§ 4. Neuere deutsche Geschichtsschreibung

(P. Sattler)

Allgemein-zusammenfassende Arbeiten liegen in diesem Berichtsjahr nicht vor; fast ausschließlich geht die Forschung von den einzelnen Persönlichkeiten aus; so berechtigt dieser Ausgangspunkt ist, so liegt doch darin die Gefahr, daß die Historiographie als eine Summe von Historikerbiographien aufgefaßt und dargestellt wird. Wir werden in diesem Bericht alle rein biographischen Aufsätze, insbesondere die zahlreichen Nachrufe, aber auch andere Arbeiten, die die politische Stellungnahme eines Historikers allein behandeln (z. B. 127 S. 6; 1020 S. 49) nicht berücksichtigen; eine andere Briefveröffentlichung, die Friedrich Raumers Anteilnahme am Musik- und Theaterleben seiner Zeit zeigt, können wir an dieser Stelle auch übergehen ( 117).

Mit seiner ausgezeichneten, knapp zusammenfassenden Darstellung der Geschichtschreibung des deutschen Humanismus will W. Andreas ( 104) einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung geben. Er kennzeichnet an ihren hervorragendsten Vertretern den Inhalt und die Richtung ihrer Forschung und vergleicht ihre Leistung und Bedeutung mit den italienischen Vorbildern. -- Als einen Nachfahren der humanistischen Geschichtschreibung lernen wir den österreichischen Hofmeister und Geheimen Rat Reichart Streun von Schwarzenau kennen. Humanistisch mutet seine Sammlertätigkeit von Münzen und Inschriften und seine Beschäftigung mit Genealogie an; darüber hinaus erhielt seine historiographische Wirksamkeit einen weiteren Inhalt, indem er die ständischen Rechte und Freiheiten in der Landtafel und Landhandfest, denen in erster Linie eine juridisch-politische Bedeutung zukommt, sammelte und feststellte. Großmann ( 106) berichtet auf Grund der erhaltenen Originale und Abschriften der zum größten Teil nicht gedruckten Werke über die Arbeitsweise dieses etwas dilettantischen Späthumanisten, der sich gleichwohl bemühte, auf alle ihm erreichbaren Quellen zurückzugehen und diese kritisch zu bewerten. -- Der stoffreiche Aufsatz von Schottenloher ( 105) über kaiserliche Herolde als öffentliche Berichterstatter ist mehr ein Beitrag zur Quellenkunde als zur Historiographie. Im 16. Jhd. gehörte außer der Verkündigung kaiserlicher Gebote die Sorge um das Hofzeremoniell, Titulatur und Wappenwesen zu den Amtsaufgaben der Herolde; aus dieser Verpflichtung erwuchs die öffentliche Berichterstattung über den äußeren Verlauf der Reichstage, über Teilnehmer und Zutrittsberechtigte. Einige Herolde fühlten sich, da es ihnen oblag, das Ansehen des adeligen Standes zu erhalten und zu vermehren, verpflichtet, die Verdienste und rühmliche Taten des Adels der Nachwelt zu schildern. Aus dieser literarischen Gattung ist keine eigentliche Geschichtschreibung entstanden; es ist eine Ausnahme, wenn der Herold Karls V., Kaspar Sturm, der als Augenzeuge ein gut Teil der großen Ereignisse von 1520--1530 erlebt hat, mehr gibt, als eine Aufzählung von Äußerlichkeiten.

Das Urteil über das Leibnizbuch von Olgiati ( 107) müssen wir dem Fachphilosophen überlassen. O. würdigt zwar Leibniz' historische Bemühungen, er berücksichtigt die von Fueter gegen Davillé aufgeworfene Frage nach der Bedeutung von Leibniz als Historiker, ohne aber die Frage zu entscheiden. Das Schwergewicht seiner Arbeit liegt in den letzten Abschnitten, in denen er die Wirkung von Leibniz philosophischen Ideen auf die Nachwelt schildert. --


