§ 43. Neuere Staatsanschauungen

(G. Masur)

Die Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaft mit der Soziologie wird stärker und stärker zu einer der theoretischen Grundaufgaben der historischen Disziplinen. Denn es ist nicht zu verkennen, daß die Soziologie durch neue Fragestellungen und neue Methoden unser Wissen um die geschichtlich gesellschaftliche Welt in vielfältiger Weise stetig bereichert, während auf der anderen Seite, ihrer spezifischen Problemstellung gegenüber, die Historie ihre eigenen Problemkonstellationen ebenso zu revidieren wie zu behaupten haben wird. Unter diesem Aspekt kommt der Auseinandersetzung Otto Hintzes mit der soziologischen Staatsidee Franz Oppenheimers eine besondere Bedeutung zu ( 1444). Hintze, der selbst in jahrzehntelanger Erforschung des Institutionellen an der Grenze von Historie und Soziologie behaust war, läßt seinen großen kritischen Auseinandersetzungen mit den Soziologien Max Webers, Schelers und Sombarts hier nun eine Gegenüberstellung der soziologischen und der geschichtlichen Staatsauffassung folgen. Er gibt einen kritischen Aufriß des Oppenheimerschen Systems, das ihm zum Anlaß einer Grenzziehung von geschichtlicher


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und soziologischer Staatsauffassung überhaupt wird. Wie Hintze die Hegelsche Staatsvergötzung, die Apotheose des Staates ablehnt, da sie ihm durch die weltgeschichtlichen Kämpfe der letzten Jahrzehnte zerstört erscheint, so lehnt er auch die Staatsverketzerung Oppenheimers ab, die Gewalt und Unrecht als den Ausgangspunkt aller Klassenscheidungen, aller Politik und Staatsbildung setzt. Aber er nimmt sie als Versuch einer idealtypischen Konstruktion des realen Machtstaates mit seiner charakteristischen Verbindung von imperialistischer Politik und sozialem Klassenkampf. Hintze prüft ihre systematischen Grundstrukturen, das Pseudogesetz der ursprünglichen Akkumulation, die Epochen der allgemeinen Verfassungsgeschichte, die Oppenheimer von der Entstehung des Klassenstaates durch Gewalt und Unterwerfung bis zur Aussicht auf die ihn überwindende und ersetzende »Frei-Bürgerschaft« führt. Der Reichtum, der in dieser Auseinandersetzung gewonnenen positiven und kritischen Ergebnisse kann hier nicht einmal angedeutet werden. Aber wenn die Geschichtswissenschaft daran gehen wird, und sie wird daran gehen müssen, von der breitesten Basis der sozialen und institutionellen Voraussetzungen das historische Weltbild neu zusammenzufügen, wird sie die Ergebnisse Hintzes in ihr Fundament mit einmauern müssen.

Einem spezielleren soziologisch historischen Thema ist die Untersuchung gewidmet, die Robert Michels über den Patriotismus vorlegt ( 1446). Er bezeichnet sie als Prolegomena zur soziologischen Analyse des Patriotismus. Aber es möchte uns scheinen, als wenn in den vier Kapiteln dieses geistreichen, glänzend geschriebenen und außerordentlich sorgfältig begründeten Buches bereits mehr als Vorstudien zu einer Analyse des Patriotismus gegeben sind. Die Untersuchung Michels kreist um den Mythos des Vaterlandes, den Mythos des Ursprungs und den Mythos der Mission, um Vaterlandsliebe und Heimatgefühl, sie bringt eine differenzierte Soziologie des Fremden und gipfelt in einer Soziologie des Nationalliedes. Was Michels hier mit dem Spürsinn mehr noch des Psychologen als des Soziologen über die nationale Ausdrucksfähigkeit der Musik, über musikalische Leistungen als Mittel zur nationalen Befreiung und zur nationalen Expansion sagt, ist ebenso neu wie überzeugend. Es ist gleichzeitig ein ausgezeichnetes Beispiel für die unmittelbare Bereicherungsmöglichkeit der Geschichtswissenschaft durch die Soziologie, die aus dieser Untersuchung zum erstenmal begreifen wird, welche Funktion die Musik in dem Prozeß der Nationalstaatsbildung sowohl Deutschlands wie Italiens, großartig repräsentiert durch Richard Wagner und Verdi, gespielt hat.

Gleichfalls auf einem Grenzgebiet, aber dem Grenzgebiet zwischen Geschichte und Philosophie, Historie und Ethik, bewegt sich die Arbeit Julius Binders über Staatsräson und Sittlichkeit ( 1448). Die Schrift Binders ist erwachsen in kritischer Auseinandersetzung mit Meineckes Idee der Staatsräson und über den Rahmen einer Rezension hinaus zur grundsätzlichen Aufrollung des Problems von Staatsräson und Sittlichkeit gediehen, das Binder, anders als Meinecke, nicht dualistisch auflösen will. Er negiert die von Meinecke statuierte tragische Zerrissenheit und Feindseligkeit von Ethos und Kratos, von Machtpolitik und Moralpolitik und setzt dem entgegen eine aus der Identitätsphilosophie Hegels gewonnene Einheit von individueller und öffentlicher, Privat- und Staatsmoral, vor der die Alternative Staatsräson oder Sittlichkeit ebenso ihren Sinn verliert wie die Entgegenstellung von Recht und


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Macht. Meinecke hat ihm gegenüber seinen Standpunkt präzisiert und festgehalten in seiner Idee der Staatsräson, die nunmehr in dritter durchgesehener Auflage vorliegt und in einer Replik (H. Z., Bd. 140, S. 565 ff.). Meinecke sieht in seinem Streit mit Binder den hundertjährigen Kampf Rankes und Hegels, philosophischer und historischer Betrachtung wieder aufflackern; er hält an der prinzipiellen Unversöhnlichkeit von Staatsräson und Sittlichkeit fest. Die Lösung des Problems scheint uns nach wie vor offen und jenseits beider, der dualistischen wie der monistisch-identitätsphilosophischen Position zu liegen.

