V. Liberale Parteien.

Die Miquel-Biographien Guhls (1928: 799) und Mommsens (1928: 798) haben den Fehler gemeinsam, daß beide Autoren die Biographien nicht in einem Zug gearbeitet oder wenigstens sich den Überblick über das gesamte Material angeeignet haben. Bei Guhl, der selbst im Preußischen Finanzministerium tätig ist, fällt dies vielleicht noch nicht so sehr ins Gewicht, da er im wesentlichen dem ehemaligen Chef dieser Behörde ein Denkmal setzen will, die Charakterentwicklung bei ihm zurücktritt und er sich mit einer sorgfältigen Darstellung der Leistungen Miquels im praktischen Leben begnügt. Anders bei Mommsen, bei dem die Charakteristik Miquels im Vordergrund steht. Wohl hat Mommsen darin recht, daß für den Biographen die Zeit des Werdens die wichtigste ist; aber andererseits kann der Autor doch den Anfängen einer Persönlichkeit nur voll gerecht werden, wenn er sich ein klares Bild ihrer Leistungen und Charaktereigenschaften für die Zeit des Höhepunktes ihres Wirkens angeeignet hat. Und dieser Höhepunkt setzte bei Miquel erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens ein. Allerdings ist eine wichtige Quelle hierfür erst in diesem Jahre in dem 3. Bande der Aufzeichnungen und Papiere Hohenlohes zugängig geworden, aber die Einsichtnahme in die amtlichen Akten, besonders die Staatsministerialprotokolle der Spätzeit hätte Mommsen doch schon weiter geführt, als es so der Fall war. Er hat diesen Fehler und den Mangel an Briefen und sonstigen Aufzeichnungen aus der Frühzeit Miquels dadurch auszugleichen gesucht, daß er ein erschöpfendes Bild der kommunalpolitischen und der Verfassungskämpfe in Göttingen und Hannover und schließlich der Auseinandersetzungen im Nationalverein gibt, in denen Miquel handelnd auftritt. Das Material ist meisterhaft zusammengetragen. Wir erhalten einen ungemein wertvollen Beitrag zur Entwicklung des Liberalismus und der Einheitsbewegung in dem deutschen Landesteil, in welchem seine hervorragendsten Führer sich ihre parlamentarischen Sporen verdienten. In Miquels Briefen an Bertha Levy, die Schwester Julius Rodenbergs, mit der M. tiefste Zuneigung verband, und in den Polizeiakten, die über M.s Tätigkeit erst in der kommunistischen, dann in der nationalen Bewegung referieren, erschließt Mommsen auch wichtige neue ungedruckte Quellen. Er muß immer wieder die Fähigkeiten Miquels feststellen, die für seine weitere Laufbahn entscheidend waren, »unabhängig von Prinzipien nur auf Grund ganz realer und praktischer Auffassung der politischen und sozialen


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Dinge zu handeln. Er verband schon hier die Sachkenntnis des Verwaltungsbeamten mit politischer Leidenschaft in einer in Deutschland seltenen und ungewöhnlichen Mischung« (S. 111). Aber in der ausführlichen Darstellung der jeweiligen Umwelt Miquels verschwindet die Persönlichkeit selbst zu stark. Die eigentliche biographische Leistung müssen wir von dem 2. Band des Werks erwarten.

Guhl beschränkt sich auf die Heranziehung gedruckter Quellen und Literatur, wobei er nicht immer die nötige kritische Sichtung der Quellen vornimmt. Auch hier dürfte erst der 2. Band mit seiner Behandlung der Tätigkeit M.s im Preußischen Finanzministerium dem Werk den eigentlichen Wert verleihen.

