III. Historische Landeskunde.

Die Frage der Neugliederung des Reichs hat


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für Hessen eine ganze Literatur entstehen lassen (vgl. die Zeitschriften Hessenland 41 [1930], 20 ff. 43 ff., 42 [1931], 72 ff. 104 ff. Volk und Scholle 8 [1930], 328 ff.). Fraglos ist Stengels auf Veranlassung amtlicher Stellen verfaßte und durch Uhlhorns klare Kartenskizzen wirkungsvoll ergänzte Denkschrift ( 415) »weitaus das beste, was über die Neugliederung der Länder am Mittelrhein geschrieben ist«. Stengel will zeigen, »daß es noch eine andere Art dieses wichtigen Problems gibt als die ökonomische, die heute für die allein seligmachende gilt, nämlich die kulturpolitische, die nach den aus einem stammhaften Urgrund in langer geschichtlicher Entwicklung gewordenen Zusammenhängen des Volkstums fragt und für sie Rücksicht heischt. Hierbei kommt es nicht so sehr darauf an, scharfe Grenzen zu ziehen als die Räume aufzuzeigen, in denen solches geschichtliches Volkstum sich ausgebildet, und die Richtungen, in denen es gewirkt und seine Ausläufer ausgesendet hat.« Diesem Programm entsprechend wird in den Kapiteln: die geographischen Voraussetzungen, das hessische Kernland, das Land an der Diemel, das Land an der Werra, das Land an der oberen Fulda, das Land an der Lahn »das Kraftfeld umgrenzt, das uns mit allen seinen Ausstrahlungen als hessische Landschaft und hessischer Kulturkreis« erscheint, in einem weiteren Kapitel verdeutlicht, daß sich südlich des Taunus und Vogelsbergs ein »rheinmainisches Kraftzentrum« entwickelt hat. Bei einer Neuordnung erscheint St. eine vollständige Trennung beider Kreise ebensowenig angebracht wie eine Verschmelzung in dem Sinne, daß ein Kulturkreis in dem andern aufgeht. Vielmehr wird in jedem Falle eine Auseinandersetzung »jedem das Seine« zu geben haben.

In der Reihe der Veröffentlichungen des Marburger Instituts für geschichtliche Landeskunde bedeutet das Buch von W. Classen ( 1686) eine notwendige Ergänzung der territorialgeschichtlichen Einzelarbeiten des geschichtlichen Atlas. Darüber hinaus fördert und vertieft es unsere Kenntnis der ma.lichen kirchlichen Verwaltungsorganisation überhaupt ganz erheblich. Wenn es ein Kenner hessischer und kirchlicher Verhältnisse wie W. Dersch eine Arbeit von »beachtenswerter Reife« nennt (Besprechung in der Hist. Ztschr. 143 [1931], S. 586), so ist dieses Urteil das beste Lob für den Verfasser. Das Buch begreift räumlich das in der eben genannten Denkschrift von Stengel als hessisches Land charakterisierte Gebiet, das in der Hauptsache in die Mainzer Archidiakonate St. Stephan in Mainz (Amöneburg), St. Peter in Fritzlar und die Propstei in Hofgeismar eingespannt ist. Dem Hauptteil, der kirchlichen Topographie, schickt Classen zwei Kapitel über die Eingliederung Hessens in die Mainzer Kirche und die Entwicklung der kirchlichen Verwaltung und ihrer Bezirke voraus. Den Sprengel des bonifatianischen Bistums Büraburg läßt er weiter nach Südwesten als bisher angenommen wurde (vgl. Jberr. 1928, S. 464) reichen, als dessen Nachfolger bezeichnet er die beiden Archidiakonate St. Peter und St. Stephan. Ihre Entstehungszeit setzt er ins 12. Jhd.; die Pröpste haben aber schon vorher in ihren Sprengeln Befugnisse als Chorbischöfe ausgeübt. Als Zwischenglieder zwischen Archidiakonat und Pfarrei treten im Archidiakonat St. Peter wie anderwärts Archipresbyterate, in dem von St. Stephan Dekanate auf, beide verschiedenen Ursprungs. Die Archipresbyterate, mit denen die Sendbezirke zusammenfallen, sind die Bezirke der alten Taufkirchen, während in den viel umfangreicheren Dekanaten die Geistlichen vermutlich nach den in den Archidiakonaten liegenden Grafschaften zusammengefaßt sind. Verschieden wie die Entstehung