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Bittners Abhandlung ( 108) bringt einen wichtigen Beitrag zu den Anschauungen über den slavischen Osten in der deutschen Geschichtsauffassung und Politik des 18. Jhds.; nach einer umfangreichen Darstellung von Herders Geschichtsphilosophie untersucht B. Herders Beziehungen zur slavischen Welt, seine Sammlungen von Volksliedern, das Slavenkapitel der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« und Herders Verhältnis zu Hus und Comenius. Ein Anhang bringt den bisher unvollständig bekannten Lobgesang auf Peter d. Gr. mit einer Handschriftenwiedergabe. Die nicht gerade glücklich gegliederte Arbeit ist wertvoll durch die erschöpfende Zusammenstellung aller zerstreuten Äußerungen Herders, sowie durch die gründliche Heranziehung der Literatur, insbesondere der in slavischen Sprachen geschriebenen. Bei Herders ausgeprägter Empfänglichkeit für alle Regungen des menschlichen Geistes ist es nicht verwunderlich, daß er, der seine Jugend in den Ostseeprovinzen verlebt hat, den Slaven eine besondere Anteilnahme geschenkt hat. Aber man darf diese Beziehungen nicht überschätzen, wie B. es versucht. B. hebt ja selbst hervor, daß Herders Urteil über die Slaven in seinen verschiedenen Lebenszeiten völlig unheitlich gelautet hat. Ganz besonders anfechtbar ist B.'s Auslegung des Slavenkapitels aus Herders geschichtsphilosophischem Hauptwerk, den »Ideen«. Nach B. soll Herder in den slavischen Völkern die künftigen Träger der Kultur und Humanität als Erben der westeuropäischen Bildung erblickt haben. In früheren Schriften hat Herder zwar gelegentlich ähnliche Gedanken geäußert; er hat aber, was B. nicht erwähnt, diese Mission auch anderen Kulturen, z. B. der amerikanischen, zugeschrieben. In den freilich unvollendeten »Ideen« tritt der Gedanke, daß die westeuropäischen Kulturen durch eine andere, zukünftige abgelöst werden könnte, ganz zurück; im Slavenkapitel spricht er nur die Hoffnung aus, daß die bisher Unterdrückten in Zukunft ihre eigne Kultur aus sich selbst entfalten würden. In Herders Geschichtsphilosophie nehmen die Slaven jedenfalls nicht, wie B. es will, eine zentrale Stelle ein; ich vermisse überhaupt, daß B. sich nicht die Frage vorgelegt hat, welche Rolle im Vergleich zu den Slaven in Herders Bildung andere Völker und Kulturen eingenommen haben. -- Pfitzners Aufsatz geht ebenfalls den deutsch-slavischen Kulturbeziehungen um die Wende des 18. zum 19. Jhd. nach ( 113). Im Rahmen seiner Untersuchungen über die Beziehungen des bedeutendsten tschechischen Historikers, F. Palacký, zu H. Luden entwirft er ein anschauliches Bild der westslavischen Kultur vor ihrer Neubelebung. Er hebt die große Bedeutung der auf deutschen Universitäten studierenden Slaven hervor, die in Deutschland das Erwachen des geschichtlichen Bewußtseins erlebten, und die hier empfangenen Anschauungen von Staat und Nation, von Volkstum und Vergangenheit mit in ihre Heimat trugen, um dort diese Anregungen für die geschichtliche Betrachtung ihrer Völker nutzbar zu machen. Nur mittelbar durch seine in Jena studierenden Freunde hat Palacký Ludens Werke kennengelernt; von ihm, wenn auch nicht von ihm allein, hat er seine Anschauungen geschöpft. Ohne das Wirken Herders und der Romantik wären diese engen Kulturbeziehungen nicht denkbar. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die Briefe Droysens ( 986) eine Anzahl von Schreiben enthalten, die in einer späteren Zeit, in den fünfziger bis sechziger Jahren, zwischen Droysen und Palacký gewechselt sind.