Eine Fortführung, aber nach der gegenständlichen, nicht nach der formalphilosophischen Seite, der von Meinecke in seiner Idee der Staatsräson behandelten Probleme bringen die Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, die Adolf Menzel vorlegt ( 1445). Sie bieten freilich noch mehr, denn sie umfassen nicht nur die Staatslehre seit der Renaissance, sondern gleichzeitig die rechtsphilosophischen Doktrinen des Altertums, vor allem der griechischen Staatslehre, dazu Beiträge systematischer und prinzipieller Art und Auseinandersetzungen mit der modernen Staatslehre. Die meisten rechtsphilosophischen Schriften dieses vorzüglichen Kenners der rechts- und staatsphilosophischen Entwicklung dürften nunmehr in diesem Bande vereinigt sein. Die Studien zur griechischen Staatsphilosophie liegen hier außerhalb der Möglichkeit eingehender Würdigung. Um so nachdrücklicher weisen wir auf Menzels Beiträge zur Geschichte des Naturrechts, vor allem auf seine Spinozastudien hin, die zur Zeit das Gediegenste und Kenntnisreichste sind, was es in der weitschichtigen Spinozaliteratur überhaupt gibt. Auch auf das Verhältnis Spinozas zu Hobbes und auf Hobbes selbst fällt in diesem Zusammenhang neues Licht. Ausgezeichnet die Herausarbeitung dessen, was Hobbes und Spinoza trennt und verbindet; überaus eindrucksvoll auch die allerorten berücksichtigte Einwirkung der konkreten historischen Welt, des Zeitalters und des Staates, persönlicher Freunde und persönlicher Bedingnisse auf die Gestaltung der Staatslehre Spinozas. Die Untersuchungen Menzels greifen weit aus bis in die Nachwirkungen Spinozas, und so gewinnt auch Goethes Verhältnis zu Spinoza eine neue Bedeutung. Überraschend aber schlagend vermag Menzel den Zusammenhang der von Goethe in seiner Dissertation vertretenen Auffassung über das Verhältnis von Staat und Kirche zu den territorialistischen Grundanschauungen Spinozas nachzuweisen. Allerdings scheint uns Menzel hierbei die ja gleichfalls in territorialistischer Richtung laufenden Einwirkungen des Pietismus auf die Kirchenanschauungen Goethes zu vergessen oder jedenfalls zu unterschätzen. Es ist in diesem Rahmen unmöglich, wiederzugeben, wie Menzel in dem Teile seiner Abhandlung, der der neueren Staatslehre gewidmet ist, sich mit Max Scheler und Oppenheimer, mit Michels und Kelsen, mit Radbruch und Spann, mit Ihering, Giercke und Duguit fruchtbar auseinandersetzt, immer in lebendigem Verhältnis zu den dominierenden Grundfragen der Staatslehre, der Rechtsphilosophie und der Soziologie.

Es ist nicht leicht, von den konkreten, stoffgesättigten Darlegungen Menzels zu dem Buche Erich Hungers über Idee und Tradition des Föderalismus ( 1449) hinüberzufinden, das den fragwürdigsten Mischtypus einer soziologisch und historisch versetzten Betrachtung darstellt. Die Arbeit ist entstanden aus einer Anregung Alfred Webers, den Begriff und die soziologischen Grundlagen des Föderalismus neu zu durchdenken. Sie will zeigen, wie die Herausbildung


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der Führerschaft und des Adels bedingt war durch die Antithetik von Person und Reich. Zu diesem Behuf sucht sie die gesamte politische Entwicklung seit Karl dem Großen aufzurollen. Aber es ist fast unmöglich, zwischen den geistreichelnden Urteilen des Buches die Glieder zu finden, die sie verknüpfen. In buntem Durcheinander wird von dem Personalitätsprinzip in Island, vom Völkerbund, vom Reichsverband, vom Reichstag des alten Reiches und vom Föderalismus als Technik demokratischer Willensbildung gesprochen. Die soziologische Vorliebe für abstrakte Verunklärung konkreter Sachverhalte feiert Triumphe. Die Auswertung des vom Verfasser herangezogenen Materiales ist mehr als problematisch. Auch die Analyse des föderalistischen Charakters des alten Reiches, das als ein noch immer vernachlässigtes Stück mitteleuropäischer Geschichte heute wohl neues Interesse zu erregen vermöchte, wird niemand befriedigen oder auch nur anregen. Weder von der Idee noch von der Tradition des Föderalismus vermag das Buch Hungers klare Begriffe oder erfüllte Anschauungen zu vermitteln, und wir können nur ungeteilt dem Verdikt Dungerns beitreten (Hist. Ztschr. Bd. 141. S. 167), daß ein Wust von Urteilen ohne eigene Tatsachenforschung nur die Geschichte aufbläht, niemals aber zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Sonderform unserer Geschichte beitragen wird.

Aus der Luft jenes alten Reiches, das die Quelle aller föderalistischen Tradition war, stammt der Publizist Johann Christoph Becker, über dessen Lebensbereich und Wirksamkeit P. Wagner und A. Gerhardt in den nassauischen Annalen, Band 50, berichten. Becker war zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges Amtmann im Hessischen, ein über den Durchschnitt seiner Zeit gebildeter, universaler und humanistischer Kopf, dessen Bücherliste neben einem Werk über das Alte und Neue Testament, neben geographischen Werken und Gelegenheitsdichtungen auch einen pazifistischen Traktat über den lieben Frieden aufweist. Die Schrift, die im J. 1648 geschrieben ist, und der 1649 noch eine zweite Abhandlung folgte, stellt eine Mahnung an alle Stände des Reiches zum Frieden dar und schildert in beweglichen Worten die Schrecken des Krieges und die Vorzüge des Friedens. Becker ist kein absoluter Pazifist, er kennt ein bellum licitum. Sein Traktat ist im ganzen mehr der Ausdruck einer durch dreißig Jahre heraufgerufenen Kriegsmüdigkeit als einer grundsätzlichen Kriegsunwilligkeit, mehr als Stimmungsmoment denn als Gesinnungsmoment charakteristisch und ausdrucksvoll. Wie das 17. Jhd. geistesgeschichtlich ein Jahrhundert des Übergangs ist, in dem die kommenden rationalistischen Schlagworte schon vorklingen ohne bereits grundsätzlich formuliert zu sein, so zeigt auch dieser unbeholfene, unoriginelle, provinzielle deutsche Publizist, der noch völlig im Banne mittelalterlicher Kaisertradition und theologischer Geschichtskonstruktion lebt, bereits eine Vorahnung des heraufziehenden grundsätzlichen Pazifismus.

Stellt die Welt des hessischen Publizisten und Amtmanns ein versinkendes Zeitalter dar, so ist die Schrift Peter Klassens über die Grundlagen des aufgeklärten Despotismus ( 1468) gerade der Heraufkunft des neuen, des modernen, bureaukratisch absolutistischen Staatsgebildes gewidmet. Angeregt durch die Arbeiten Friedrich Wolters und bis in den Stil und die Sprache von seiner Persönlichkeit und seinem Lebenskreis bestimmt, untersucht Klassen die geistigen Voraussetzungen des aufgeklärten Despotismus. Der Titel des Werkes


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ist also nur so weit zutreffend, als er auf die theoretischen Grundlagen des aufgeklärten Absolutismus zielt. Klassen zeigt in einer sorgfältigen und kenntnisreichen Analyse, wie sich die Ideen der Herrschafts- und der Volkssouveränität entwickelten. Die Lösung des Herrschertums aus der Zweckeinheit des christlichen Lebens, wie sie das MA. beherrscht hat, gilt ihm als die grundlegende Voraussetzung für die Heraufkunft des Absolutismus. Überzeugend weist er den Zusammenhang der Volkssouveränitätsidee mit dem Gedanken des Widerstandsrechtes nach. Er geht der Umwandlung der Struktur der Volkheit durch Renaissance und Reformation nach, die die alten korporativen Einheiten individualistisch auflösten. Als Repräsentant des chaotischen und skeptischen Individualismus der Renaissance gilt ihm Montaigne, an dem Klassen das Verblassen der Lebenseinheitsidee demonstriert. An ihre Stelle tritt der neue Menschheitsbegriff, die Verlagerung aus der transzendenten in die immanente Beschaffenheit des Menschen, für die er Bayle zum Zeugen aufruft. Zwischen dem souveränen Einzelwillen und dem absoluten Staat schlägt die allgemeine Anthropologie der Aufklärung die Brücke, die die notwendige Verknüpfung der menschlichen Natur mit dem gesellschaftlichen Leben darstellt. Ihr größter Vertreter ist Thomasius. Mit ihm tritt das Königtum aus der göttlichen Hoheit, in die es die Theoretiker des 17. Jhds. gesetzt hatten, in den Bereich des Humanen herab und empfängt aus dem Dienst am Staat und an der Gesellschaft seine Rechtfertigung. Es ist ein geschlossener, in sich verbundener und sich bedingender Ideenzusammenhang, den Klassen aufweist. Bei der Ausmündung seiner Betrachtung in den Pflichtbegriff Friedrichs des Großen spürt man freilich, daß es doch nicht möglich ist, die Genesis des aufgeklärten Absolutismus von den konkreten Aufgaben, Zwecken und Absichten zu lösen, aus denen das reale Machtgebilde des absoluten Staates hervorgewachsen ist.

