§ 41. Geschichte des Judentums

(F. Friedlaender)

Von dem großen, auf nicht weniger als 15 Bände berechneten Sammelwerk der »Encyclopaedia Judaica« ist inzwischen der dritte und der vierte Band erschienen ( 1964). Die Bände enthalten ebenso wie die vorangegangenen zahlreiche Artikel, die sich auf unser Gebiet beziehen. Im Vordergrund stehen hierbei die Darstellungen, die die deutschen Territorien und Städte, sofern sie von Juden besiedelt waren, behandeln. Die Bedeutung, die die Territorialgeschichte mit ihren stammesmäßigen Abschattierungen für die noch ungeschriebene Geschichte der Juden in Deutschland besitzt, tritt dabei eindringlich hervor. Die geistesgeschichtlichen Perioden -- es sei nur z. B. auf den Art. Aufklärung (Deutschland) verwiesen -- sowie die Einzelpersönlichkeiten sind ebenfalls sorgfältig berücksichtigt. Die reichhaltigen Literaturangaben, die den Text der einzelnen Artikel beschließen, werden für die Spezialforschung künftig unentbehrlich sein. Es sei noch dankbar erwähnt, daß die Redaktion des Unternehmens ihre Mitarbeiter -- insbesondere bei der Behandlung heikler und umstrittener Themata -- zu einer objektiven Darstellungsweise angehalten hat.

Als Ersatz für die noch nicht vorhandene Geschichte der Juden in Deutschland müssen die Gesamtdarstellungen der jüdischen Geschichte gelten. Daß dieser Ersatz aber nur ein Notbehelf sein kann, beweist sogar ein so großzügig konzipiertes und frisch zugreifendes Werk wie Dubnows aus dem Russischen übersetzte »Weltgeschichte des jüdischen Volkes« ( 1965). Das breitangelegte Werk ist aus der bereits früher erschienenen dreibändigen »Neuesten Geschichte des jüdischen Volkes« hervorgewachsen, die nunmehr den Abschluß des Ganzen bildet. Die Auffassung der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Juden wird durch den konsequent nationaljüdischen Standpunkt des Verfassers gekennzeichnet. Dadurch unterscheidet sich seine Darstellung von vornherein von der bisherigen Stellungnahme, wie sie namentlich Graetz und Philippson vertreten haben. Diese deutschen Autoren faßten die Assimilation, d. h. die Verschmelzung der Juden mit der christlich-deutschen Umwelt als einen geschichtlich notwendigen Prozeß auf, den sie ihrer bürgerlich-liberalen Weltansicht gemäß durchaus positiv beurteilten. Die Assimilation hat ihrerseits die Emanzipation, d. h. die bürgerliche Gleichstellung der Juden zur Voraussetzung. Die Geschichte des Emanzipationskampfes der deutschen Juden, der in den Tagen der Aufklärung einsetzt, erzählt Dubnow u. a. in dem vorliegenden 9. und 10. Bande seines Geschichtswerks. Es ist sein besonderes Verdienst, daß er jenen Kampf als einen Teilvorgang der allgemeinen jüdischen Emanzipationsbewegung erkannt und dementsprechend eingeordnet hat. Das wechselvolle Schicksal in dem Kampfe zwischen der judenfeindlichen Reaktion und der Emanzipation bildet, soweit die deutschen Verhältnisse in Frage kommen, den Grundakkord der Darstellung. Obwohl sie die Linien der Entwicklung geistreich und vor allem übersichtlich zieht, wird man sie dennoch nicht als selbständige Forscherleistung ansprechen können. Ihr Wert liegt vornehmlich in ihrer neuartigen und perspektivenreichen Urteilsbildung, die freilich wegen ihres doktrinären Charakters oft den Widerspruch kräftig herausfordert.

Anläßlich des Moses Mendelssohn-Gedenkjahres ist eine zahlreiche Literatur erschienen, über die ich in der »Zeitschrift für die Geschichte der Juden