»Über Mösers Art zu schaffen« veröffentlicht E. Haarmann ( 109) eine kurze Miszelle, die für die Textgestaltung von Mösers Aufsätzen von großer Bedeutung


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ist. Möser schrieb unmittelbar nieder, was ihm in die Feder kam; fand er später eine prägnantere Formulierung, so versuchte er den Gedanken anders auszudrücken, und der endgültige Text ergab sich erst aus einer Durcharbeitung der zahlreichen Entwürfe. An einem glücklich ausgewählten Beispiel zeigt H., wie Möser vier verschiedene Entwürfe zu einem Aufsatz, den er nie drucken ließ, zu Papier brachte. Bei der Herausgabe der Möserschen Fragmente hat B. R. Abeken diese vier Fassungen zu einem Text mit eigenen verbindenden Zusätzen verschmolzen. Die Beobachtung, die sich nicht auf dieses eine Beispiel allein stützt, berechtigt zu einem starken Mißtrauen gegenüber der Textredaktion Abekens und erweist die Notwendigkeit einer kritischen Ausgabe. -- Lehnerdt ( 115) berichtet auf Grund der ungedruckten Selbstbiographie sowie des Briefwechsels von Johannes Voigt über die ersten Königsberger Jahre des späteren preußenländischen Geschichtschreibers, über seine Freunde und seine Umwelt, über seine wissenschaftlichen Pläne und Arbeiten. Die Auszüge aus der Lebensbeschreibung enthalten Beiträge zur Königsberger Kultur- und Gelehrtengeschichte; hervorzuheben sind die Mitteilungen aus dem Briefwechsel mit dem Oberpräsidenten Theodor v. Schön sowie über die Anfeindungen, die Voigt in seinen ersten Jahren wegen seines »kryptokatholischen« Standpunktes erlebte.

Als den Vertreter einer typischen Übergangsepoche, so hat Requadt ( 111) den seiner Zeit berühmtesten Historiker des ausgehenden 18. Jhds. geschildert. Johannes von Müller, einst gefeiert, dann gescholten und schließlich vergessen, ist heute fast in den Mittelpunkt historiographischer Forschung gerückt. Müllers historisches Ideal waren die Antike und zugleich das Christentum, seine Bildungswelt ist bezeichnet durch die Namen Montesquieu, Möser, Herder und Adam Müller, seine religiöse Entwicklung ging über aufklärerischen Indifferentismus zur pietistischen Erweckung, er strebte im Leben betrachtender Historiker und handelnder Staatsmann zugleich zu sein. Die schwierige Aufgabe, eine so zwiespältige Natur aus seiner mehr empfundenen als erdachten Geschichtsauffassung verständlich zu machen, hat R. in seiner eindringenden Untersuchung gelöst, die Müllers Denken aus seiner Um- und Nachwelt heraushebt und stellenweise über das Zeitgeschichtliche hinaus sich zu einer Psychologie des historischen Denkens schlechthin erweitert. In seiner mit Recht sehr anerkennenden Besprechung hat R. Stadelmann zu einzelnen Ergebnissen kritisch Stellung genommen. Müllers Entscheidungen im politischen Handeln seien allein aus seinem Denken entwickelt, seine ganz privaten Bestrebungen träten allzu sehr zurück. Er dürfe nicht nur als Vorgänger Rankes, sondern auch als Zeitgenosse Gibbons und Rousseaus aufgefaßt werden. Der letzte Abschnitt bringt, ausgehend von dem Gedanken, daß Müllers Ideen für uns durch Ranke Gestalt gewonnen hätten, eine eingehende Untersuchung über das Verhältnis beider, die durch Benutzung von unveröffentlichtem Material aus dem Ranke-Nachlaß von besonderem Wert ist. R. bezeichnet die Vereinigung von religiösem, weltgeschichtlichem Erkenntnisstreben und empirischer Forschung als den beiden gemeinsamen Ausgangspunkt; für den jungen Ranke war Müller zweifellos das Vorbild eines großen Historikers, der reife Ranke hat sich diesem Einfluß merklich entzogen. Im ganzen betrachtet, bedeutet Müller für Ranke doch nicht mehr als einen seiner Anreger, die dieser in reichem Maß auf sich wirken ließ und deren Gedanken er -- darin viel glücklicher als das Vorbild seiner Jugend --


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bei aller Einheitlichkeit seiner Ansichten und seiner Werke für sich fruchtbar zu machen wußte.