Einem Sonderproblem der absolutistischen Staatslehre ist die Untersuchung R. Lindemeyers über die Souveränität des Königs ( 1464) gewidmet. Diese Studie zu den Staatsanschauungen im Frankreich Richelieus, eine Berliner Dissertation, behandelt zwei der großen staatstheoretischen Publizisten Cardin le Bret und Charles Vialart: le Bret, der Verfasser eines Buches über die Souveränität des Königs, Vialart, Autor einer Geschichte des Ministeriums Richelieu. Die Souveränität des Königs ist das programmatische Schlagwort, unter dem man die Wirksamkeit Richelieus überhaupt zusammenfassen könnte. Lindemeyer zeigt, wie in der nüchternen und juristischen Theorie le Brets ebenso wie in der Geschichtsschreibung Vialarts diese Formel zu einer schneidigen Waffe wird im Kampf der französischen Monarchie um ihre Durchsetzung nach innengegenüber der Kirche, in der Frage der Beamtenernennung, bei allen Fragen der Gesetzgebung, in der Entscheidung über Standeserhöhung, über Krieg und Frieden, letztlich auch in der persönlichen Stellung des Monarchen -- wie auch nach außen in der Stellung und Weltgeltung Frankreichs im europäischen Staatensystem.

Über den Bahnbrecher der naturrechtlichen Methodik in Deutschland, über Samuel Pufendorf, handelt die Gießener Dissertation A. P. Wepplers ( 1465), die sich um eine anschauliche Darstellung der Persönlichkeit wie der Leistung Pufendorfs bemüht. Weppler gibt in lebendiger Gestaltung den Durchbruch des stürmischen Freimuts Pufendorfs durch den Luxus der geistlosen Gelehrsamkeit der deutschen Universitäten im Monzambanus und in den großen


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naturrechtlichen Werken. Er setzt dabei den Einfluß des Mathematikers und Cartesianers Erhard Weigel in Jena auf Pufendorf höher an, als man es bisher gewohnt war; wie er auch die Vorarbeiten Conrings für den Monzambanus um einige Grade positiver einschätzt, als es die Pufendorfforschung hinlänglich tut. Grundsätzlich zu kurz scheint mir in der Darstellung nur Pufendorfs Kirchentheorie zu kommen, deren prinzipielle Bedeutung innerhalb der Entwicklung der evangelischen Kirchenverfassung der Verfasser nicht in ihrer vollen Tragweite begriffen zu haben scheint. Grade sie ist aber für die deutsche Geistesgeschichte durch die Vermittlung von Thomasius von unerhörtem Einfluß und von einer kaum abzuschätzenden Reichweite gewesen.

Das Gedächtnis des Thomasius hat aus Anlaß der 200. Wiederkehr seines Todestages Max Fleischmann in einer schönen Gedenkrede erneuert, die Gestalt und Werk des Thomasius als Einheit faßt und darstellt. Fleischmann zeichnet den Kampf des Thomasius gegen die Scholastik der evangelischen Universitätstheologie, seinen Vorstoß in den deutschen Sprachraum, seine Verbindung mit dem Pietismus August Hermann Franckes, die Aufrüttelung der Geister durch die Popularisierung des Rationalismus und des Naturrechts, die durch ihn zum ersten Male die breitesten Massen der gelehrten Welt Deutschlands erfaßten. Er ersteht in dieser Rede vor uns als die durchaus aktive, reformatorische Figur, in der die Welt der profanen Aufklärung das Zeitalter der Glaubenskämpfe endgültig überwunden hat; kein aus Eigenem schöpferischer Denker, aber ein auf praktische Wirksamkeit und erzieherische Umgestaltung gerichteter tätiger Rationalist.

Wie Thomasius am Anfang so steht Kant am Ende des deutschen Rationalismus, Vollendung und Überwindung zugleich. Den Beziehungen, in denen der deutsche Staatsgedanke in seinen Hauptrichtungen zu Kant steht, widmet P. Kuranda ( 1470) eine besondere Untersuchung. Kuranda hebt zunächst hervor, was unmittelbar einleuchtet und ja auch genügsam bekannt war, die Bedeutung Kants für die großen Reformer, für Schön und Beyme, für Knesebeck und Staegemann, für Boyen und Kraus. Schwieriger schon ist die Abschätzung der Einwirkung Kants auf jene Denker, die stärker als den sittlichen Wert des Staates den Wert der nationalen Idee betont haben. Daß Kant von einer ganzen Reihe von ihnen in Anspruch genommen worden ist, wie er auch vom Sozialismus mit Beschlag belegt worden ist, spricht natürlich nicht ohne weiteres für die Richtigkeit einer solchen Ahnenreihe. Kuranda warnt, wie uns scheint, mit Recht davor, die Vorläuferrolle Kants im Verhältnis zur späteren Romantik zu überschätzen, ebenso wie er die einseitige Inanspruchnahme Kants durch den Sozialismus verwirft. Er kommt mit Borries dahin überein, daß man Kant nicht auf ein politisches Programm festlegen kann, aber auch er glaubt, daß die »Geistigkeit aller deutschen Politik« aus dem Reich der Idealphilosophie immer wieder Kräfte gesogen hat, welche auf Kant zurückweisen.

Zu den weitreichendsten Problemen der neueren Staatslehre gehört die Auseinandersetzung des Kontinents mit der englischen Verfassungsentwicklung. Man hat immer gewußt, welche Bedeutung die englische Verfassung für die theoretische Fixierung der Verfassungspostulate der liberalen und der konservativen Parteien gehabt hat. Erst kürzlich hat Theodor Wilhelm den Einfluß der englischen Verfassung auf den vormärzlichen Liberalismus dargetan. Es war ein fruchtbarer Gedanke von Erich Witte ( 1466), in seiner von Brandenburg


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angeregten Dissertation diese Linie zurückzuverfolgen und zu fragen, wie die englische Staatsverfassung im Urteil des 18. Jhds. dasteht. Die Schrift Wittes verfährt leider allzu schematisch für eine befriedigende geistesgeschichtliche Erhellung dieser Aufgabe. Sie stellt stoffreich und belesen Urteil hinter Urteil und gibt also mehr eine Materialsammlung für eine ideengeschichtliche Darstellung als diese selbst. In zwei große Gruppen zerfallen die Charakterisierungen der englischen Verfassung im 18. Jhd.: in eine naturrechtlich aufklärerische und in eine historisch individuelle. Zu dieser gehören nur Friedrich, Möser und Herder, nur sie haben konkrete Züge der englischen Verfassungsphysiognomie aufzufangen verstanden. Kant und Haller, Schlözer und Spittler, K. F. Moser und der junge Gentz hingegen übernehmen die von Locke und Montesquieu geschaffene Verklärung der englischen Verfassung nach dem Schema der Gewaltenteilung und preisen sie als Vorbild aufgeklärter Staatseinrichtung. Von hier führt die Linie zu den deutschen Liberalen des Vormärz, denen die englische Verfassung die Summe aller politischen Weisheit ist. Daneben gibt es freilich auch aufgeklärte Absolutisten wie Wieland und Hertzberg, Justi und Weckhrlin und radikale Demokraten, die die englische Verfassung als nicht rationalistisch genug verwerfen. Im ganzen ist es doch noch ein sehr verschwommenes Bild, größtenteils auf Reiseberichten und auf Schilderungen fremder Zustände in den Journalen beruhend, nach dem die englische Verfassung beurteilt wird. Erst Vinckes Buch über die englische Verwaltung hat einer lebendigeren Betrachtung Bahn gebrochen. Damit wird von neuem die Dringlichkeit der Aufgabe erhärtet, die Gesamtauswirkung der englischen Verfassung in Deutschland zur Darstellung zu bringen.