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in Deutschland« (1. Jahrg., S. 270--272) kurz berichtet habe. Das würdigste und bleibende Denkmal, das dem Denker und Reformator anläßlich der 200. Wiederkehr seines Geburtstages errichtet wurde, bildet die monumentale, auf 16 Bände berechnete Jubiläumsausgabe seiner Gesammelten Schriften. Jene Edition, die unter Mitarbeit jüngerer Herausgeber von J. Elbogen, Jul. Guttmann und E. Mittwoch geleitet wird, wird die erste kritische und lückenlose Gesamtausgabe darstellen. Erst wenn die mit kritischer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit besorgte Edition vollständig vorliegt, wird es möglich sein, die Summe der geistigen Existenz Moses Mendelssohns zu ziehen. Vorläufig sind zwei Bände erschienen: Band 1 als erster Band der Schriften zur Philosophie und Ästhetik und Band 16 als dritter Band in der Reihe der hebräischen Schriften. Der erstgenannte Band enthält die Werke aus der Frühzeit Mendelssohns, die er selbst unter dem Titel »Philosophische Schriften« in Buchform veröffentlicht hat. Der Herausgeber des Bandes, Fritz Bamberger, hat den Anforderungen einer kritischen Ausgabe entsprechend sowohl den ursprünglichen als auch den endgültig redigierten Text abgedruckt. Der kritische Apparat enthält Lesarten und Anmerkungen zur Erklärung des Textes. Ausgezeichnet und zum Verständnis jener frühen Schriften unentbehrlich ist der Kommentar, den der Herausgeber in der Einleitung des Bandes niedergelegt hat. Der andere, der Abteilung der hebräischen Schriften angehörende Band umfaßt den von Haim Borodianski bearbeiteten Briefwechsel Moses Mendelssohns. Die bereits bekannten Brieftexte sind sorgfältig revidiert und um zahlreiche bisher unveröffentlichte Stücke vermehrt worden. Der Band eröffnet der lebensgeschichtlichen Erforschung Mendelssohns und seiner Umwelt neuartige Perspektiven.

Der von der zeitgenössischen Dichtung und dem ästhetischen Zeitinteresse aktualisierten Figur des Jud Süß hat Selma Stern eine umfassende und wissenschaftlich ertragreiche Biographie gewidmet ( 1969), durch die die älteren Lebensbeschreibungen weit überholt werden. Das Werk Selma Sterns übertrifft diese Vorarbeiten allein schon durch seine Stoffbeherrschung: in ihm ist nicht bloß das gewaltige Material des württembergischen Staatsarchivs, sondern es sind auch die in Darmstadt, Karlsruhe, Koblenz und Frankfurt a. M. vorhandenen Archivalien verarbeitet worden. Auf Grund dieses Quellenmaterials ist es der Verfasserin gelungen, zum ersten Male mit nüchterner Objektivität ein Porträt des prominentesten »Leibjuden« zu entwerfen. Sie hat nicht zuletzt den Legendenkranz, der jene verkannte und verlästerte Gestalt verdeckte, mit kritischer Gelehrsamkeit zerpflückt. Süß wurde im J. 1732 von dem Herzog Karl Alexander von Württemberg in Dienste genommen. In kurzer Zeit hat er die zerrütteten Staatsfinanzen geordnet und die Wirtschaft in merkantilistische Bahnen gelenkt. Keineswegs hat er sich persönlich bereichert, wenn auch seine Lebensführung Anstoß erregte. Nach des Herzogs plötzlichem Tode wurde ihm sofort der Prozeß gemacht, der mit seiner Verurteilung zum Tode endete. Die Urteilsvollstreckung war ein offenkundiger Justizmord. Dies geht aus der unparteiischen Untersuchung Selma Sterns einwandfrei hervor. Sehr feinsinnig erklärt sie die Problematik der Persönlichkeit aus einem entwicklungsgeschichtlichen Dualismus: »Ein Kind des Ghetto und ein Kind der höfisch aristokratischen Zeit, der Welt des Judentums ebenso zugehörig wie der Welt des Barock, war er vom Schicksal bestimmt, die Spannung eines solchen Versuchs, zwei Welten in sich zu einer zu gestalten, zu erleben und zu erleiden. Ein geistiger


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Ahne Lassalles und Disraelis, kleiner im Format seiner Möglichkeiten ... war ihm von den dreien in mancher Hinsicht die schwierigste Aufgabe gestellt, wie auch das schwierigste Schicksal bereitet. Jene rangen um seelische und bürgerliche Gleichstellung in einer Zeit, da die rechtliche Gleichstellung bereits erfolgt war. Die Tore zur Bildung und zur Gesellschaft standen ihnen von Anfang an offen. Süß dagegen wurde von niemandem geleitet, von keiner Schule und keiner Universität, von keinem Sprachmeister und keinem Freund. Er verließ das Ghetto und stand als völliger Neuling plötzlich in einer anderen Kultur.« --