Denn Ranke steht gleichsam im Mittelpunkt der deutschen Geschichtschreibung; in seinem Werk münden zahlreiche lebenskräftige Strömungen der Aufklärungshistoriographie; von ihm gehen mannigfache Richtungen aus, die bis heute fortwirken. In seinem Vortrag, den A. Rein über die europäische Expansion in der Geschichtschreibung in Oslo gehalten hat ( 103), prophezeit er ein Wiederaufleben Rankescher Ideen, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu einer reinen Wirkung und Fortbildung gelangt seien. Er verkennt nicht die kontinentalen Grundlagen seiner Geschichtsanschauungen; mit Recht hebt er hervor, daß zwar Rankes Darstellung sich im wesentlichen auf die Geschichte der europäischen Mächte beschränkt habe, daß er aber darüber hinaus die Bedeutung der in seinem Jahrhundert über Europa hinausführenden Begebenheiten wohl empfunden habe. R. erhebt die Forderung einer Geschichtschreibung im Geiste der Großen Mächte, d. h. der Mächte, die über die Grenzen Europas hinaus die Welt erobert und beherrscht haben. -- Der Aufsatz von G. Küntzel über Ranke und Elsaß-Lothringen ( 118) umreißt einen ähnlichen Problemkreis, den derselbe Gelehrte inzwischen in der umfangreichen Vorrede zur Neuausgabe der »12 Bücher preußischer Geschichte« eingehender behandelt hat. Die Frage, wie hat Ranke bei der Neubearbeitung seiner preußischen Geschichte nach den Ereignissen von 1871 seine ursprünglich im Geiste der Restaurationszeit entwickelten Grundgedanken erhalten und fortbilden können, hat hier K. eingeschränkt, indem er zeigt, wie Ranke, der in seiner Jugend die Ergebnisse der Wiener Verträge als endgültig ansah, die Angliederung von Elsaß-Lothringen als ein notwendiges Mittel staatserhaltender Politik empfunden und gerechtfertigt hat. K. hat uns nicht eine Untersuchung, die man nach dem Titel erwarten konnte, über die Behandlung des elsässischen Problems in Rankes Werken, die der Geschichte des 17. und 18. Jhds. gewidmet sind, vorgelegt; ich vermute, daß eine solche Untersuchung die diplomatische, um nicht zu sagen, zwiespältige Art, mit der Ranke häufig historische Fragen, die noch eine aktuelle Bedeutung besaßen, beleuchten würde.

Über J. Burckhardt legt R. Winners eine Studie vor ( 126), deren Wert in der begrifflich klaren Darlegung der Burckhardtschen Grundanschauungen liegt. Nur strebt W. allzu sehr danach, jeden von Burckhardt erschauten Begriff auf eine wissenschaftstheoretische Formel zu bringen und ihn mit den Begriffen und Grundeinstellungen anderer Denker und Forscher zu vergleichen. Sehr gut ist die Weltanschauung aus der Persönlichkeit herausgearbeitet und die Grundlagen seiner typenbildenden, kulturgeschichtlichen Methode gekennzeichnet. Mit allen Ergebnissen W.' kann ich mich freilich nicht einverstanden erklären; z. B. für schief halte ich seine Darlegungen über das Problem der historischen Objektivität. Nach W. soll Burckhardt ähnlich wie Ranke der Meinung gewesen sein, daß dem Historiker das Ideal einer objektiven Wiedergabe des Geschehenen zwar nicht erreichbar, aber als wissenschaftliches Postulat gegeben sei. Gewiß, wissenschaftliche Ehrlichkeit forderte Burckhardt; aber die Rankesche Grundposition, daß es dem idealen Betrachter, dessen Blick von allen subjektiven Trübungen frei ist, möglich sei, das Ganze der Geschichte zu erkennen, hat er sich nicht zu eigen gemacht. Ich glaube seinen Standpunkt am besten mit einem Vergleich aus einem andern Gebiet (der sich in dieser Form bei ihm nicht


