II. Großmachtbildung und gesamtstaatliche Probleme.

Die in diesem Abschnitt besprochenen Arbeiten umfassen keineswegs die ganze Literatur zur neueren Geschichte Österreichs. Es liegt im Wesen der Sache, daß gerade die bedeutenderen Arbeiten von gesamtdeutschem Interesse sind und daher in den allgemeinen Abschnitten besprochen werden. Andrerseits können aber Arbeiten zur Geschichte der österreichischen Großmacht, die weder gesamtstaatliche Probleme noch die deutschösterreichischen Länder im engeren Sinn berühren, hier nicht aufgenommen werden.

Tätigkeit und personale Zusammensetzung der niederösterreichischen Raitkammer 1494--1522 untersucht R. Geyer ( 1360) und ergänzt so unsere Kenntnis der in den Grundzügen gut bekannten Behördenorganisation Maximilians I. -- W. Bauer ( 774) veröffentlicht zwei Denkschriften aus dem J. 1518, über den Plan, Margarete von Österreich mit Karl von Geldern zu verheiraten. --


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R. Friedmann ( 1896) berichtet über die Briefe der österreichischen, genauer tirolischen und dann mährischen Täufer, der Huterer, gibt eine Zusammenstellung der erreichbaren Handschriften und eine Bibliographie zur Geschichte des Täufertums in Österreich. -- Die Vorgeschichte des Wiener Vertrages vom 25. April 1606, in dem die Erzherzoge angesichts der Geisteskrankheit Rudolfs II. Mathias als »Haupt und Säule« des Hauses Österreich bestellten, vermag Lothar Groß durch Publikation eines Schriftstückes aufzuhellen, das offenbar die Stellungnahme Erzherzog Ferdinands zu den durch Hurter und Stieve bekannten Propositionen Erzherzogs Mathias und Khlesls enthält. -- Das innerösterreichische Kammerreferat, über dessen Neueinrichtung in den J. 1665 bis 66 J. Fischer ( 1422) berichtet, hatte die Aufgabe, die Verbindung zwischen dem Herrscher und der innerösterreichischen Hofkammer in Graz herzustellen und wurde von Beamten der österreichischen Hofkanzlei versehen. Es ist ein Detail aus der Geschichte der innerösterreichischen Zentralbehörden, die nach Teilung von 1564 geschaffen wurden und bis zu den Verwaltungsreformen Maria Theresias fortbestanden, es ergänzt so die Geschichte dieser Grazer Zentralbehörden, die V. Thiel inzwischen vollendet hat. Über die für die politische wie die Wirtschaftsgeschichte wichtige Arbeit v. Srbiks über Adriapolitik unter Kaiser Leopold I. ( 1564) wird an anderer Stelle berichtet (vgl. S. 357). Ebenso über den Versuch Michaels ( 875), die uns erhaltene Ausfertigung der Pragmatischen Sanktion vom 19. April 1713 als spätere Neuausfertigung zu erklären, der entschiedenen Widerspruch gefunden hat (vgl. S. 242). -- Die Untersuchung, die F. von Reinöhl ( 900) den Übertragungen der Mitregentschaft durch Maria Theresia an ihren Gemahl und an ihren Sohn widmet, führt zu dem Ergebnis, daß in beiden Fällen der Wunsch nach Behauptung und Stärkung der kaiserlichen Würde maßgebend war. Die mit Rücksicht auf das Hausrecht und die Stellung Ungarns schwierig durchzuführende Übertragung an Franz Stephan sollte dessen Wahl zum Nachfolger Karls VI. ermöglichen, die Übertragung der Mitregentschaft an Josef II. dem Kaiser, der ja nur die unbedeutende Grafschaft Falkenstein unmittelbar besaß, die Machtstellung des Hauses Österreich zur Verfügung stellen. -- Von den Lebensbildern aus Alt-Österreich, die W. Weckbecker ( 901) unter dem Titel »Von Maria-Theresia zu Franz Josef« vereinigt hat, ist das erste der Lebenslauf des Rates in der Hof- und Staatskanzlei Johann Georg Obermayr (1733--1801), erzählt von seiner Tochter Emilie, das weitaus interessantere. Der arme Bauernsohn J. G. Obermayr, der sich in Wien als Bettelstudent durchbrachte, ist im italienischen Departement der Staatskanzlei verhältnismäßig rasch emporgekommen, ähnlich wie Thugut, der sein karges Studentenleben einst geteilt hatte. Es ist ein unerwarteter Einblick in das Werden der für den Zusammenhalt des österreichischen Staatswesens so wichtigen Bureaukratie, ihre Verflechtung mit anderen sozialen Schichten und ihren Lebensstil, das wir hier erhalten. Daran schließt der Herausgeber die die J. 1820--1866 umfassenden Teile einer Selbstbiographie des Feldmarschalleutnants Hugo Freiherrn von Weckbecker. Es ist eine typische Offizierslaufbahn, die uns hier vorgeführt wird. -- Die Beiträge zur Geschichte der italienischen Hofkanzlei und der dalmatinisch-albanesischen Hofkanzlei 1793--1809 die J. K. Mayr ( 1423) bietet, zeigen vor allem den Einfluß der napoleonischen Kriege auf die Wiener Zentralstellen für die italienischen Provinzen. Aus dem »Spanischen Rat«, den Karl VI. zur Verwaltung seiner italienischen