Nachdem die von Ludwig Geiger begründete und umsichtig geleitete »Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland« (1887--1892) ihr Erscheinen eingestellt hatte, war die Sammelstätte verlorengegangen, die der tastenden Spezialforschung allein Halt bieten konnte. Ihr Nichtvorhandensein wurde schmerzlich empfunden, bis die führenden jüdischen Verbände Deutschlands -- die süddeutschen Landesverbände jüdischer Gemeinden, der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden und der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens -- sich ihrer kulturellen Verpflichtung erinnerten und im J. 1929 das Wiedererscheinen der Zeitschrift ermöglichten. J. Elbogen (Berlin), A. Freimann (Frankf. a. M.) und M. Freudenthal (Nürnberg) traten an die Spitze des Unternehmens. Die bekanntesten deutschen Geschichtsforscher jüdischen Glaubens sagten ihre Mitwirkung zu: G. Kisch (Halle), R. Koebner (Breslau), W. Levison (Bonn), S. Steinherz (Prag), M. Stern (Berlin), A. Stern (Zürich), E. Täubler (Heidelberg) und der unlängst verstorbene A. Warschauer (Berlin). Die Zeitschrift will nicht nur die politische Geschichte der Juden in Deutschland, sondern auch ihre »Kulturgeschichte« im weitesten Umfang, mithin Wirtschafts-, Literatur-, Religions-, Rechtsgeschichte und Soziologie behandeln. Dem modernen Streben nach Synthese folgend, will sie die großen Entwicklungslinien in der Gesamtgeschichte der Juden in Deutschland herausarbeiten, aber auch ihre Territorial-, Lokal-, Gemeinde- und Familiengeschichte erforschen. Der vorliegende erste Jahrgang zeigt bereits Ansätze zu einer Lösung der weitgesteckten Aufgabe. R. Straus ( 1962) erörtert eingangs die notwendige Forschungsmethode, indem er an dem Beispiel der Benutzung jüdisch-ma.licher Quellen die Unzulänglichkeit der bisherigen Methode nachweist. Er zeigt, wie historisch-dogmatische Begriffe, die aus einer subjektiv-einseitigen Quellenverwertung herrührten, eine Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit unmöglich machten. An die Stelle schnellfertig verallgemeinernder und abstrahierender Urteile muß die quellenkritische Kleinarbeit treten, denn nur durch die Interpretation der konkreten Details kann man zu einem geschichtlichen Gesamtbild gelangen. Es ist an dieser Stelle nur möglich, aus dem ersten Jahrgang einzelne Beiträge herauszugreifen. A. Kober gibt eine summarische Übersicht über die Forschungsergebnisse, die in den letzten 35 Jahren auf dem Gebiete der Geschichte der deutschen Juden gezeitigt wurden. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, daß hier neben manchen schönen Leistungen auch sehr viel schädlicher Dilettantismus herrsche und daß noch viele Aufgaben ihrer Lösung harren. -- J. Elbogen ( 1967) durchforscht das rabbinische Schrifttum des frühen MA. zum erstenmal nach historisch wichtigen Nachrichten. Wir ersehen daraus, daß die Juden in Zivilstreitigkeiten eine eigene Gerichtsbarkeit besaßen. Ihr ordentlicher Gerichtsstand war das jüdische


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Gericht. Daneben aber hatten sie einen außerordentlichen Gerichtsstand bei dem Gericht des Territorialherrn. Das städtische Gericht diente nur als ausführendes Organ, die materielle Rechtsprechung lag uneingeschränkt in der Hand der Juden. Zu der christlichen Bevölkerung unterhielten die Juden lebhafte Beziehungen. -- S. Levi ( 1967) versucht auf philologisch-historischem Wege den Nachweis zu führen, daß bereits zur julisch-claudischen Zeit Juden auf deutschem Boden anzutreffen sind. Gegenstand seiner Untersuchung sind die Grabsteine römischer Soldaten, deren Inschriften hebräische Namensformen enthalten sollen. -- Das Wesen der ehemaligen jüdischen Gemeindeverfassung untersucht M. Freudenthal ( 1978) an Hand des Kahls-, d. h. Gemeindebuchs von Sugenheim. Danach war die Stellung der Gemeindebeamten, die Armenfürsorge und die Synagogenordnung genau geregelt. In rechtlicher Hinsicht war die Gemeinde dem reichsritterlichen Schutzherrn untertan. -- A. Freimann ( 1967) hat in einer Miszelle die kärglichen Nachrichten, die über Verbindungen von deutschen Juden mit denen im Orient berichten, für die Zeit bis zum ersten Kreuzzuge zusammengestellt. Auch hier knüpfte der internationale Handel die Verbindungsfäden. -- Im Zusammenhang mit dem Mendelssohn-Jubiläum würdigt Willy Cohn ( 1970) die Persönlichkeit Christian Wilhelm v. Dohms, der, von Mendelssohn angeregt, die für die Emanzipation epochemachende Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« (1781) schrieb. Leider beschränkt sich der Aufsatz im wesentlichen auf eine Analyse der genannten Schrift und bleibt uns ein Gesamtbild schuldig.