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belegen läßt) kennzeichnen zu können: Wie es undenkbar ist, daß jemand, welchen Standpunkt er auch einnimmt, jemals die ganze Oberfläche der Erdkugel mit einem Blick überschaut, so ist auch eine Gesamtanschauung und objektive Wiedergabe der Geschichte unmöglich. Mit dieser Erklärung kommen wir auch dem Problem der Entwicklung bei Burckhardt näher, das W. zwar zutreffend entwickelt, aber unrichtig beurteilt. B. gibt uns Querschnitte kulturhistorischer Zustände, er »unternimmt den erstaunlichen Versuch, Geschichte zu treiben, ohne den Begriff der Entwicklung in Anspruch zu nehmen. Damit ist seine Wissenschaft als Geschichte fraglich geworden«. Seine Darstellungen sind, wie ich meine, von einem bewußt subjektiven Standpunkt aus betrachtete Ausschnitte, Zusammenfassungen aus dem Geschehenen; sie erheben nicht den Anspruch, Deduktionen von ihm selbst vielleicht unbewußten Prinzipien zu sein, und ich sehe nicht ein, warum diese Form der Geschichtschreibung nicht berechtigt sein soll, wenn sie auch nicht die einzig mögliche ist. Die beiden letzten Abschnitte von W.' Buch beschäftigen sich mit B.s materialer Geschichtsphilosophie, für die die weltgeschichtlichen Betrachtungen die wichtigste Quelle bilden; mit Recht macht H. Wölfflin darauf aufmerksam, daß die Überlieferung dieser Quelle zu einer großen Zurückhaltung verpflichtet. Dankenswert ist die ausführliche Analyse von Lasaulx' Ansichten, auf den sich B. merkwürdig häufig berufen hat. -- Burckhardts Verhältnis zu Hegel hätte W. wohl etwas anders charakterisieren können, wenn ihm die von J. H. Hoff ( 126) veröffentlichten Briefe an Fresenius bekannt geworden wären. Diese Briefe zeigen uns den jungen B. im brieflichen Verkehr mit einem Bonner Maikäferfreund von der persönlichen Seite; ein Brief, der in Berlin im Juni 1842 geschrieben wurde, erweckt unser sachliches Interesse. Denn er enthält eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Geschichte; man spürt die Nähe Rankes, aber in Stimmung und Ausdruck, weniger in seinem gedanklichen Inhalt, zeigt der Brief bereits eine ganz Burckhardtsche Prägung.

Die Tradition der katholischen Historiker, die auf die Romantik, zum Teil auch auf J. v. Müller zurückgeht und später im Gegensatz zur kleindeutschen Historiographie ihre besten Kräfte erschöpfte, hat bisher eine ihr gemäße literarische Würdigung nicht gefunden. Die Studie von G. Wolf über F. Hurter ( 116) zeigt, daß wir auch in ihm einen eigenartigen Vertreter des Frühhistorismus erblicken können. W. verfolgt Hurters geistige Entwicklung aus traditionellem, altkalvinistischem Denken bis zu seiner Konversion, die keinen Bruch mit seiner Vergangenheit bedeutete; er legt seine Anschauungen über Kirche und Geschichte, Staat und Volk dar, die vielfache Berührungen mit Hallerschen Ideen aufweisen. -- In die Reihe der Konvertiten gehört auch Onno Klopp. Wie Hurter fand er den Weg zur katholischen Kirche als reifer Mann, nicht auf Grund eines plötzlichen Entschlusses, sondern nach einer lange währenden, schrittweisen Annäherung und einer dogmatisch rationalen Überlegung. Seine Konversion macht Uttenweiler ( 124) zum Gegenstand eines kurzen Aufsatzes. Den entscheidenden Anlaß wird man -- soweit nicht, was U. nur kurz andeutet, rein persönliche Gründe maßgebend waren -- im Politischen erblicken müssen. Die Idee des Rechts in der Geschichte ohne Ansehen des Erfolgs war der leitende Grundgedanke seiner historischen Werke. Der Widerspruch gegen die preußische Annexion Ostfrieslands durch Friedrich d. Gr. beherrscht bereits sein erstes umfassenderes Buch; er glaubte, das historische