Die Fäden, die den deutschen Nationalstaatsgedanken mit dem 18. Jhd. verknüpfen, untersucht auf einem andern Gebiet A. Berney in einem lehrreichen Aufsatz über Reichstradition und Nationalstaatsgedanke von 1789 bis 1815 ( 1471 a). Er wirft die grundsätzliche und bedeutsame Frage auf, in welcher Form und in welchem Maß das alte Reich im Untergange die neu sich bildende nationalstaatliche Bewegung bestimmt hat. In einer außerordentlich stoffreichen Analyse bringt er Zeugnisse für den Reichspatriotismus der mittleren und kleineren Stände aus West- und Süddeutschland, erweist er den Ursprung des romantischen Mythos von Kaiser und Reich, die erneute Zusammenfassung der alten Formel, die im 18. Jhd. nur noch einen Dualismus feindlicher Interessen ausgedrückt hatte. Er geht der Reichstradition in der Göttinger Juristenschule und bei den Publizisten nach und zeigt, wie stark bei Stein und Gagern die Auswirkungen der Reichstradition in das neue Jahrhundert hinein noch gewesen sind. Auch von der Bedeutung des alten Reiches für die große politische Konzeption Metternichs hätte man in diesem Rahmen sprechen können. Es scheint uns hier ein bedeutsamer Ansatz gemacht zu sein, die Darstellung der Reichsgeschichte aus der konventionellen Verachtung zu befreien und sie dem Gesamtbilde der deutschen Geschichte tiefer und gültiger einzugliedern.

Die Reichstradition wirkte als politische Idee in dem Element der öffentlichen Meinung mehr als in den Kombinationen der Staatsmänner. Der Funktion, der die öffentliche Meinung bei dreien der großen Reformer zukommt, bei Stein, Arndt und Humboldt, ist Ruth Flad in einer selbständigen Studie zur politischen Begriffsbildung in Deutschland während der Reformzeit nachgegangen ( 1472). Die von Joachimsen angeregte Arbeit untersucht in ihrem ersten


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Teil mit den Mitteln gediegener philologischer Forschung die besondere Bedeutung, die dem Begriff der öffentlichen Meinung, der Volksmeinung als der »Stimme der Wahrheit, welche zum Thron dringt«, bei Stein, bei Arndt und Humboldt zukommt. Für die gesamte Reform, die den Staat versittlichen, den Bürger zur unmittelbaren Teilnahme an der Wirksamkeit des Staates erziehen wollte, hatte der Begriff der öffentlichen Meinung eine Funktion, die er im absolutistischen Staat nicht besitzen konnte, die er aber auch für die politische Romantik nicht besaß. Ruth Flad verfolgt den schillernden Sinnwandel des Wortes bei Stein, Arndt und Humboldt zuweilen bis zur Verwirrung der Leser. Am fernsten steht dem Begriff bezeichnenderweise der größte Individualist unter ihnen, Humboldt, während für Arndt und Stein öffentlicher Geist und öffentliche Meinung auch nach 1815, nach dem Zusammenbruch des nationalen Aufschwungs ihre beflügelnde, langsam oder feurig umgestaltende Wirksamkeit behalten. Öffentliche Meinung ist für Stein, Arndt und Humboldt zunächst ein Wunschbild, auch das entsprach dem Wesen der Reform, eine Vorstellung von etwas, das werden soll, nicht von etwas, das ist. Im zweiten Teil ihres Werkes stellt Ruth Flad den Begriff der öffentlichen Meinung in seiner systematischen Bedeutung dar. Sie untersucht, welche Träger Stein, Arndt und Humboldt für die öffentliche Meinung benennen, die Organisation der öffentlichen Meinung im Staate, den Versuch, sie konstitutionell zu erfassen, ihre ethisch politische Doppelaufgabe zwischen politischer Aktivität und privater Passivität. Sie führt das bis in die Einzelheiten der Verfassungsentwürfe der drei großen Männer durch, auch hier der Gefahr einer überreichlichen Ausbreitung des Materials nicht immer entgehend.

Es ist aufschlußreich, mit dem Begriff der öffentlichen Meinung bei den Reformern die Arbeit Andreas Müllers über die Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der Revolution zu vergleichen, die die von Gooch, Haßhagen und Stern begonnen Untersuchung der Einwirkungen der französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben fortsetzt ( 1471). Müller stellt zunächst die Einwirkungen der französischen Revolution auf das gesamtdeutsche Geistesleben dar, den anfänglichen Enthusiasmus, den sie auslöste, der über die erste Ernüchterung sehr rasch zur Überwindung, zur Abkehr und schließlich zur Bekämpfung der Revolution, zur Entgegensetzung eines neuen Staatsgedankens gegen den revolutionären führt. Die Untersuchung Müllers reicht bis an den Ausgang der Romantik in den dreißiger Jahren, bis zu dem Wiener und Münchner romantischen Kreis, ja bis zu den politischen Phantasmen der Bettina. Neues jenseits des oft geschilderten Prozesses vermag er nicht zu sagen, schon deswegen nicht, weil er ganz im Dogmengeschichtlichen steckenbleibt und nur Urteil auf Urteil folgen läßt, statt die Umwandlung der Anschauungen der französischen Revolution in der Romantik im Spiel und Widerspiel der realen Kräfte zu zeichnen.

Die Romantikforschung ist nach dem starken Aufschwung, den sie dank der großen synthetischen Darstellungen Josef Nadlers und Carl Schmitts, Othmar Spanns und Gundolfs genommen hatte, heute wieder erlahmt und in die positivistische Einzelerforschung zurückgesunken. An wenigen Erscheinungen spürt man das so sehr wie an der heftig umstrittenen Gestalt Adam Müllers. Noch immer ist die Zahl der ihm gewidmeten Untersuchungen beträchtlich. Aber noch immer ist das Phänomen nicht in seiner Ganzheit erschaut, das Fragwürdige


