V. Kirchengeschichte.

Unter der Einwirkung des Reformationsjubiläums schickt sich die Kirchengeschichtschreibung der Hansestädte an, überalterte Werke, auf die man bisher angewiesen war, durch neue zu ersetzen. J. S. Schöffel veröffentlicht den 1. Teil einer dreibändigen Kirchengeschichte Hamburgs, der die Zeit der Mission und der erzbischöflichen Würde umfaßt ( 1691). Mit den verschiedensten Disziplinen hat er sich darin auseinanderzusetzen: mit der deutschen Kaisergeschichte, mit frühgeschichtlicher Spatenforschung und mit diplomatischer Quellenkritik. Karl dem Großen billigt er in seiner umstrittenen Sachsenpolitik ideales Wollen zu. In der Limesfrage entscheidet er sich für Konzeption durch Karl und Ausführung unter dessen Nachfolger. Karls Maßnahmen gegenüber der hamburgischen Gründung erklärt er folgerichtig aus vergleichender Betrachtung seiner anderweitigen Politik. Mit Schmeidler unterstellt er im Gegensatz zu Hauck den Ludwigsbrief als authentisch. Somit ist die hamburgische Kirche unter Karl lediglich sächsische Missionskirche, und erst Ludwig der Fromme dehnt das Missionsprogramm auf den Norden aus -- auf Initiative Ebos von Rheims und als Werk Roms. Mit entschieden großem Zug


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entwickelt Schöffel die Geschicke der Hamburger Kirche aus dem Schicksal des Kaisertums: ihre Not unter der Schwäche der Karolinger, ihren Machtaufstieg und Niedergang unter den Sachsenkaisern und die dritte Bewegung auf und ab unter den Saliern. Nach dem Verlust der Missionsaufgabe und der erzbischöflichen Würde schildert Verfasser das innere Leben -- auch dies unter Würdigung der Kräfte, ohne sich in Kleinkram zu verlieren. -- Eine Arbeit von W. Biereye ( 1692), deren erster Teil zunächst die Entwicklung des Bistums Lübeck bis 1230 verfolgt, zeigt, wie auch hier die Aufgaben der Nahmission und der Fernmission von einschneidender Bedeutung wurden. Aus dem Werk der Slawenbekehrung erwuchs das Bistum Oldenburg. In kluger Erkenntnis der Missionsmöglichkeiten seines Sprengels für das ferne Livland verlegte Gerold, der zweite Bischof, den Hochsitz nach Lübeck; aber im psychologischen Augenblick verspielte der Elekt Konrad II. was damit angebahnt war. Biereye arbeitet seine Bistumsgeschichte mit gutem diplomatischem Rüstzeug selbständig neu aus den Quellen und konnte dabei die leider ungedruckt gebliebene Leverkussche Handschrift der Bistumsurkunden aus dem Oldenburger Archiv benutzen. Seine Arbeit ist nach Bischöfen gegliedert. Die scharf umrissenen Persönlichkeiten der ersten acht Lübecker Prälaten erscheinen als Träger des Aufbaus, je nach ihrem Charakter mehr oder weniger aktiv zwischen den Gegensätzlichkeiten der Zeit: dem Kampf mit dem Slawentum, dem Investiturstreit des Bremer Erzstuhls mit Heinrich dem Löwen, den konkurrierenden Ansprüchen der Sachsenherzöge und Holsteiner Grafen, den Gegensätzen zwischen Domkapitel und Klostergeistlichkeit, Klerus und Bürgerschaft. Neben dem Werden und Wachsen des Bistums und seines nachmaligen Territoriums behält Biereye vorzugsweise die Entwicklung der Klöster im Auge. -- Eine Reihe von Arbeiten gilt unmittelbar der Reformationstatsache. Hier ist zunächst eine hamburgische Reformationsgeschichte von K. Beckey zu nennen ( 1938), die eine Folge von Teildrucken aus der Hamburgischen Kirchenzeitung in Buchform zusammenfaßt. Beckey will keine eigenen Forschungsergebnisse bringen, sondern in wissenschaftlicher Verarbeitung der früheren wesentlichen Werke eine übersichtliche Zusammenfassung der Vorgänge und eine Zeichnung der führenden Gestalten bieten. Diese Absicht, die durch viele wörtlich eingereihten Quellenstellen unterstützt wird, darf als gelungen bezeichnet werden. Freilich macht sich die wenig veränderte Wiedergabe jener Teilfolgen -- namentlich gegen Ende -- etwas störend bemerkbar, nicht zum wenigsten in der unvorteilhaften Anordnung der Anmerkungen und Belege. Diese bieten aber doch durch ihre Reichhaltigkeit zusammen mit einem vorangestellten Literaturverzeichnis viel Aufschluß und Anregung. -- Als »Ideengeschichtliche Untersuchung« veröffentlicht J. S. Schöffel ferner seine Reformationsfestrede ( 1937). Darin stellt er die Hamburger Reformation zunächst in den Rahmen der Reichsgeschichte, um nachher den Nachweis zu führen, daß sie nicht ein Erzeugnis kirchenpolitischen Denkens oder einer sozialen Bewegung oder einer Mönchsgesellschaft oder eines wissenschaftlichen Strebens oder einer mystischen Erhebung war, daß vielmehr die reformatorischen Gedanken die Menschen bereit fanden und in der Solidarität bestimmter Mönchskreise, eines bürgerlichen Proletariats und humanistisch oder mystisch beeinflußter Zirkel lediglich Stützen und Hilfe fanden. Bei einer Betrachtung der Auswirkungen auf das öffentliche und private Leben werden Nutzanwendungen auf die Gegenwart gemacht. -- Für Bremen legt A. Elfers