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Recht des Habsburger-Reiches erweisen zu können. Nach der Annexion Hannovers und nach seiner Übersiedlung nach Wien sah er in der katholischen Kirche den einzigen Hüter und Bewahrer des historischen Rechts. -- Zum 100. Geburtstag von Johannes Janssen gibt die Görresgesellschaft eine Nachlese aus seinen Papieren heraus ( 120). L. v. Pastor, der die Veröffentlichung selbst nicht mehr besorgen konnte, hat eine Charakteristik seines Lehrers beigesteuert. Die Kindheitserinnerungen, die Janssen in seinem Alter niederschrieb, geben Aufschluß über die religiösen Eindrücke, die ihm sein Elternhaus vermittelte. Einige Tagebuchblätter aus den sechziger Jahren zeigen uns den Gelehrten und Publizisten; mit Recht ist darauf verzichtet worden, das erhaltene Tagebuch, von dem Janssen selbst einen Teil vernichtet hat, abzudrucken. Spätere Aufzeichnungen entstammen den Jahren, in denen er als Abgeordneter in Berlin weilte; sie geben uns einen Einblick in das parlamentarische Getriebe während der Höhezeit des Kulturkampfes und beleuchten seine von ihm selbst empfundene unzulängliche Begabung für den Kampf des Tages. Das ganze Buch, wie auch die Skizze Pastors, zeigen uns Janssen von der menschlichen Seite; über allem liegt ein Hauch seiner Naivität, die oft einen erbaulichen Charakter annimmt, aber nie unnatürlich wirkt. -- Neben diesem biographischen Beitrag verzeichnen wir die Arbeit von Laslowski ( 120), die Janssens Geschichtsauffassung aus seiner religiösen Weltanschauung zu erklären versucht. L. will seine Geschichtschreibung nicht als einen zeitgeschichtlichen Ausdruck des Kulturkampfes, auch nicht als ein Moment des Wiederauflebens des katholischen Gedankens, sondern als Glied der überkonfessionellen, geistesgeschichtlichen Bewegung auffassen, die die Eigengesetzlichkeit des geschichtlichen Lebens zu erfassen suchte. Demgemäß sieht L. die bleibende Bedeutung Janssens darin, daß er in einer Zeit der Relativierung aller überlieferten Wertungen es unternahm, Geschichte vom eindeutigen Standpunkt der katholischen Weltanschauung zu beurteilen und darzustellen. Soweit ist L. beizustimmen, daß Janssens methodologische Ansichten an Auffassungen heranreichen, die zu seiner Zeit von der Wissenschaft aufgegeben waren; aber man wird das Substantielle seiner Ansichten nicht darüber unberücksichtigt lassen können. Denn einmal geben die methodischen und weltanschaulichen Ansichten eines Historikers nicht allein den Maßstab seiner Beurteilung ab; ferner aber sind gerade Janssens Schriften ohne den Hintergrund der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte nicht denkbar.

Es ist kein Zufall, daß das Schwergewicht zweier umfassender Briefpublikationen aus dem Nachlaß zweier Historiker auf ihrem politischen Inhalt liegt. Wir können in diesem Zusammenhang weder an dem 2. Band der Niebuhr- Briefe ( 937), der die Jahre umfaßt, in denen Niebuhrs wissenschaftliches Lebenswerk, die römische Geschichte veröffentlicht wurde, noch an dem Briefwechsel J. G. Droysens ( 986) ganz vorübergehen. Besonders wertvoll ist an historiographischem Gehalt der Briefwechsel Droysens; auf eine eingehende Würdigung müssen wir verzichten. Wir verweisen auf den Aufsatz von F. Meinecke ( 986), der, weit über den Rahmen einer Besprechung hinausgehend, systematisch die großen, historiographischen Themen Droysens sowie seine historiologischen Ansichten entwickelt. -- Die sechs ausführlichen Briefe Erdmannsdörfers an Droysen, die Andreas ( 128) gleichsam als Nachlese zum Briefwechsel (Droysens Briefe an Erdmannsdörfer sind nicht erhalten) mitteilt, enthalten lebensnahe Schilderungen Florentiner und Römischer Zustände aus den


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entscheidenden Jahren der italienischen Einheitsbewegung. Mit viel Sympathie und etwas Neid berichtet der junge Erdmannsdörfer seinem Lehrer, der ihm damals persönlich nahe stand, seine Eindrücke, während er bei der Bearbeitung der Reichstagsakten zwischen 1855--60 italienische Archive und Bibliotheken besuchte. Man wird nicht, ohne Vergleiche anzustellen, lesen, wieviel Mühsal, Geduld und gute Worte damals Archiv- und Bibliotheksbenutzung erforderte. --Lorenz ( 121) gibt aus Liliencrons Nachlaß einige Briefe von Ottokar Lorenz bekannt, die einen Einblick in die Schwierigkeiten auf dem Grenzgebiet der deutschen und österreichischen Geschichte bei der Redaktion der Allgemeinen Deutschen Biographie gewähren. Der Veröffentlichung vorangeschickt ist eine eingehende Darstellung der politischen Entwicklung dieses eigenwilligen österreichischen Historikers. Er war keineswegs wie Springer, Brunner und Scherer, ein kleindeutsch gesinnter Österreicher; in ihm war ein gut Stück traditionell Habsburger Staatsgesinnung lebendig, deren publizistische Auswirkung auf Grund der Akten uns geschildert wird. Erst nach zahlreichen, nicht zuletzt persönlichen Konflikten mit den Ministerien ging L. nach 1866 in das Lager der Kleindeutschen.