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und das Wesentliche nicht gesondert, Dunkelheit und Helle nicht richtig aufgeteilt, kurz, das Gesamtverständnis und damit auch die Gesamtwürdigung fehlt. Besonders deutlich wird das, wenn man die beiden Arbeiten betrachtet, die der verdienstvolle Erforscher der Lebensumstände Adam Müllers, der Spannschüler Jakob Baxa aus Anlaß des hundertsten Todestages Adam Müllers vorlegt ( 1475). Die Müller gewidmete Gedächtnisschrift setzt es sich zur Aufgabe, seine Stellung innerhalb der Philosophie, der Ästhetik und der Staatswissenschaften darzulegen. Dem entsprechend gibt Baxa einen kurzen Abriß der Lehre vom Gegensatz, schildert die Antithese von Begriff und Idee, die Rolle des Organismusgedankens und schließlich Müllers Wendung zur Theologie. Müllers ästhetische Theoreme, die den zweiten Teil der Gedächtnisschrift füllen, sind sehr viel lockerer und unzusammenhängender als seine philosophischen Grundanschauungen. Wir glauben darum nicht, daß man mit Recht von einer Theorie des Dramas oder von einer Lehre vom Schönen bei Müller sprechen kann. Sein Bestes liegt in der Literarkritik, in seinem intuitiven Verständnis für Kleist und Goethe, für Novalis und Shakespeare. Der dritte Teil der Schrift schließlich, die Staatswissenschaften, führt in Müllers Idee des Staates, seine Wirtschaftslehre, seine Sozialkritik, seine positiven wirtschaftlichen Theorien aus der Fülle der gründlichsten Kenntnisse ein. Das alles jedoch bleibt im Bereich gediegener aber trockener Stoffanhäufung, wie auch die zweite Schrift, die Baxa Müller gewidmet hat, mehr der biographischen Tatsachenbereicherung als der Vertiefung der Erkenntnis in Müllers Sein und Werk dient.

Wesentlich kritischer als Baxa steht Reinhold Aris dem Phänomen Adam Müller gegenüber. Er beschäftigt sich ausschließlich mit der Staatslehre Müllers in ihrem Verhältnis zur deutschen Romantik ( 1474). Aris will die Staatslehre Adam Müllers in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang rücken, aus dem heraus sie seiner Auffassung nach allein verstanden werden kann, in den Zusammenhang der Romantik. Er hält sich dabei sowohl von den Einseitigkeiten Carl Schmitts wie von denen Spanns frei. Sein Ziel ist ein wesentlich deskriptives; es kommt ihm nicht so sehr darauf an, zu Müllers Anschauungen Stellung zu nehmen als diese ordnend zu interpretieren. Allerdings geht er von vorherein mit einem gewissen juristisch logischen Apriori an die Staatstheorie heran, da für ihn nur diejenige Staatstheorie wissenschaftlichen Wert besitzt, welche, nach einem Worte Jellineks, Erkenntnis der Erscheinung des Staates nach allen Richtungen seines Daseins hin vermitteln kann. Seine deskriptiven Absichten erfüllt Aris ohne Frage korrekt und gründlich; er hebt die Müllersche Staatslehre aus der rhetorischen Ornamentik so klar hervor, wie es nur immer möglich ist. Das Verhältnis von Staat und Recht, das Verhältnis von Staat und Religion, die Frage der Staatsform, Müllers Stellung zum Naturrecht, zum Organismusbegriff, dies alles arbeitet Aris klar und sorgfältig heraus, ohne unser Bild der Staatslehre Müllers wesentlich zu bereichern. Für seine kritischen Vorbehalte gegenüber den mancherlei Verschwommenheiten und Verstiegenheiten Müllers haben wir volles Verständnis. Wenn er aber am Schluß die Folgerung zieht, daß wir es bei Müller mit einer Staatslehre ohne Staat zu tun haben, und Müller vorwirft, daß er mit einem Staatsideal operiere, über dessen Struktur er keine befriedigende Auskunft zu geben vermag, so hat ihn hier das juristische Apriori voreingenommen gemacht gegen die konkreten


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Erkenntnisse, die ihre Fruchtbarkeit in der Fortwirkung auf Ranke zur Genüge erwiesen haben. Der Eindruck der ganzen Adam Müller-Literatur ist heute der, daß eine fruchtbare Förderung nicht mehr auf dem Wege der Spezialuntersuchung liegt, sondern daß man das Problem dieses Mannes nun als Ganzes in Angriff nehmen muß, und zwar von jeder Seite, der psychologischen wie der ideengeschichtlichen, der Einordnung in die Zusammenhänge der konkreten Politik wie der Einordnung in die Gesamtgeistesgeschichte des klassisch romantischen Zeitalters, frei von jeder Vergötterung, aber auch frei von jeder Verteufelung.

Das Interesse, das der andere konservative Theoretiker der Restaurationszeit, Müllers Kampfgenosse Karl Ludwig von Haller, gefunden hat, war immer sehr viel geringer. Er ist ja sowohl menschlich der einfachere, wie er auch geistig der plumpere und primitivere ist. Sein Bild liegt in den Grundzügen fest, und es wird auch durch die neue gediegene und kenntnisreiche Untersuchung nicht verrückt, die W. H. von Sonntag der Staatsauffassung Hallers, ihrer metaphysischen Grundlegung und ihrer politischen Formung gewidmet hat ( 1473). Der Verfasser versucht die Lehre Hallers samt ihren politischen Konsequenzen zu deuten, sie nicht mehr als reine Theorie zu betrachten, sondern philosophische und politische Tragweite in eins zu sehen. Er erarbeitet von dem Persönlichkeitsproblem aus die weltanschauliche Position Hallers, für den das Individuum, und zwar das starke, mächtige, freie Individuum gegeben, die Gesellschaft dagegen höchstens »aufgegeben« ist. Dieses Individuum ist allerdings keine romantische Persönlichkeit, sondern ein reines Naturwesen, von dessen Ausstrahlungen und Beschränkungen her die politische Ordnung bei Haller konzipiert ist. Auch für Sonntag ist Haller der Rationalist unter den konterrevolutionären Schriftstellern, als den ihn schon Stahl gekennzeichnet hat, der trotz seines Katholizismus dem Deismus der Aufklärung nahesteht. Die Analyse der rechtsphilosophischen Grundlagen und der politischen Theorien, die Sonntag gibt, vertieft das Bild, das wir von den Staatsanschauungen Hallers haben, ohne es von Grund aus zu verwandeln. Hervorgehoben sei, daß auch dies auf Macht aufgebaute Theorem zwischen natürlicher Macht (potentia) und schädlicher Gewalt (vis) unterscheidet. Potentia entspricht dabei der Herrschaft, welche die Natur gibt, vis entsteht aus ihrem Mißbrauch, einer menschlichen Schuld. Auf die politische Praxis angewendet konnte seine Theorie, wie der Verfasser sagt, nur die negative Bedeutung haben, den »nicht revolutionären Staat« zu fordern, und gerade dadurch konnte sie der feudalistischen Reaktion zum Sprungbrett dienen.