Besser als Mommsen ist es Eschenburg in seinem »Kaiserreich am Scheidewege« (1929: 1151) gelungen, die Darstellung parteipolitischer Entwicklung mit der Charakteristik der führenden Persönlichkeit zu verbinden. Freilich handelt es sich bei der Blockpolitik Bülows nur um eine zeitlich begrenzte Episode, aber das Rückgrat der Darstellung bilden Bassermanns Papiere. E. ist nicht wie viele der Versuchung erlegen, die Persönlichkeit, die sein besonderes Interesse hat und für die ihm das meiste Material vorlag, zu stark hervortreten zu lassen und zu günstig zu schildern. Außerdem kann er für sich das Verdienst buchen, die egoistische Oberflächlichkeit Bülows, seine durch das Verhalten in der Daily Telegraph-Affäre verursachte Schuld am Zusammenbruch der Blockpolitik richtig erkannt zu haben zu einer Zeit, als die Öffentlichkeit noch an dem Glauben an die überragenden staatsmännischen Fähigkeiten Bülows festhielt, den dieser selbst zu verbreiten verstanden hatte. Läßt doch Stresemann in seiner 1928 geschriebenen Vorrede des E.schen Buchs, die Beachtenswertes über Str.s eigene Auffassung der Blockperiode bringt, noch deutlich sein Bedauern über Bülows Ausscheiden aus der Politik durchblicken. E. bezeichnet bei allen Mängeln der Führung Bassermanns, dem die Anwärter auf seine Nachfolge, Schiffer und Stresemann, an Initiative und eignen Ideen weit überlegen waren, seiner Neigung, Entscheidungen auszuweichen, diesen als den von starkem Verantwortungsbewußtsein erfüllten solideren Charakter; Bülow habe die Fähigkeit gefehlt, eine Sache auf ihre letzten Konsequenzen hin zu durchdenken, und die Zivilcourage, eine einmal errungene Überzeugung mit seiner ganzen Persönlichkeit zu vertreten.

Diese Charakteristiken entstehen aber erst im Rahmen von E.s erschöpfender Schilderung der parlamentarischen Kämpfe 1908/09. Sie verleiht dem Buch dauernden Wert. Sie zeigt den völlig parallelen Verlauf der Krise wie die von 1879 und damit die Tragik in der Geschichte des Kaiserreichs, daß Parteigegensätze immer wieder die Gesundung der Reichsfinanzen und die Fortentwicklung der Reichsverfassung verhinderten. Genau wie 1878--1879 erstrebt der Reichstag 1908 infolge des Versagens der Parteiführer ohne Erfolg stärkere verfassungsmäßige Garantien; genau wie 30 Jahre früher bemüht sich der Reichskanzler vergeblich, mit Hilfe des Liberalismus eine Finanzreform in unitarischem Sinne durchzuführen. Wie 1879 verstand es das Zentrum auch 1909, die Konservativen von der alten Kartellmehrheit auf seine Seite hinüberzuziehen und den Einfluß des Liberalismus auf die Reform auszuschalten. Die Ergebnisse der Dissertation E.s, auch für die Rolle des Jungliberalismus im Rahmen der nationalliberalen Partei, dürfen in keiner künftigen Darstellung der deutschen Innenpolitik von 1871--1914 übersehen werden.


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Von den verschiedenen Biographien Stresemanns hat für das Parteiwesen, wie überhaupt wissenschaftlich die Arbeit Rochus von Rheinbabens, des Sohnes des früheren preußischen Finanzministers (Stresemann, Der Mensch u. der Staatsmann. Dresden, Reißner, 1928. 276 S.), den größten Wert. Sie beruht offenbar vielfach auf Str.s eigenen Angaben, und der stark apologetische Charakter des Buchs darf bei seiner Benutzung nicht außer acht gelassen werden. Aber wir erfahren auf diese Weise, wie Str. selbst rückblickend seine Laufbahn sah und in der Geschichte bis 1918, die hier nur in Betracht kommt, beurteilt zu werden wünschte. Str. trat zunächst Naumanns nationalsozialer Partei bei, weil ihr Bestreben, die arbeitenden Klassen dem Staate zu gewinnen, seinen Anschauungen entsprach. Er schied wieder aus, weil er in ihr den Machtinstinkt vermißte. Eine Partei ohne diesen »sah Str. für zwecklos an, denn wer politisch schaffen wollte, mußte Macht in der Partei, Macht durch die Partei erstreben«. Mit der Forderung des »Hungers nach Macht« trat Str. dann alsbald auch in der nationalliberalen Partei hervor, der er den alten Vorwurf der gouvernementalen Politik machte. Das Verlangen nach stärkerer Aktivität charakterisierte später im Weltkrieg Str.s Parteiführung, die schließlich in der Forderung des Parlamentarismus gipfelte. Man vermißt hier bei Rh. Genaueres über die Rolle, die Str. neben Erzberger beim Sturze Bethmanns gespielt hat. Laut den Aufzeichnungen Valentinis hat übrigens nicht Str., wie Rheinbaben schreibt, sondern Prinz Carolath Valentini aufgesucht, um den Rücktritt Bethmanns durchzusetzen. Von großem Quellenwert sind dann Rh.s Mitteilungen über den Versuch zur Einigung des Liberalismus im November 1918. Sie stehen im Gegensatz zu den von demokratischer Seite immer wiederholten Angaben, daß ungeschickte Behandlung Str.s das Aufgehen der nationalliberalen Partei in der demokratischen Partei damals verhindert habe.