Im letzten Jahresbericht ist die von der Redaktion der »Historischen Zeitschrift« herausgegebene Broschüre »Historische Belletristik«, die in diesem Berichtsjahr, was angemerkt zu werden verdient, in 3. Auflage vorliegt, besprochen worden (Jberr. 4, S. 97). Emil Ludwig hat darauf mit einem Gegenangriff geantwortet, der unter dem Titel »Historie und Dichtung« im Märzheft 1929 der »Neuen Rundschau« erschienen ist. Gegen die »Merkerstriche« seiner Gegner, die ihm Irrtümer, Unkenntnis der Fachliteratur und unsachliche Fragestellungen vorgehalten hatten, verteidigt sich Ludwig, indem er die Auseinandersetzung auf prinzipielle Fragen von Geschichtsauffassung und Darstellung zu führen sucht; der alten Schule der Fachhistorie, die in strenger Objektivität Daten und Fakten häufe, aber unfähig sei, einen wirklichen Vorgang plastisch zu schildern, weil sie dem wirklichen Leben zu fern und den Büchern und Aktenstaub zu nah sei, stellt er die neue Schule der Illegitimen (»Wir Bastarde, gezeugt aus Historie und Dichtung«) gegenüber; sie will mit den Mitteln einer künstlerischen Darstellung die Seele ihrer Helden enträtseln, sie will im ahnenden Vorgefühl sie in ihren symbolischen Handlungen erfassen. Wir untersuchen an dieser Stelle nicht, wie sich Ludwigs theoretische Anschauungen zu seiner historiographischen Praxis verhalten; Mommsen ( 147) hat mit Recht diesen Gesichtspunkt in seiner kritischen Gegenschrift herausgearbeitet. Warum haben aber Ludwigs historische Biographien eine so weite Verbreitung finden können, obgleich ihre »neue« Methode nur die geschickte Verwendung veralteter, psychologischer Kulissen auf der Bühne der Vergangenheit ist? Warum hat die Fachhistorie die Anteilnahme und den Widerhall der weiteren Öffentlichkeit seit den Tagen Rankes und Treitschkes verloren? M. meint, daß die Scheu der Fachhistorie vor Politik, die eine frühere Generation nicht kannte, an der Zurückhaltung der historisch-politischen Kreise an der Arbeit der Fachhistorie schuld sei. Die Entgegnung von Ludwig liegt inzwischen in seiner Selbstbiographie (Geschenke des Lebens. 1931, S. 727 ff.) vor. Jetzt verzichtet er darauf, seine biographischen Werke als das Erzeugnis einer neuen historischen Schule anzusprechen, er schildert nur seine eigne Arbeitsweise und sein Interesse an der Geschichte. Sein Urteil über die Fachhistorie ist zwar


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nicht zurückhaltender geworden und die Polemik ist nur äußerlich verhüllt, weil L. so gut wie nie Namen nennt. Recht bemerkenswert ist aber seine Erklärung der Biographik als Seelenkunde. Seine Schriften sollen nichts sein, als Beiträge zur Erkenntnis des Menschen; das Leben eines großen Mannes ist ihm gleich wichtig wie das eines unbedeutenden, nur daß das eine ein besseres Feld der Beobachtung gewähre. Wir werden fragen: ist eine unter diesem Gesichtspunkt betriebene Beschäftigung mit vergangenen Leben noch Geschichte zu nennen? Ist die Fachhistorie verpflichtet, sich noch gegen die Anschauung zu wehren, daß das, was L. bietet, eine neue Form, Geschichte zu sehen, bedeutet?


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