II. Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte:

Eine wichtige Bereicherung der Literatur zur Frühgeschichte des Preußenlandes stellt die Urgeschichte Ostpreußens von W. Gaerte dar ( 658). Sie bietet einen wissenschaftlich begründeten, für weitere Kreise bestimmten Überblick über die Bevölkerungsgeschichte und die Kulturgeschichte Ostpreußens seit dem ersten Auftreten des Menschen bis zum Beginn der deutschen Einwanderung im 12. Jhd. Das lebendig geschriebene und mit vielen Abbildungen geschmückte Werk ist mit einem umfangreichen Schriftenverzeichnis versehen und vortrefflich geeignet, in die vielfach noch ungelösten Fragen der nordostdeutschen Urgeschichte einzuführen. Besonders dankbar sind die volkskundlichen und völkerkundlichen Vergleiche zu begrüßen. Die Kulturen der Wikinger und der alten Preußen sind eingehender als in anderen Werken geschildert.

Mehrere Arbeiten sind der Siedlungsgeschichte einzelner Landschaften gewidmet. Das Land Gerdauen wurde bald nach der Begründung der gleichnamigen Burg 1325 erschlossen. Den Fortgang seiner Besiedlung während der Ordenszeit und seine Grenzen hat M. Rousselle dargestellt ( 448). Mehrfache Einfälle der Litauer hemmten zunächst die Besiedlung. Erst unter Winrich von Kniprode konnte die planmäßige Ansetzung deutscher Siedler begonnen werden. Da die Überlieferung fast lückenlos erhalten ist, konnte der Verfasser die Entstehung der deutschen Dörfer und Güter und die Ausbreitung der preußischen Siedlungen eingehend würdigen. Die Stadt Gerdauen wurde 1398 begründet. Der östliche Teil des Bezirkes wurde zwischen 1400 und 1440 besiedelt. Am Ende der Ordenszeit befanden sich mehr als ⅔ des Bodens der großen Güter in der Hand deutscher Besitzer.

Es ist wenig bekannt, daß außer dem 13. und 14. auch noch das 16. Jhd.


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an der Besiedlung des Preußenlandes einen nennenswerten Anteil gehabt hat. Es galt damals die schweren Verwüstungen, welche die polnischen Einfälle 1410 und 1414, der preußische Ständekrieg 1454--66, der Pfaffenkrieg 1478 bis 79 und der Reiterkrieg 1520--25 verursacht hatten, wieder wett zu machen. Den Umfang und die Art dieser erneuten Siedlungsarbeit hat für das Ermland H. Schmauch auf Grund mühsamer Einzelforschungen genau untersucht und seine überraschenden Ergebnisse mit einer Fülle von Quellenbelegen veröffentlicht ( 451). So konnte er nachweisen, daß in jenen Teilen des Ermlandes, die dem Bischof oder dem Domkapitel zu Abgaben verpflichtet waren, um 1525 fast 47% der bäuerlichen Zinshufen wüst lagen. Am meisten hatten die Kammerämter Frauenburg und Mehlsack mit 53% Wüstungen gelitten. Auch die Freischulzen-Hufen, die Mühlen und Krüge, weniger die adligen Güter waren von den Kriegswirren schwer betroffen worden. Die Landesherrschaft gewährte den Siedlern für den Wiederaufbau des Landes Freijahre, Ablösung der Scharwerkdienste, Umwandlung des preußischen Rechtes in das magdeburgische Erbrecht, Lieferung von Saatgetreide, Vieh und Gerätschaften. Auf Rodeland wurde der erträgliche Flachsbau in größerem Umfange gestattet. Um die Landflucht der Bauern zu verhindern, schlossen der Bischof und das Domkapitel mit dem Herzogtum Preußen und den Landständen des königlichen Preußens Vereinbarungen über die Rücklieferung der Überläufer ab. Sch. berichtet von zahlreichen langwierigen Verhandlungen zu diesem Zweck. Die meisten Siedler stammten aus eingesessenen Familien; nur im Süden des Ermlandes mußten auch in größerer Zahl Masovier und Polen zugelassen werden. Mehrere Dörfer wurden in adlige Güter umgewandelt. Die Erfolge der Wiederbesiedelung waren beträchtlich. Bereits 1568 waren im Kammeramte Allenstein, das zeitweise Koppernikus verwaltet hatte, keine wüsten Zinshufen mehr vorhanden. In den Kammerämtern Mehlsack und Frauenburg war dieses Ziel erst Ende des 16. Jhds. erreicht. Das Gleiche gelang in den bischöflichen Ämtern Guttstadt, Rössel, Wormditt, Wartenburg und Heilsberg. Nur im Amte Braunsberg blieben einige Wüstungen bis zur Gegenwart bestehen. Dagegen wurden im Süden an den masurischen Seen im letzten Viertel des 16. Jhds. fünf Dörfer, acht Güter, vier Mühlen und ein Krug sogar neu gegründet.