Rudolf Olden bemüht sich in seinem »Stresemann« (1929: 1314), in gewandtem Stil den Politiker Str., dessen Realpolitik zeitweilig vielen als Gesinnungswechsel erschien, psychologisch zu erklären. O.s Einstellung als Redakteur des Berliner Tageblatts kommt dabei jedoch häufig zum Durchbruch, und es gelingt ihm nicht, ein so fein gezeichnetes Bild der Persönlichkeit Str.s zu zeichnen, wie es Edgar Stern-Rubarth in seiner Monographie »Stresemann als Europäer« entstehen ließ. Olden baut im wesentlichen auf Rheinbabens Buch und den Memoiren der Kriegszeit auf, schmückt aber die dort gefundenen Tatsachen in einer Weise aus, die nicht der Wahrheit entspricht. So schildert er dramatisch, wie Michaelis, in Berchtesgaden weilend, die Entscheidung über die Annahme der Kanzlerschaft höheren Gewalten überließ, indem er mit der Nadel in die Bibel stach. Die Szene ist reine Phantasie. Valentini wie Michaelis bekunden übereinstimmend, daß ersterer den letzteren in seinem Amtszimmer in Berlin aufsuchte, um ihm das Kanzleramt anzutragen.

Drei Studien der Jahre 1928/29 suchen Klarheit zu schaffen über die entscheidenden Auseinandersetzungen der Jahre 1877--1879 zwischen Bismarck und der nationalliberalen Partei, die für letztere mit dem Verlust ihrer ausschlaggebenden Stellung endete. Sandbergers »Ministerkandidatur Bennigsens« (1929: 1093) untersucht die Haltung der Partei bzw. ihres Führers Bennigsen in der personellen Frage. Scheiterte der Plan, einen oder mehrere Abgeordnete in die Regierung aufzunehmen, durch Bismarcks oder Bennigsens Verschulden? In den Aufzeichnungen von Tiedemann, Lucius und insbesondere


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dem ungedruckten Tagebuch Falks stand S. ein erheblich besseres Quellenmaterial zur Verfügung als seinerzeit Oncken. Aber S. hat das Gesamtproblem, das Bismarck damals lösen wollte, die Beseitigung des Dualismus zwischen dem Reich und Preußen, nicht erkannt und sieht daher vielfach die Einzelvorgänge, die nur im Rahmen der gesamten innenpolitischen Reform, die der Kanzler erstrebte, richtig bewertet werden können, in falschem Licht. Es war auch nicht die liberale Staats- und Weltanschauung, die kein Bündnis ihrer Anhänger mit Bismarck zuließ. S. folgt offenbar der Auffassung seines Lehrers Adalbert Wahl. Es war vielmehr Bismarcks Neigung, grundsätzlichen innenpolitischen Entscheidungen auszuweichen, wenn er sah, daß sie zu personellen Bindungen führten, die seiner autokratischen Natur unangenehm waren. Sie ließ ihn dann mit plötzlicher Wendung zu Augenblickslösungen schreiten, die seiner besseren Einsicht in die politischen Notwendigkeiten widersprachen. S. durfte der Partei nicht allein die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zuschieben, wenn sie und besonders Bennigsen auch, um mit Stresemann zu reden, zu wenig »Hunger nach Macht« bekundete. Bismarcks abfälliges Urteil über den Grafen Stolberg als Vizekanzler hätte S. aus Poschinger nicht ohne weitere Prüfung übernehmen dürfen (s. mein Buch, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Berlin 1931. S. 50/53). S.s Zitate stimmen vielfach nicht mit dem Wortlaut überein und müssen nachgeprüft werden. Vor allem sei der Wunsch wiederholt, daß Ebering als Herausgeber und Verleger seiner Schriftenreihe sich um die Korrektur der Erstlingsarbeiten kümmere. Die Druckfehler bei S. sind zahllos.