Der Kreis des Berliner Politischen Wochenblattes, in dem die Lehre Hallers ihre bedeutsamste Fortsetzung und ihre machtvollste Auswirkung gefunden hat, bildet den Gegenstand der Jenenser Dissertation A. Bischlagers ( 1478). Die politische Doktrin des Wochenblattes ist in ihren Grundzügen verhältnismäßig durchsichtig und da sie oft genug dargestellt worden ist, liegt die Frage nahe, ob eine erneute Untersuchung gerechtfertigt ist. Für die vorliegende Untersuchung möchte ich diese Berechtigung behaupten, da es ihr gelingt, die Prinzipien des Berliner Politischen Wochenblattes mit großer Klarheit herauszustellen. Zwei Grundgedanken sind es, auf denen Bischlager das Gebäude dieser preußischen Reaktion beruhen sieht: die religiöse Wahrheit der Offenbarung und die historische Abspielung der Gebote Gottes im Recht. Von hier


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aus entwickelt er jene eigentümliche Spielart des Hallerschen Agrarkonservatismus, wie ihn das Berliner Politische Wochenblatt ausgebildet hat: die Grundherrschaft als die Urform des Staates, die Auffassung des Fürsten als Grund- und Lehnsherrn, jenen besonderen Rechtsbegriff, in dem es ein Fürstenrecht und ein Untertanenrecht gab, in dem jeder in seiner Rechtssphäre unverletzlich und unbeschränkt sein sollte, schließlich die problematische Identifikation von Christentum und Recht. Der Verfasser leitet aus diesen Grundüberzeugungen das Verhältnis des christlich germanischen Kreises zum Gesamtstaatsproblem her, den Wunsch der Feudalreaktion, den Staat in eine Summe von Herrschaften aufzulösen, den ständischen Verfassungsbegriff, die Steuertheorien und den Korporationsgedanken des Berliner Politischen Wochenblattes. Er sieht ganz richtig, wie die Distanzierung zur Bourgeoisie dem Agraradel die Augen geöffnet hat für die Schrecknisse und Fährnisse der heraufziehenden industriellen Entwicklung, wie aber seine Auskünfte nur retardierend waren, ohnmächtige Versuche (mit Hegel zu reden), brandige Glieder mit Lavendel zu heilen. Bischlager betont die Überkonfessionalität der geistigen Grundhaltung des Berliner Politischen Wochenblattes bei grundsätzlicher und vorausgesetzter Christlichkeit. Man weiß, wie die politische Übereinstimmung von Katholiken und Protestanten des christlich germanischen Kreises am Kölner Kirchenstreit aufsplitterte. Den Beziehungen, die zwischen dem preußischen Altkonservatismus und dem politischen Katholizismus bestanden haben, ist Alfred von Martin in einer besonderen Abhandlung nachgegangen ( 1481). Er setzt damit die von ihm vor Jahren in der Festschrift für Meinecke begonnene Untersuchung der geistigen Welt des Altkonservatismus in instruktiver Weise fort. Die Gemeinsamkeiten, aber auch die Spannungen zwischen dem preußischen Altkonservatismus und dem politischen Katholizismus, wie sie sich anfangs suchen ließen und schließlich doch trennten, stellt Martin eindrucksvoll und überzeugend heraus. Eine bisher vernachlässigte Gestalt aus dem Kreise der christlich germanischen Tischgesellschaft, Wilhelm von Gerlach, stellt W. Rupprich ( 1482) in seinen Beziehungen zur deutschen Romantik dar. Wilhelm von Gerlach, ein Bruder der berühmteren Leopold und Ludwig, war Jurist und ist als hoher Richter 1834 früh gestorben. Auch er hat wie Leopold und Ludwig der christlich deutschen Tischgesellschaft und später der Maikäferei angehört, war mit Runge und Brentano, mit Caspar David Friedrich und Olivier befreundet. Nach Wien weisen die geistigen und persönlichen Verbindungen Wilhelm von Gerlachs stärker als die seiner beiden anderen Brüder. Der Aufsatz Rupprichs erschöpft sich denn auch ziemlich in dem Nachweis der menschlichen Beziehungen, die zwischen ihm und der Wiener Romantik bestanden haben und gleitet etwas ins Personalgeschichtliche ab.

Zur Geschichte der Restauration erhalten wir ein neues und großartiges Quellenwerk in den Briefen Savignys, die Adolf Stoll ( 2063) herausgegeben hat. Mit unermüdlichem Fleiß hat Stoll seine Lebensaufgabe daran gesetzt, diese Briefsammlung zustandezubringen, deren Abschluß um so bemerkenswerter ist, als der Savignysche Familiennachlaß nach wie vor verschlossen ist und auch diesem Forscher nicht zugänglich war. So stammt der größte Teil der Briefe aus privatem Besitz, und es ist einzig dem unermüdlichen Eifer des verdienstvollen Mannes zu danken, daß wir endlich dieses große biographische Werk unser eigen nennen können. Der erste Band der Briefe umfaßt die Jugend Savignys,


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seine Kinderjahre, die Marburger und Landshuter Zeit, im ganzen 217 Briefe aus den Jahren 1792--1810. Er führt bis zur Berufung nach Berlin. Der zweite Band enthält die erste Epoche seiner Berliner Wirksamkeit von 1810--42. Savigny war kein talent épistolaire. Die an das Objekt hingegebene und auf das Objekt gerichtete Tendenz der historischen Schule tritt auch darin hervor, daß es ihn in den Briefen selten zur persönlichen Mitteilung, zum intimen Bekenntnis drängt. So atmet die edle, geschlossene, unbeirrte, irenische Persönlichkeit des Mannes fast mehr hinter als in diesen Briefen. Aber gerade dadurch sind sie als Spiegel der Epoche eine unersetzliche Fundgrube für das gesamte Zeitalter. Der Herausgeber hat dem Werk einen vorzüglichen Begleittext und eine ebenso ausgezeichnete fortlaufende Kommentierung beigegeben, die es erlaubt, dem Reichtum der zutage tretenden Beziehungen, der Mannigfaltigkeit der berührten Kreise mit Leichtigkeit nachzugehen. Wir können Savigny durch seine Studentenjahre, durch die Marburger Dozentenzeit begleiten, wir können vor allem jetzt ermessen, welche Bedeutung der Landshuter Aufenthalt für sein inneres Wachstum und damit für die Konstituierung der historischen Schule gehabt hat. Die Forschungen Funks über die Landshuter Romantik werden durch diese Briefe aufs schönste bestätigt. Der Kreis, in dem Savigny lebt und webt, ist bei aller Ausweitung des geistigen Horizontes doch unverkennbar ein akademischer gewesen. Und er ist es noch mehr geworden in den Jahren seiner Berliner Tätigkeit. Im Mittelpunkte des zweiten Bandes steht daher die Universität Berlin mit den Gegensätzen, die sie bewegten, in die Savigny durch seinen Konflikt mit Gans und der Hegelschen Schule ja selbst verstrickt war. Das Grundsätzliche, die persönliche Äußerung zu den ästhetischen, politischen und religiösen Fragen tritt zurück hinter dem weit gezogenen Kreise akademischer Aufgaben und akademischer Verbindungen, die dieser Diplomat mit Virtuosität zu beherrschen versteht. Aber wo sie gelegentlich durchbrechen, sind sie schlagend und großartig zugleich, bezeugen sie die Ruhe und Selbstsicherheit eines in sich gefestigten Geistes, eines völlig ausgeglichenen Charakters, der von seinem archimedischen Punkt aus die Dinge mißt und zu ihnen Stellung nimmt. Der Herausgeber ist nach der Vollendung des zweiten Bandes gestorben. Es steht zu wünschen, daß der abschließende dritte Band, den sein Sohn vorbereitet, das großartige Werk zu einem seines Gegenstandes würdigen Ende bringt.