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Provinzen errichtet hatte, war allmählich eine Abteilung der Staatskanzlei geworden. Die Wiedererrichtung einer selbständigen italienischen Hofkanzlei und ihre Umformung ist aber nicht allein durch außenpolitische Verhältnisse bedingt, sondern auch ein neuer Beitrag zu den unsicher tastenden Organisationsversuchen, die die Anfänge der Regierung des Kaisers Franz kennzeichnen.

Fr. Reinöhls ( 965) Untersuchung über die österreichischen Informationsbureaux des Vormärz, ihre Akten und Protokolle erreicht nicht nur den angestrebten Zweck, diese für die Erforschung der popularen Bewegung der ersten Hälfte des 19. Jhds. so wichtigen Bestände der Forschung zu erschließen, sie gibt darüber hinaus noch Einblick in die zu Überwachung dieser Bewegungen auf Initiative des Fürsten Metternich geschaffenen Organisationen, die »Mainzer Zentralpolizei«, das »Zentralinformationskomitee« in Wien und seine ungarischsiebenbürgischen und galizischen Sektionen. -- Grillparzers Verhältnis zur preußisch-deutschen Politik, das A. E. Schaefer ( 994) untersucht, ist von der dem Österreicher der ersten zwei Drittel des 19. Jhds. eigentümlichen Verflechtung großösterreichischer und großdeutscher Gedanken bestimmt. In sorgsamer Untersuchung wird gezeigt, wie das Urteil des Dichters durch die sein Leben bestimmenden geistigen Mächte und die jeweilige politische Lage geformt wird. -- Die umfangreiche, sehr ins einzelne gehende Arbeit Hugelmanns über die österreichischen Landtage im J. 1848 ( 992) behandelt nur Niederösterreich (knapper zusammenfassend auf Grund einer älteren Arbeit), Oberösterreich, Salzburg und Steiermark, aber in ausführlicher Darlegung der Verhandlungen der Landtage und unter Beigabe reichen Aktenmaterials. Da für Tirol und Vorarlberg die Arbeiten H. Gsteus vorliegen, haben wir mit Ausnahme Kärntens eine vollständige Übersicht über die Landtage der heutigen österreichischen Bundesländer in jener Zeit. --