Während die genannten Arbeiten unsere Kenntnis der Siedlungsgeschichte im einzelnen wesentlich bereichert haben, hat W. Ziesemer ihren gesamten Verlauf knapp und klar zusammengefaßt ( 447). Seine Darstellung sei besonders denen empfohlen, die sich, ohne in das umfangreiche Schrifttum eindringen zu wollen, über den Stand der Forschung im allgemeinen unterrichten möchten. Während Ziesemer den Nachdruck auf die Zeit des Deutschen Ordens legte, hat Schumacher die staatliche Siedlungstätigkeit im Preußenlande in den Jahren 1648--1807 ausführlicher dargestellt ( 1568). Die Aufnahme der Refugiés, die Ansetzung von Kolonisten in den von der Pest verheerten Gebieten, die heute aus politischen Gründen vielfach falsch gewertete Kolonisation Friedrichs des Großen haben die Landeskultur erheblich gefördert. Der Verfasser hat diese Ereignisse im Zusammenhang mit der großen Politik und der Entwicklung in den Nachbarländern von großen Gesichtspunkten aus behandelt.

Die Wirtschaftsgeschichte des Preußenlandes ist für die neueren Jahrhunderte bisher nur spärlich erforscht. Um so erfreulicher sind die Quellenangaben, die Max Hein über die wirtschaftlichen Zustände in Ostpreußen in dem letzten


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Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges veröffentlicht hat ( 1636). Der erste Schwedisch-Polnische Krieg und der allgemeine Rückgang des Handels hatten den größten Teil des Landes in eine Notlage gebracht, die vielfache Ähnlichkeiten mit der Gegenwart aufweist. Die Äcker blieben unbestellt, Hunderte von Bauernhöfen lagen wüst. Die Steuern trugen wenig ein, da die Bauern überschuldet waren und vielfach ihre Heimat aus bitterer Not verließen. Auch in den Städten waren viele Häuser unbewohnt. Nur im Samland und in Natangen, um Lötzen, Angerburg und Bartenstein scheinen die Verhältnisse weniger drückend gewesen zu sein. Auch Königsberg erfreute sich eines lebhaften Handels.

Da über die soziale und landschaftliche Herkunft der Ritter des Deutschen Ordens vielfache Unklarheiten bestehen, hat von der Ölsnitz die hierüber vorliegende Überlieferung nachgeprüft ( 334). Er erweist, daß auch die Mitglieder von Stadtgeschlechtern, wie der Hochmeister Karl von Trier, in den Orden aufgenommen wurden. Seit dem Ende des 13. Jhds. wurde rittermäßige Geburt verlangt. Außer den Namen und gelegentlichen Ahnenproben sind die Wappen der Ritter zur Erklärung ihrer Herkunft verwertet. In die Wappen der Städte Soldau, Neumark und Neustadt, Elbing wurden die Wappen der Komture und Hochmeister aufgenommen, die diese Städte begründet haben. Weitere Wappen von Ordensrittern befinden sich als Wandschmuck in den Burgen und einigen Kirchen, ferner auf Glocken- und Kirchengerät und auf zahlreichen Grabsteinen. Dagegen sind Siegel mit solchen Wappen nicht bekannt, da die Ritter eigene Siegel nicht führen durften. Dem Aufsatz kommt grundlegende Bedeutung für die Geschichte des ritterlichen Wappenrechtes zu. -- Zur Pflege der Familienforschung, der Wappen- und Siegelkunde hat sich vor zehn Jahren in Danzig eine eigene Gesellschaft gebildet. Als erste Veröffentlichung hat sie ein Heft mit zwölf Aufsätzen über die Quellen zur Danziger Familiengeschichte, die Kirchenbücher im Danziger Staatsarchiv und die genealogische Überlieferung im Danziger Landesmuseum herausgegeben. Für die Verwaltungsgeschichte ist wichtig der Aufsatz von A. Methner über die Danziger Stadtschreiber von 1342--1650. E. B. Jantzen hat die Namen und die Hofmarken der Besitzer in den Dörfern Groß- und Klein-Zünder im 17. und 18. Jhd. veröffentlicht ( 306).

Trotz zahlreicher guter Einzelbiographien fehlt bisher eine knappe Zusammenfassung des Lebenslaufes der geschichtlich bekanntesten Ostpreußen. Diesem Bedürfnis sucht ein kleines Sammelwerk abzuhelfen, das unter dem Titel »Ostpreußische Köpfe« im J. 1928 zu Ehren des langjährigen Leiters der Königsberger Allgemeinen Zeitung, Dr. h. c. Alexander Wynecken, herausgegeben wurde. Von seinen Beiträgen seien als besonders bemerkenswert hervorgehoben die Ausführungen von Krollmann über Herzog Albrecht, von Przybyllock über Koppernikus, von Ziesemer über Simon Dach, von Gödickemeyer über Kant, von Unger über Hamann, von Harich über E. T. A. Hoffmann, von Rothfels über Schoen, von Loch über Gregorovius und von Stettiner über Eduard von Simson. Die persönliche und landschaftliche Eigenart dieser Männer wird lebensvoll geschildert.


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