II. Gesamtdarstellungen.

Der Gedanke, eine Sprachgeschichte Elsaß-Lothringens zu schreiben und damit zwei Landschaften, die erst in neuester Zeit zu einer künstlichen Einheit zusammengefaßt worden sind, früher aber in politischer und noch viel mehr in sprachlicher und kultureller Hinsicht getrennte Wege gegangen sind, für den ganzen Verlauf der Geschichte zu einem einzigen Forschungsobjekt zu verschweißen, erscheint auf den ersten Blick nicht sehr glücklich. An einigen Stellen hat denn auch P. Levy, der einen solchen Versuch unternommen hat ( 510), diesen Widerspruch nicht ganz überwunden, aber im ganzen wird man über einen grundsätzlichen Einwand dieser Art billigerweise hinwegsehen dürfen, da der Verfasser die fast überwältigende Fülle des Stoffes mit großer Geschicklichkeit gemeistert hat und an ihre Verarbeitung mit unverkennbarem wissenschaftlichem Ernst und Wahrheitsstreben herangetreten ist. Das Werk enthält weniger Philologisches, als man nach dem Titel vermuten könnte; es ist eigentlich eine elsaß-lothringische Kulturgeschichte im Spiegel der Sprache und muß deshalb der Aufmerksamkeit gerade des Historikers angelegentlich empfohlen werden, der in ihm vieles Neue findet und manches Bekannte und aus zweiter Hand zitierte unter neuen Gesichtspunkten bequem vereinigt sieht. Die Objektivität, mit der L. arbeitet, bedarf um so mehr der Erwähnung und Anerkennung, als wir sie in der linksrheinischen Produktion der jüngsten Vergangenheit nicht selten vermissen mußten. Den Theorien Jullians und Tourneur-Aumonts steht L. mit wohltuender Skepsis gegenüber, die Ortsnamenfrage wird mit gebotener Zurückhaltung behandelt; in den späteren Kapiteln wird nach dem dreiteiligen Schema: Sprachgrenze, sprachlicher Zustand, verändernde Einflüsse, jede Periode mit möglichster Annäherung an statistische Genauigkeit untersucht. Besonders betonen möchte ich, daß L. entgegen dem Ausspruch M. Berneggers von 1625, daß Straßburg eine halb französische Stadt sei, und entgegen den etwas allzu rosigen Ausführungen des Intendanten De la Grange von 1697 über die Fortschritte des Französischen aus anderen zeitgenössischen Zeugnissen den bündigen Nachweis erbringt, daß Straßburg, noch mehr aber die kleineren Städte und das flache Land vor der Annexion und auch geraume Zeit nachher ausgesprochen deutschen Charakter aufwiesen; auch das »emergierende Deutschtum«, von dem der Straßburger Student Goethe spricht, wird vorurteilsloser gewürdigt, als man bisher von französischer Seite gewohnt war. Für die ältere Zeit vermißt man an manchen Stellen eine organischere Eingliederung der besonderen elsässischen Verhältnisse in die Zusammenhänge der gesamtdeutschen


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Entwicklung; wenn man etwa die französischen Einflüsse auf die deutsche Kultur und Literatur des 13. Jhds. in ihrer Gesamtheit würdigt, wird man schwerlich gerade das Elsaß so ausschließlich als »trait d'union« zwischen den beiden Kulturen bezeichnen dürfen, was bei französischen Lesern ebenso leicht irrige Meinungen hervorrufen kann, wie die auch bei L. nicht ganz unterdrückte Neigung, dem elsässischen Dialekt gegenüber der hochdeutschen Schriftsprache eine selbständigere Stellung einzuräumen, als den übrigen deutschen Dialekten. Von besonderem Interesse ist die ausführliche Behandlung der deutschen Zeit seit 1870, die fast die Hälfte des zweiten Bandes ausfüllt. Der Verfasser, der hier gegenüber der im Vorjahr (vgl. Jberr. 1928, S. 485) angezeigten und von ihm noch nicht benutzten Schrift von Baier in der vorteilhaften Lage war, auch archivalisches Material in weitem Umfange mit heranziehen zu können, versucht der deutschen Sprachenpolitik durchaus gerecht zu werden. Wenn er ihr einen »excès de zèle« und (während des Weltkrieges) »fureur germanisatrice« vorwirft, so versäumt er doch auch nicht, die Mäßigung und Geduld der deutschen Verwaltung anzuerkennen und (II, 378) offen zuzugeben, daß jede andere Regierung in der gleichen Lage ebenso gehandelt hätte; auch dieses Eingeständnis zeugt von einer wissenschaftlichen Ehrlichkeit, mit der wir in französischen Veröffentlichungen über ein so aktuelles Thema nicht gerade verwöhnt zu werden pflegen. Die Literaturbenutzung ist, wie eine bibliographische Liste von 31 Seiten zu erkennen gibt, von vorbildlicher Gründlichkeit; zu I, 182 wäre etwa noch auf Schultes Aufsatz über das Straßburger Domkapitel im Els. lothr. Jb. VI, zu I, 184 Anm. 3 auf Meisters Hohenstaufen im Elsaß, neuerdings noch auf Fed. Schneider (Els. lothr. Jb. IX) aufmerksam zu machen. -- E. Meyers Schrift über das Deutschtum in Elsaß-Lothringen vom J. 1927 ist in zweiter Auflage und fast verdoppeltem Umfang erschienen ( 412). Hinzugefügt wurde ein Schlußkapitel über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, besonders die Autonomistenprozesse, und ein Aktenanhang, der die wesentlichsten Stücke aus den elsässischen Parteiprogrammen, den Reden Poincarés über die elsaß-lothr. Frage und den Erlassen der Schul- und Kirchenbehörden bequem zusammenstellt. Den Hauptwert der Schrift macht überhaupt die Darstellung der neuesten Zeit aus, die auf Quellenbenutzung und eigenem Erlebnis beruht (der Verfasser ist gebürtiger Elsässer). Die Behandlung der früheren Jahrhunderte beschränkt sich im wesentlichen auf eine Zusammenstellung bekannter Dinge aus der sehr reichhaltigen Literatur; aber sie ist nicht nur geschickt angelegt, sondern entspricht auch einem wirklichen Bedürfnis, da gegenüber den absichtlichen oder gutgläubigen Mißverständnissen, die in französischen Darstellungen immer wieder begegnen, nicht deutlich genug betont werden kann, daß sich die elsässische Eigenart nicht schärfer vom Ganzen des Deutschtums abhebt, als etwa die der Schwaben und Bayern oder irgendeines anderen deutschen Stammes. Zu der Erkenntnis dieser Tatsache und der hieraus sich ergebenden Stellungnahme zu den Problemen der Gegenwart bietet Meyers Buch einen übersichtlichen Führer.


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