Was H. Oberhummer ( 991) auf Grund der nicht sehr reichhaltigen Akten über die Wiener Polizei im Revolutionsjahr 1848 zu berichten vermag, ist recht dürftig. Daß im Spiegel der Geschichte eines der wichtigsten staatlichen Machtapparate, seines Überganges an die Stadtgemeinde und schließlich wieder seine Unterstellung unter militärischen Befehl die ganze Dynamik von Revolution und Gegenrevolution dargestellt werden könnte, scheint dem Verfasser nicht klar geworden zu sein. -- H. Kerchnawe ( 989) untersucht die Stellung des Fürsten Windischgrätz zur Russenhilfe gegen Ungarn im J. 1849. Er zeigt, wie in militärischen Kreisen der Gedanke aufkam, Galizien durch die Russen besetzen zu lassen, um die dort garnisonierenden österreichischen Truppen für den ungarischen Feldzug freizubekommen, ein Gedanke, der aus der Praxis der konservativen Mächte zur Abwehr der polnischen Aufstände den maßgebenden Kreisen vertraut war. Der Beschluß, das Eingreifen einer russischen Armee auf dem Kriegsschauplatz zu erbitten, sei im österreichischen Ministerrat unter dem Einfluß des Feldzeugmeisters von Welden, des Nachfolgers des Fürsten Windischgrätz im Kommando in Ungarn gefaßt worden. Für eine endgültige Entscheidung dieser Frage, zu der die Arbeit Kerchnawes im Anhang ein reiches Belegmaterial aus den österreichischen Ministerratsprotokollen bringt, wird man eine seit längerm angekündigte Monographie über den Fürsten von P. Müller und eine Arbeit über die Russenhilfe, die von ungarischer Seite in Angriff genommen ist, abwarten müssen. -- Daß das österreichische


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Ultimatum an Sardinien, das den Krieg von 1859 herbeiführte, ohne Wissen des Außenministers von der Militärkanzlei des Kaisers ergangen sei, ist oft, zuletzt in dem Franz-Joseph-Buch Joseph Redlichs behauptet worden. Nun zeigt v. Paić ( 1014) an Hand der Protokolle der Ministerkonferenzen, daß dem Minister des Äußeren Grafen Buol die Verantwortung für diesen schwerwiegenden Entschluß anzulasten ist.

Über Engels Untersuchung über die Krise des J. 1864 wird an anderer Stelle zu berichten sein ( 1026). Der Beitrag zum Charakterbilde Kaiser Franz Josephs, den E. Heller ( 1106) bietet, ist vornehmlich aus den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates der J. 1875--1878 geschöpft. Er erörtet die Stellung des Kaisers zu den Parlamenten, seinen persönlichen Einfluß auf die Führung der auswärtigen Politik, von der die Akten wohl erkennen lassen, daß er den Gang der diplomatischen Verhandlungen außerordentlich genau verfolgte, während sich für die Initiative des Herrschers selbst nur gelegentlich Anhaltspunkte finden. Daß diese aber im Falle der Wendung der österreichischen Politik nach Südosten doch stark war, sucht Heller an einzelnen Beispielen zu erweisen. Der Essai, den A. Chroust ( 1104) auf Grund der Biographien von J. Redlich und K. Tschupnik (1928: 848, 848a) der Persönlichkeit Kaiser Franz Josephs widmet, ist nicht zuletzt interessant als Dokument für die typischen Ressentiments des Deutschösterreichers aus der zweiten Hälfte des 19. Jhds. gegen den Herrscher und die von ihm vertretene Politik. Sachlich fordert er vielfach zum Widerspruch heraus, so scheint uns zum Beispiel die Ansicht unhaltbar, der Entschluß zum Kriege mit Serbien im Sommer 1914 sei als Hintansetzung des Staats- hinter Hausinteressen zu erklären. --

K. Tschuppik ( 1107) hat seine Feder nun auch an einer Biographie der Kaiserin Elisabeth versucht. Wie bei dieser Art von Literatur üblich, bewegen sich die gewandt geschriebenen, aber sachlich unergiebigen Ausführungen hauptsächlich in psychologischen Deutungsschemata, die dem Unterhaltungsroman entnommen sind. -- Im Berichtsjahr sind drei Werke über den Erzherzog Franz-Ferdinand erschienen. Von ihnen hat das unerfreuliche Buch seines Arztes ( 1168), das in der Hauptsache Klatsch bietet, für den Historiker nur geringes Interesse. Am wertvollsten ist das Buch Chlumeckys ( 1167), der Material aus dem Nachlaß seines Vaters Johann v. Chlumecky und vor allem aus dem Nachlaß des engsten Mitarbeiters des Erzherzogs, des Obersten Brosch, vorlegen kann. Sosnosky dagegen ( 1166) hat den ersten Versuch einer Biographie vorgelegt, auch er auf wertvolles Material gestützt, so auf Mitteilungen der Stiefmutter des Erzherzogs, Maria Theresia. So sehr diese Bücher unsere Kenntnisse erweitern, mit ihrer Grundthese, daß die Persönlichkeit des Erzherzogs der Doppelmonarchie neue Lebenskraft hätte eingeben können, wird man kaum einverstanden sein. Noch ist der Nachlaß des Erzherzogs mit den zahlreichen von bedeutenden Politikern und Gelehrten ausgearbeiteten Gutachten über eine Neuordnung der Monarchie nicht zugänglich. Aber auch, wenn wir dieses Material einmal näher kennen werden, wird es schwer sein, die realen Absichten des Erzherzogs zu ermitteln. Wissen wir doch, daß er als Thronfolger seine Pläne mehrfach änderte. Wer will sagen, was er als Herrscher aus der Sphäre der Projekte in die der verantwortlichen Politik tretend unternommen hätte und wie sich diese Maßnahmen ausgewirkt hätten. -- Der sechste Band der neuen österreichischen Biographie ( 48) enthält die Lebensbilder von Max Büdinger