Einen Staatsdenker, der gleichfalls der romantischen Ideenwelt verbunden war, ohne in ihr beschlossen zu sein, Friedrich Jakob Schmitthenner, stellt Hans Henkel in einer von Friedrich Lenz angeregten Dissertation dar ( 1479). Schmitthenner, am Ende des 18. Jhds. geboren, in Hessen aufgewachsen, war erst Rektor in Idstein, dann Professor der Geschichte und Staatswissenschaften in Gießen. Unter seinen zahlreichen Schriften, zu denen auch philosophische und dichterische Versuche zählen, ragt ein unvollendet gebliebenes Hauptwerk über den Staat hervor. Er ist der Romantik und ihrer historischen Denkweise, vor allem Schelling und Müller tief verpflichtet; daneben laufen aber auch Fäden, die ihn mit dem Liberalismus und Hegel verbinden. Er darf sich rühmen, früh im Widerspruch zu der klassischen Nationalökonomie gestanden zu haben und an dem Postulat des unbeschränkten Konkurrenzkampfs leidenschaftliche Sozialkritik geübt zu haben. Originalität im systematischen Erfassen der geschichtlich gesellschaftlichen Welt wird man ihm kaum nachsagen


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können. Sein Lehrgebäude ist ein Sammelbecken der verschiedensten Geistesströmungen gewesen, die die Zeit bewegt haben, die er mehr mit der Geschicklichkeit des Eklektikers als mit der Kraft des Systematikers zu vereinigen wußte. Was ihm zur wahren Größe des schöpferischen Geistes fehlt, zeigt der Verfasser in einem Vergleich mit Friedrich List. Schmitthenner blieb in der Enge des hessischen Territorialstaates beschlossen, womit ihm zeitliche und örtliche Grenzen der Auswirkung gezogen waren. Er hat nicht vermocht, diese Schranken zu überschwingen, und die Kraft seiner Ideen war nicht groß genug, um über die Grenzen des hessischen Territorialstaates hinauszudringen. So hat Friedrich Lenz in Schmitthenner mit Recht einen Repräsentanten jener am klassischen Geiste genährten Staatswissenschaft sehen können, deren Schicksal es war, in Theoremen stecken zu bleiben und »statt einen Nationalkörper zu beleben, den Friedhof einer Dogmen- und Literaturgeschichte füllen zu müssen«.

Zur Geschichte des Frühliberalismus bietet einen weiteren Beitrag die Studie Hans Zehntners über das Staatslexikon von Rotteck und Welcker ( 1477). Die besondere Bedeutung, die dies Staatslexikon als Bibel des vormärzlichen, südwestdeutschen Liberalismus gehabt hat, rechtfertigt an sich schon eine gesonderte Untersuchung auch über das hinaus, was Karl Wild in seinem Buche über Welcker davon hat sagen können. Die Studie Zehntners ist besonders interessant durch den Aufweis der Genesis des Staatslexikons. Der Plan nämlich ist nicht, wie man bisher annahm, im Geiste der Autoren entstanden, deren Namen es trägt, sondern im Kopfe von Friedrich List. Rotteck und Welcker wurden von List und dem Verlagsbuchhändler gewählt, weil sie als Führer der liberalen badischen Opposition dem Unternehmen von vornherein eine gewisse Geltung sichern konnten. Geplant war von List ein »Handbuch für Staatsmänner aller Grade und Fächer, Mitglieder der Ständeversammlungen, Gutsbesitzer, Rentierer, Kaufleute, Fabrikanten und für Gebildete aller Stände«, das »die politische Wissenschaft zum Gemeingut des deutschen Publikums machen sollte«. Rotteck freilich hat von vornherein andere Zielsetzungen gehabt als List. Er war der eingeschworene Vernunftrechtler, dessen wesentlich innenpolitische Zielsetzung sich mit den großen nationalen Plänen Friedrich Lists nicht deckten. Und als zu den sachlichen Differenzen noch persönliche Unstimmigkeiten Lists mit Welcker traten, ist es zum Bruch gekommen, der List zu einem einflußlosen Mitarbeiter am Staatslexikon herabdrückte. Gegenüber dieser wichtigen Feststellung treten die übrigen Teile der ausgezeichneten Studie, die den Mitarbeitern des Lexikons, seiner Stoffbewältigung, seiner Doktrin und der Bedeutung des Staatslexikons für das politische Leben des Vormärz gewidmet sind, an Interesse naturgemäß ein wenig zurück. Beigegeben ist der Abhandlung noch der Entwurf Lists für das Artikelverzeichnis, sein Programmentwurf sowie Teile der Korrespondenz Lists mit den Herausgebern; auch sie Beiträge zu der tragischen Biographie dieses großartigen und erschütternden Lebens, dem es bestimmt war, sich im Planen zu verzehren.

In den Bereich des Liberalismus fällt endlich noch die Studie, die Emil Gerber dem staatstheoretischen Begriff der Repräsentation in Deutschland zwischen dem Wiener Kongreß und der Märzrevolution gewidmet hat ( 1480). Die Arbeit Gerbers ist in ihrer staatsrechtlichen Grundhaltung bestimmt durch die Idee der Repräsentation, die Carl Schmitt am prägnantesten in seiner


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Schrift über römischen Katholizismus und politische Form ausgesprochen hat, eine Idee der Repräsentation, die auf der Hierarchie der Werte, auf Autorität und ordnender Kraft basiert ist, eine von vornherein antiliberale Idee der Repräsentation. Die Absicht des Verfassers geht dahin, zu zeigen, was in staatsrechtlicher Beziehung in Deutschland zwischen dem Wiener Kongreß und der Märzrevolution unter Repräsentation verstanden worden ist: den Kampf darzustellen, der um die verschiedene Interpretation dieses Wortes geführt worden ist: im wesentlichen also: den Streit aufzurollen zwischen der konstitutionell liberalen Auffassung und der landständischen Auffassung, die Friedrich Gentz vertreten hat. Die Lehre Friedrich Julius Stahls läßt er ausdrücklich unberücksichtigt, obwohl gerade sie in ihrer besonderen Verbindung des monarchischen Prinzips mit dem Repräsentativsystem die Zukunft für sich hatte. Er kommt durch diese Ausschaltung zur Gegenüberstellung von zwei klaren Typen, bei denen Repräsentation jedesmal etwas ganz anderes bedeutet, und verfolgt diesen verschiedenen Begriff der Repräsentation durch die verfassungsrechtlichen Einzelheiten der Wahlbestimmung, des Gesetzgebungsrechtes, des Steuerrechts usf. Lehrreich ist, wie groß doch auch im Lager der liberal konstitutionellen Theorie die Unterschiede im einzelnen noch waren, wie verschieden Sinn und Umfang der Repräsentation gedeutet werden konnten. Problematisch erscheint es, wenn der Verfasser behauptet, daß nach konservativer Lehre das monarchische Prinzip das Repräsentativsystem ausgeschlossen hätte. Das gilt nur für eine bestimmte Filiation des Altkonservatismus vor 1848 und gar nicht mehr für den Konservatismus nach der Revolution, der sich wohl oder übel mit dem Prinzip der Repräsentation hat abfinden müssen. Die Ausschließung Stahls aus der Darstellung verführt zu einer allzu reinlichen Aufteilung der Fronten, da er gerade diejenige Figur ist, die zwischen dem vormärzlichen und dem späteren Konservatismus das Bindeglied darstellt.

