein Sohn als Herausgeber nicht nur, worauf schon Mommsen (1928, S. 221) hinweist, verschiedene Briefe zu einem zusammenzieht, sondern auch Textstellen geändert hat. Albert von P. unterschätzt andererseits die Leistung seines Vaters, wenn er dessen Förderung konservativer Interessen in der Personalpolitik als Fortführung der Politik der früheren Minister bezeichnet. Die Akten ergeben, daß Bismarck


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doch erst unter P.s Einfluß jede Beförderung eines Beamten in eine höhere Stellung ablehnte, wenn dieser im Verdacht stand, irgendwie liberale Neigungen zu haben und etwa in deren Sinne auch bei den Wahlen seine Stimme abzugeben. Erst P.s energische Amtsführung hat dem Beamtentum des Reichs und Preußens den einseitig konservativen Charakter gegeben, durch den bis 1918 jede den Verhältnissen entsprechende Fortentwicklung der Verfassung verhindert wurde.

Gewissermaßen den letzten Kampf um diese Stellung zeigt das von Graf Westarp veröffentlichte Material über die Regierung des Prinzen Max von Baden und die konservative Partei 1918 (vgl. 1928, S. 245). Neben der Zusammenstellung verschiedener Kundgebungen und Reden ist das Buch beachtenswert durch die Mitteilungen Westarps über die Verhandlungen, die er im Oktober 1918 führte, und durch die Darstellung der Ereignisse, wie er als Führer der konservativen Partei ihre Haltung zur Zeit dieses Höhepunktes der Krise der Monarchie gesehen haben will.


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