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(Redlich), H. Makart (A. Weixlgärtner), Sigm. Exner (A. Durig), F. R. Seligmann (A. F. Seligmann), J. Minor (R. F. Arnold), Salomon Rothschild (Corti), Karl Grabmayr (E. Benedikt), C. Neußer (N. Ortner), A. Nikisch (J. Korngold), Franz Exner (H. Benndorf), H. Schuchhardt (E. Richter), Camillo Sitte (H. Sitte), Auffenberg (Steinitz), A. Pettenkofen (A. Weixlgärtner), F. Kürnberger (J. Halpern), R. v. Lieben (K. Przibram), F. Freih. v. Wieser (H. Mayer).

Das Buch von J. Deutsch über die österreichische Gewerkschaftsbewegung ( 1592) ist in einer neuen Auflage erschienen, die die Geschichte der sozialistischen Gewerkschaften vornehmlich bei den Deutschen, doch auch bei den Tschechen behandelt. Mehr Chronik als historische Darstellung enthält das Buch doch eine Fülle brauchbaren Materials zur Geschichte der Arbeiterbewegung und zugleich auch der nationalen Gegensätze, denen sich im alten Österreich auch eine bewußte übernationale Bewegung wie der Sozialismus nicht zu entziehen vermochte. --

Die Spiegelung der nationalen Gegensätze in der politischen Literatur untersucht die Arbeit Wolkans ( 1103) über den österreichischen Staatsgedanken und seine Wandlungen im Zeitalter Franz Josephs. Er entwickelt die Programme der »Nationalliberalen«, Klerikalen und Sozialisten und erörtert die spezifischen Schwierigkeiten und sehr verschiedenen Möglichkeiten einer »Föderalisierung« der Donaumonarchie. Auch wenn man sich mit den Urteilen des Verfassers nicht völlig identifiziert, so ist die zusammenfassende Analyse dieser politischen Literatur wertvoll und schließlich auch der Hinweis, daß das Urteil über eine Neugestaltung Österreichs nie die Tatsache außer acht lassen darf, daß es sich hier um eine Großmacht handelt, bei der sich die Probleme der Innen- und Außenpolitik untrennbar verflechten. -- Die Ausführungen J. Brauners ( 1164) über Bosnien vor Kriegsausbruch sind in der Hauptsache eine Auseinandersetzung mit den polnisch erschienenen Memoiren des k. u. k. gemeinsamen Finanzministers Bilinski (ein deutscher Auszug im Jahrbuch der österreichischen Leogesellschaft 1926) und nimmt gegen den Minister, dem die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina unterstand, den Landeschef General Potiorek in Schutz, bringt aber auch sonst eine Reihe bemerkenswerter Mitteilungen über die Verhältnisse in den annektierten Provinzen.

Aus der Literatur über Österreich im Weltkrieg und den Untergang des alten Staates, die an anderer Stelle besprochen wird, sei auf das Werk des Ungarn O. Jászi ( 1248) verwiesen. Neben dem Buch von E. Glaise, »Die Katastrophe«, wird es als Versuch einer Darstellung des Zerfalls der Donaumonarchie heranzuziehen sein, gerade weil es vom Standpunkt des demokratisch gerichteten Magyaren und Anhängers des Grafen M. Karolyi die Dinge von einem anderen, allerdings vielfach verzerrenden Standpunkt sieht.


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