Zu den Denkern, die aus den Reihen des Liberalismus heraus in die Kampflinie der Demokratie herübergetreten sind, gehört Gervinus. Hans Rosenberg gibt zur Geistesgeschichte der deutschen Demokratie einen Beitrag, den er »Gervinus und die deutsche Republik« nennt. Er würdigt Gervinus als den ersten Vertreter jener Generation politischer Historiker, die die Aktivierung des deutschen Staats- und Nationalbewußtseins vollbracht haben. Seine großen Leistungen sieht er in der Geschichte des 19. Jhds. mit ihrem Verständnis für das Anwachsen der kollektiven Kräfte und in der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, auf die ein so aristokratischer Geist wie Rudolf Borchardt noch vor kurzem mit dem Ausdruck der persönlichsten Verpflichtung und des persönlichsten Dankes die Blicke gelenkt hat. So volles Verständnis wir für den Wunsch Rosenbergs tragen, die verkannte Figur Gervinus in das ihr gebührende Licht zu rücken, so wenig können wir ihm in dem Versuch beipflichten, der deutschen Republik hier eine Ahnentafel zu errichten. Hajo Holborn hat kürzlich von dem Bedenklichen und Komischen der Bemühungen gesprochen, der deutschen Republik eine literarische Siegesallee zu errichten, und es scheint uns, als ob dies Urteil auch für Rosenbergs Versuch gilt. Ist es wirklich ein Ruhm, den zänkischen, verkauzten, resignierten, alten Gervinus, der grollend und ohne Verständnis das Ereignis der Bismarckschen Reichsgründung an sich vorübergehen ließ, den Rosenberg selbst als ein Gemisch von politischem Spießbürgertum und genialem Weitblick charakterisiert, zum Propheten


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der deutschen Republik zu machen? Und ist es an der Zeit, von dem Bismarckschen Reich im Ton der Überlegenheit als einer Zwischenlösung zu sprechen angesichts innerer und äußerer Katastrophen, die es niemand mehr gestatten, den endgültigen Charakter unserer gegenwärtigen Staatsgestaltung zu behaupten?

Gervinus' Demokratismus entstammt einem desillusionierten Liberalismus. Seine Kritik schmeckt nach enttäuschter Hoffnung, Verbitterung und Ressentiment. Unendlich viel tiefer begründet war der Gegensatz, in dem sich Konstantin Frantz zum Bismarckschen Reich befunden hat. Seine Feindschaft und Fremdheit gegenüber der kleindeutschen Lösung, seine Kritik des Staatsabsolutismus beruhen auf einem in sich geschlossenen Ideengefüge, und viel eher kann er als irgendein anderer zum Propheten und Verkünder einer aus dem einzelstaatlichen Egoismus hinausschreitenden Weltepoche erhoben werden, die den Föderalismus zum Organisationsprinzip machen will. Den Staatsideen des Konstantin Frantz ist Max Häne in einer eingehenden, detaillierten Darstellung nachgegangen ( 1483). Die letzten Jahre haben eine Reihe von Studien über die Theorien Konstantin Frantz' gebracht, von denen diese die beste genannt werden darf. Eine kurze Einleitung berichtet über die Geschichte seiner Wirkung oder wahrer von der Nichtwirkung dieses »vergessenen Zukünftigen«. Den Hauptbestand bildet die Analyse seiner Staatslehre, seine Kritik der gesamten neueren Staatstheorien, sein Versuch, eine politische Naturlehre zu schaffen, die ihn soziologischen und positivistischen Einflüssen zugänglich gemacht hat, ohne daß er einer staatsbiologischen Auffassung verfallen wäre. Der ursprünglichste und tiefste Trakt im Gebäude der Ideenlehre Konstantin Frantz' ist ohne Frage sein Föderalismus. Und in der Darstellung des Föderalismus tut auch der Verfasser sein Bestes. Er zeigt, wie für Frantz der Föderalismus das synthetische Prinzip ist, das Prinzip der »Bundschaft«, das in gleicher Weise auf religiöse, sittliche und politische Verhältnisse Anwendung findet. Der Föderalismus ist für Frantz ein ursprünglich germanisches Prinzip, das die Parteiherrschaft des parlamentarischen Staates überwinden, das in dem Gegensatz von Staat und Kirche, von Staat und Gesellschaft ausgleichend und befreiend wirken soll, die Lösung des Rätsels, das das große Geheimnis der Kommunion, Glaube und Wissen, Himmel und Erde, Gemeinschaft und Individualität verbindet. Wie skeptisch man solchem Universalheilmittel auch gegenüber stehen mag, jedenfalls wird man Frantz zugestehen müssen, daß er mit dem Prinzip des Föderalismus sich Zugang verschafft hat zu einem Gebiet, das in der ganzen deutschen Staatslehre vernachlässigt worden ist, dem Prinzip des Völkerrechts. Der Föderalismus schafft für Frantz den Übergang zwischen Staats- und Völkerrecht. Es ist in Frantz ein Nachklingen der alten universalen Tendenzen des Imperiums, wie er auch bewußt an die Reichsidee angeknüpft hat. Das hat ihn in seinen Gegensatz hineingetrieben zu der Bismarckschen Lösung, in der er ein Heraustreten aus einer tausendjährigen Entwicklung gesehen hat, ein revolutionäres Abbrechen uralter Tradition. Solche Ideenströme haben ihn blind gemacht für die Größe seiner Gegenwart, ihre Not und ihre Leistung; aber sie haben ihn zugleich auch fernsichtig gemacht für keimende Möglichkeiten im Erdreich der welthistorischen Entwicklung. Ohne seiner Kritik des Bismarckschen Reiches folgen zu können, wird man jetzt doch Verständnis und Bewunderung aufbringen können für das völkerrechtliche


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Föderativsystem, das ihm vor dem inneren Gesicht stand, für die konstruktive Ordnung Mitteleuropas und weiter Gesamteuropas aus dem bündischen Prinzip. Ein gut Teil der Kämpfe, die sich heute zwischen den verschiedenen Ideen zur Organisation der Welt abspielen, ist in Frantz vorausgekämpft worden und wird seine Gültigkeit auch da entfalten, wo die Geschichte über seine Lösungen hinausgeschritten ist.

Von den Impulsen der Gegenwart hat A. Pieper den Anstoß empfangen zu seiner Schrift: der Staatsgedanke der deutschen Nation ( 1450). Es ist ein durchaus politisches, förderndes und heischendes, richtendes und mahnendes Buch, nicht ein Buch deskriptiver Bescheidung, sondern ethischer Gestaltung und nationalpädagogischer Erziehung. Der Staatsgedanke der deutschen Nation, den Pieper aufzeigen will, enthält die Gesamtheit der nationalen Geschichte in ihren Hemmungen und Schwächen, wie er zugleich den nationalen Imperativ an die Deutschen umschließt, überhaupt erst ein Staatsvolk zu werden. So handelt die Schrift in achtzehn Abschnitten von dem Bild des deutschen Staates, den Hemmnissen der nationalen Einigung, von der inneren Schwäche des Reiches, von Würde und Sinn des Staatsgedankens und den Arten seiner Verwirklichung. Die Frage nach dem Sinn der Machtentfaltung staatlichen Daseins wird aufgeworfen und bejaht, die Pflege des vaterländischen Sinnes, die Wahrung nationaler Ehre und Freiheit postuliert. Das alles ist getragen von einem hohen sittlichen Ernst, einem pädagogischen Patriotismus, dessen Eifer und Lauterkeit man auch da beipflichten möchte, wo man der Primitivität seiner Problemstellung und der Simplifikation seiner Lösungen nicht folgen kann. Zweck und Mittel des Buches liegen jenseits des Bereichs der Wissenschaft, und sie ist daher der Aufgabe enthoben, sich mit einer Leistung kritisch auseinanderzusetzen, deren Gesamtrichtung sie nur verdienstlich und anerkennenswert finden kann.


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