Die eben gekennzeichneten persönlichen Eigenschaften Bismarcks berücksichtigt auch Maenner zu wenig, wenn er in seiner ausgezeichneten Studie über »Deutschlands Wirtschaft und der Liberalismus in der Krise von 1879« (1928: 1176) Bismarcks Kampf gegen die nationalliberale Partei als vornehmsten Grund seines Übergangs zum Schutzzoll bezeichnet. Bismarck hat immer wieder betont, daß das Hauptziel der Reformvorlagen von 1879 sein sollte, das Reich finanziell von den Einzelstaaten unabhängig zu machen. Das konnte er nur, wenn er sich die Gefolgschaft der gesamten nationalliberalen Fraktion sicherte und ihre Führer in der Überwindung der Gegensätze innerhalb der Partei Schutzzoll-Freihandel unterstützte. Seine leidenschaftliche Abneigung gegen die Führer des linken Flügels ließen ihn statt dessen die Gegensätze verschärfen mit dem Ergebnis, daß die Partei zerfiel und er dadurch genötigt wurde, mit Hilfe des Zentrums die finanzielle Frage in einer Form zu lösen, die die Abhängigkeit des Reichs von den Einzelstaaten verstärkte. Seine ursprüngliche Absicht ist dies sicher nicht gewesen, so sehr er den Abfall des linken Flügels der Nationalliberalen ersehnte.

M.s eingehende Verfolgung des Problems Schutzzoll-Freihandel von den fünfziger Jahren bis in das 20. Jhd. und die Heranziehung bisher wenig beachteter Tagesschriften liberaler Politiker lassen den Kampf des Kanzlers und der Nationalliberalen in mancher Beziehung in neuem Lichte erscheinen. Der Liberalismus hielt zu lange an dem politisch weitgespannten ideellen Ziel fest, mehr als eine Klasse, mehr als das Bürgertum zu vertreten, während die konservativen und linksradikalen Programme, wie schon oben bei Stöcker hervorgehoben, die Massen durch Berücksichtigung ihrer materiellen Wünsche an sich zogen. Bismarck wiederum erkannte aus den sich hier durchsetzenden Tendenzen


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die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit durch Verstaatlichung der Eisenbahnen, Schutzzölle und Sozialversicherung »die Hand an den Puls der Wirtschaft zu legen«, jede wirtschaftliche Übermacht zu verhindern. Der Partei gelang es nicht, rechtzeitig zu dieser Wendung eine einheitliche Stellung zu gewinnen, die ihr die Wählermassen erhielt.

Blocks Dissertation (1929: 1442) ergänzt gewissermaßen die eben besprochene Arbeit, indem sie die Gruppenbildung und schließlich Spaltung in der Partei 1879 im einzelnen schildert. Im Gedankengang folgt Bl. im wesentlichen Maenner. Alle drei Studien hätten durch stärkere Heranziehung der Zeitungen noch wesentlich gewonnen. Diese können als Quelle für parteigeschichtliche Arbeiten nicht übergangen werden, so zeitraubend ihre Durchsicht auch ist.

Brockhaus' Aufzeichnungen über seine Teilnahme an den parlamentarischen Abenden im Kanzlerhause (1929: 1059) sind zwar nicht ausschließlich an die nationalliberalen Abgeordneten gerichtet, aber im wesentlichen in ihrer Wirkung auf diese und die ihnen nahestehenden Parteien berechnet. Das Meiste ist schon aus anderen Veröffentlichungen bekannt. Das Buch behält für die Forschung seinen Wert durch die authentische Form, in der B. die Äußerungen Bismarcks und den unmittelbaren Eindruck wiedergibt, den diese auf die Abgeordneter machten. Es erscheint hier wieder in hellstem Lichte Bismarcks staatsmännische Kunst, den Menschen in leichtem Plauderton die von ihm gewünschte Auffassung der Dinge und den Verlauf geschichtlicher Ereignisse so einzuprägen, wie er sie gesehen haben wollte.

Schließlich hat der demokratische »Bauernkönig« Waldeck in seinem Enkel, dem Kammergerichtsrat Biermann einen Biographen gefunden (1928: 1059), der aus den Waldeckschen Papieren manche hübsche Sentenz mitteilt und die vielseitige Begabung W.s würdigt. Für die politische Entwicklung und Bedeutung W.s bleiben wir aber auf Dehios knappen Aufsatz in der Hist. Ztschr. Bd. 136 (1927) angewiesen. B.s Buch ist nur ein pietätvolles Denkmal und absolut apologetisch gehalten. Darüber können auch der Auszug der W. angehenden Verhandlungen der Preußischen Nationalversammlung und der Abdruck von W.s Aufzeichnungen in der Untersuchungshaft nicht wegtäuschen, die viele Seiten des Buches füllen.


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