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( 1936) an den Lehren der ersten lutherischen Prediger dar, daß ihr Inhalt zu der Revolution der 104 in den Jahren 1531 und 1532 nicht in ursächlichem Zusammenhang stand. Diese Lehren, für die der Rat sich gegenüber dem Erzbischof einsetzte und die Stadt als Parteigängerin des Schmalkaldischen Bundes Belagerungen und Verluste ertrug, richteten sich -- ohne in allen Einzelheiten mit Luther übereinzustimmen -- gegen die katholische Heilslehre, gegen den Primat des Papstes und die Sonderstellung des Klerus. -- Der Gegensatz der Stadt Bremen zum Erzbischof erneuerte sich, als nach Übertritt von Erzbischof und Domkapitel zum Luthertum die städtischen Kirchen dem reformierten Bekenntnis zuneigten. H. Weidemann ( 1935) gibt einen sehr instruktiven Einblick in das Ringen der Domgemeinde, die einen Staat im Staate bildete, um die parochialen Rechte. Nachdem die Domkirche jahrzehntelang geschlossen gewesen war, schuf der Stader Vergleich von 1639 eine Halbheit. Die sehr beschränkten Rechte, die der Domkirche hinsichtlich der Sakramente zugestanden waren, führten durch die starre Haltung des Rates zu großen Härten. Obgleich schließlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung sich zum Luthertum bekannte, blieb doch der Reformierte allein vollberechtigter Bürger, bis erst Jahrzehnte nach der Eingliederung des Domes in den bremischen Staat 1810 die Domgemeinde das volle jus parochiale erhielt. 1860 wurden die alten Parochialgrenzen so gut wie aufgehoben, und seitdem kann jeder Bremer nach Belieben auch der Domgemeinde beitreten. -- Zu der Publikation von Th. Wotschke ( 1939) vgl. man Jberr. 1925, S. 543. Die neu vorgelegte Auswahl von Briefen entstammt den Jahren 1728--37 und ist zeitlich hinter Nr. 21 der ersten Veröffentlichung einzureihen. Wotschke bietet in den Mittlgn. d. Ver. f. Lüb. Gesch. u. Altkde., Heft 15 Nr. 1, noch eine weitere kleine Auswahl aus einem Briefwechsel zwischen Vertretern der Orthodoxie jener Zeit: Fünf Briefe des Lübecker Rektors v. Seelen an den Dresdner Stadt-Superintendenten Löscher, der 1730 einen Ruf auf die Lübecker Superintendentur abgelehnt hatte, worauf dann Carpzow die Stelle erhielt. Zu jener Berufung nimmt der Hrsg. in einem Nachtrag das Wort. -- In das Hamburger religiöse Leben des 19. Jhds. leuchtet R. Kayser mit einer Studie über Henri Merle ( 1940). Hugenottischer Herkunft, in Genf durch Haldane für die Erweckung gewonnen, in Berlin durch Schleiermacher und Neander beeinflußt, kam Merle 1818 als Prediger an die französisch-reformierte Gemeinde Hamburgs. Sie ließ ihn schon nach vier Jahren wieder ziehen. Das Verständnis, das ihm die eigene Gemeinde versagte, fand Merle außerhalb, besonders bei dem Sievekingschen Kreis. C. W. Pauli stellte die Verbindung mit den Lübecker Erweckten her; Fäden liefen nach Bremen und Altona. Merle gründete in Hamburg die Niedersächsische Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Erbauungsschriften, sowie den Evangelischen Missionsverein. Nach einer Wirkungszeit in Brüssel kehrte er nach Genf zurück. Er war dort an der Gründung des Roten Kreuzes beteiligt und wurde der Verfasser der ersten Reformationsgeschichte in französischer Sprache.


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