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ist auch die Organisation von Dekanat und Archipresbyterat.. Letzterem fehlt die korporative Verfassung. Als bald wieder verschwindender Dignitar des Archipresbyters erscheint im 12. Jhd. mit unbekannten Befugnissen ein Archidiakon. Die früher behauptete Gleichsetzung von Hundertschaft des Hessengaus und Archipresbyterat lehnt Classen ab, wenn er auch bei der Bildung dieser kirchlichen Bezirke Beziehungen zu den weltlichen zugibt. Die Verwaltungseinheit zu St. Stephan, das Dekanat, ist noch weiter unterteilt in Sendbezirke, sedes, die auf alte Großpfarreien zurückzuführen sind, deren Bildung aber noch bis ins 12. Jhd. andauert. Gleichheit von sedes und Zentgerichtsbezirk kann mehrfach nachgewiesen werden, andere sedes umfassen mehrere Gerichtsbezirke. Das wird auf den beigegebenen Karten deutlich gemacht. Lehrreich sind die Ausführungen über den Gebrauch der Bezeichnungen für Pfarreien und Träger des Pfarramts, vorsichtig werden die in drei engeren Gebieten heimischen Peters-, Michaels- und Martinspatrozinien für die Geschichte der Pastorisierung ausgewertet. Das Pfarreinetz hat sich bis 1300 so entwickelt, daß damals die Hälfte der im 16. Jhd. bekannten Pfarreien nachweisbar ist. Auf die Bildung von Pfarreien haben Grund- und Gerichtsherrn starken Einfluß gehabt. Eine Darstellung des Eigenkirchenwesens -- Spuren sind noch in Ortsnamen wie Richolveschiricha anzutreffen -- und des sich daraus entwickelnden Patronats in Hessen beschließt den inhaltschweren einleitenden Teil.

Der topographische Teil ist ebenso mit staunenswerter Gründlichkeit gearbeitet. Es lag nahe, für den Aufbau als Vorbild die Erläuterungen zum geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz zu nehmen. Classen führt für jeden Sendbezirk (Archipresbyterat) die dazugehörenden Orte, aber auch die weltlichen Gerichtsbezirke innerhalb der Sprengel auf. Die Übersicht über die Pfarreien enthält in gleichbleibender Reihenfolge Angabe über Patrozinium, ersten bzw. letzten Beleg, Patronatsverhältnisse und Kirchspiel. Außer den beiden Archidiakonaten und der Propstei Hofgeismar finden auch thüringische und sächsische Grenzgebiete Berücksichtigung, so die waldeckischen Pfarreien. Zur Abrundung ist eine doch ganz nützliche Übersicht auch über die neuere und neuste Entwicklung beigesteuert. Das Patrozinienverzeichnis beschränkt sich auf die eigentlichen Pfarrkirchen, die Ordens- und Stiftskirchen, die Patrozinien der niederen Pfründen im Archidiakonat St. Stephan sind in den Anmerkungen des topographischen Teils zu finden. Nicht vergessen ist ein Verzeichnis der Patrone bis 1585. --

Die beiden bisher veröffentlichten Kapitel der Dissertation von Bruchmann ( 416, s. auch Jberr. 1928, S. 461) beschäftigen sich mit der Besiedlung und Gauverfassung und den territorialen Bildungen des 10. bis 13. Jhds. des im heutigen Kreis Eschwege zusammengefaßten Gebiets. Im Abschnitt über die in der Literatur sehr verschieden beurteilte sog. Germarmark spricht Br. seine Ansicht dahin aus, daß wir es hier nicht mit einem alten Gau, sondern mit einer allerdings sehr frühen territorialen Bildung in den Händen der später so genannten Grafen von Bilstein zu tun haben. -- Innige Vertrautheit mit der Landschaft und die Fähigkeit einer natürlichen, ungekünstelten Quelleninterpretation haben der Arbeit des Oberlandmessers Buxbaum ( 414) zu schönen Resultaten verholfen. Seine Deutung der Grenzpunkte der Mark Michelstadt, wie sie 819 an Kloster Lorsch geschenkt wurde, wird unbestritten bleiben. Seine Grenzführung, die die natürlichen Bedingungen zu Hilfe nimmt, zeigt Übereinstimmung


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mit den heutigen Gemarkungsgrenzen. Auf gut 50 Tafeln erläutert Buxbaum die Besitzformen aller Gemarkungen dieses Gebiets, die zurückgehen auf die alte, hier im spärlich besiedelten Odenwald mögliche, gleichförmige Aneinanderreihung von Hufengütern. Das liebevolle Eingehen auf die Abmarkung der Grenzen, insbesondere auf die auch im Bilde wiedergegebenen Grenzsteine und ihre Beschriftung -- ein Stein stellt mit Wappen und Schrift gewissermaßen »Besitztitel, Hypothekenbrief und Löschungsurkunde« dar -- sei zur Nachachtung empfohlen.


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