VI. Sozialismus und Anarchismus.

In Gustav Mayers geistvoller Studie »Bismarck und Lassalle« (1928: 792), zu der ihm die Auffindung ihres Briefwechsels Anlaß gab, interessiert hier neben den bekannten Versuchen L.s, Bismarck für die von L. geführte Arbeiterpartei zu gemeinsamem Kampf gegen die Fortschrittspartei zu gewinnen, die Erörterung des Einflusses L.s auf Bismarcks Stellung zu der Frage, das allgemeine Wahlrecht in Preußen einzuführen. M. stellt vorsichtig den möglichen Zusammenhang zwischen den Unterredungen beider und den Voten fest, die Bismarck im Dezember 1864 und Mai 1866 dem Staatsministerium über das preußische Wahlrecht vorlegte, und weist auf L.s im Weltkrieg eingetroffene Prophezeiung hin, daß die Verweigerung des allgemeinen Wahlrechts im Fall eines längeren Krieges zu »Emeuten und Insurrektionen« führen werde.

Die 50. Wiederkehr des Jahres 1878, in dem das Sozialistengesetz vom Reichstag verabschiedet wurde, hat neben Kampffmeyer, der wenigstens neues Material bringt (vgl. 1928, S. 220 und meine Besprechung in den Forsch. zur brandenburg-preuß. Geschichte Bd. 42, S. 169), auch Ferdinand Toennies


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(1929: 1094) Anlaß gegeben, sich mit den politischen Kämpfen von 1878 zu beschäftigen. Er arbeitet aber nur die einschlägigen Reichstagsverhandlungen durch und glossiert sie. Die Befürworter des Gesetzes werden schwer getadelt, die Gegner gelobt. In die historischen Zusammenhänge einzudringen, hat Verfasser sich nicht bemüht und nur einseitig politisch Stellung genommen. T. gerät dann in das Gebiet phantastischer Hypothese und sucht auszumalen, was hätte kommen können, wenn Bismarck 1890 eine neue Ausnahmegesetzgebung durchgesetzt hätte und Bürgerkrieg und gleichzeitig außenpolitische Verwicklungen entstanden wären. Das Ganze ist mehr ein Beitrag zur Charakteristik des geistreichen Verfassers von »Gemeinschaft und Gesellschaft« als eine Darstellung der Dinge, wie sie gewesen sind.

Schließlich hat auch der ehemalige sächsiche Ministerpräsident Lipinski in einem dünnen Heft »Dokumente zum Sozialistengesetz« veröffentlicht. Sie sollen seine Geschichte der Sozialdemokratie, »eine gedrängte Darstellung für Funktionäre und Lernende« (1928: 1096), ergänzen. Die Edition und die rein parteipolitische Kommentierung weisen schwere Mängel auf. Die Arbeit muß aber beachtet werden, da in mehr oder minder genauem Wortlaut Akten der Reichskanzlei, der Reichsämter und der preußischen Ministerien abgedruckt werden, die sich mit der sozialistischen Bewegung von 1871--1889 beschäftigen.

In Ernst Haases Biographie seines Vaters Hugo Haase (1929: 1302) führen der Text wie die beigegebenen Briefe und Reden sachlich nur in Einzelheiten über Bekanntes hinaus. Aber wir sehen hier, wie sich die deutsche Geschichte von 1890 bis 1919, zumal der Weltkrieg und die Revolution in den Augen des unabhängigen Sozialisten widerspiegeln. Insbesondere sind auch die Briefe Haases aus den Reichstagssitzungen in Weimar zu beachten, als es galt, die Friedensbedingungen anzunehmen oder abzulehnen. H. erscheint in Text wie Briefen als eine von reinem Wollen beseelte Persönlichkeit, die in dem Kampf um Verwirklichung des sozialistischen Ideals völlig aufging, die aber, als ihr der Zusammenbruch die Führung in die Hände gab, der Aufgabe vom Standpunkt der Partei nicht gewachsen war.


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