Die Festschrift, die das Breslauer Jüdisch-theologische Seminar zur Feier seines 75jährigen Bestehens herausgegeben hat ( 1963), enthält verschiedene Beiträge, die auf die Geschichte der Juden in Deutschland Bezug haben. J. Freund beschreibt den Vernichtungsfeldzug, den die preußische Staatsbureaukratie gegen das im J. 1812 verkündete Gleichberechtigungsedikt der Juden führte. Die reaktionäre Verwaltungspraxis verstand es, die Durchführung des Gesetzes Schritt für Schritt zu unterbinden. Die preußischen Juden setzten daher ihre Hoffnung auf den Regierungswechsel; sie richteten, wie aus einer beigegebenen Urkunde ersichtlich wird, am 24. 11. 1840 an Friedrich Wilhelm IV. den Appell, ihre gefährdeten Rechte wiederherzustellen. -- Das schwierige Problem der jüdischen Namengebung, das die jüdische Familienforschung neuerdings lebhaft beschäftigt, hat S. Silberstein ( 1985) für das Gebiet der beiden Mecklenburg an Hand der Akten geklärt. Er hat es in einen weitgesteckten Rahmen gestellt und zugleich für die übrigen deutschen Territorien die diesbezüglichen Feststellungen getroffen. Die Juden haben sich danach keineswegs, wie vielfach behauptet worden ist, gegen die Annahme von Familiennamen gewehrt, sie haben im Gegenteil die gesetzliche Regelung, die ihnen beständige Geschlechternamen zuerkannte, begrüßt und von sich aus gefördert. Bei- oder Familiennamen treten bereits seit dem 10. Jhd. auf. Am häufigsten sind Ortsnamen anzutreffen, daneben aber auch viel Beinamen von Berufen und Titeln. Die Annahme erblicher Familiennamen ist in Mecklenburg-Schwerin durch den § 4 der Landesherrlichen Constitution zur Bestimmung einer angemessenen Verfassung der Jüdischen Glaubensgenossen in den Herzoglichen Landen vom 22. Februar 1813 festgesetzt worden. Ihm zufolge sollten alle einländischen Juden fortan festbestimmte erbliche Namen führen. Ein Jahr später wurde eine ähnliche Verordnung in Mecklenburg-Strelitz schnell durchgeführt. Die beigefügten


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Namenslisten werden der Orts- und Familiengeschichte manche Anregung bieten.

Zu den wenigen Berufen, die den Juden in der Zeit vor der Emanzipation offenstanden, gehörte der Beruf des Arztes. Die geschichtliche Forschung hat der Tätigkeit der jüdischen Ärzte deshalb vielfach Beachtung geschenkt. Auf Grund von Urkunden, die zugleich veröffentlicht werden, hat nunmehr A. Kober ( 1980) die jüdischen Ärzte vornehmlich des 17. und 18. Jhds., die in den Rheinlanden gewirkt haben, dargestellt. Jene Ärzte, deren soziales und karitatives Gewissen stark ausgeprägt war, erfreuten sich eines lebhaften Zuspruchs, sie waren auch seitens der jüdischen Gemeinden sehr angesehen. Sie wurden von ihnen als Gemeinde- und Armenärzte in Anspruch genommen; sie waren meistens steuerfrei. Akademische Bildung besaß nur ein Teil von ihnen. In der ersten Hälfte des 18. Jhds. haben Juden an deutschen Universitäten promoviert. Die jüdischen Ärzte, auch die nichtstudierten, waren unentbehrliche Mittler zwischen Juden und Christen. So wurden sie zu Wegbereitern der Emanzipation.

Die traurigen Schicksale, denen die Juden in Hessen bis zum Beginn des 19. Jhds. unterworfen waren, schildert am gleichen Orte F. Lazarus ( 1979). In ihrer Berufsausübung wurden die Juden fast ausschließlich auf Handel und Geldleihe beschränkt. Ihre steuerliche Belastung war nahezu unerträglich. Ihre internen Angelegenheiten ordneten sie in eigenen Versammlungen, den sogen. Judenlandtagen. An ihrer Spitze stand ein Landrabbiner, der zugleich Recht sprach. Der schmähliche Leibzoll wurde in Kurhessen erst seit 1803 nicht mehr erhoben.


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