II. Gesamtdarstellungen.

In der Entwicklung und Vertiefung des tschechischen Nationalgefühls nimmt der Historismus als neue Werte zeugende Kraft einen ersten Platz ein. Daher ist auch in keiner anderen Geschichtswissenschaft die Frage nach dem »Sinn« des Geschichtsablaufs so oft gestellt und so verschieden beantwortet worden wie in der tschechischen. Seit Masaryks Auftreten ist diese Frage nie mehr zur Ruhe gekommen und wurde geradezu zu einem wissenschaftlichen Politikum für die Tschechen, als Pekař zum ersten Male 1912 einen energischen Vorstoß gegen Masaryks Anschauungen vom Geschichtsablauf der tschechischen Geschichte unternahm. Dem gleichen Zwecke dient die neue Schrift Pekařs ( 164) über den Sinn der tschechischen Geschichte. P. stellt sich an der Spitze eines jungen tschechischen Forschergeschlechtes so ein: »Wir glauben an keine hohe ursprüngliche altslawische Kultur ... und wir legen das Hauptgewicht darauf, daß vielleicht alles, was unter dem Begriff Kultur zusammenzufassen ist, nach Böhmen vom Beginne seines staatlichen Lebens die Fremde gebracht hat ... Alles, nicht nur das Berühren nach der Formel Palackýs, sondern die ständige Übernahme, das ständige Unterliegen, die ständige Sättigung mit dem Lebens- und Gedankenbilde der fortschrittlicheren Nachbarn der germanischen und romanischen Welt ist die mächtigste und weitaus bedeutendste Tatsache und Triebkraft unserer Geschichte.« Diese programmatische, für die sudetendeutsche Wissenschaft unschätzbaren Wert besitzende Schrift bildet zugleich eine Auseinandersetzung mit Pekařs Hauptgegnern, die sich besonders in der Bewertung der Hussitenzeit gegen ihn wandten.

Pekařs Kampf gegen die von soziologischer wie philosophischer Seite vorgetragenen Anschauungen über die tschechische Geschichte konnte auch vor Rádls (Jahrg. 1928, Nr. 178) »Kampf zwischen Tschechen und Deutschen« nicht halt machen, zumal dieser unmittelbar auf Masaryks historisch gestütztem Humanitätsideal aufbaut. Gerade um dessentwillen bemüht sich R. um den Nachweis, daß es entgegen Palackýs Darstellung in der sudetenländischen Vergangenheit viel weniger nationale Kämpfe gegeben habe, als man gemeinhin angenommen, weil überhaupt das nationale Moment zuungunsten des Humanitätsideals von der modernen Forschung überschätzt worden sei. Die von R. vorgebrachten historischen Beweise sprechen jedoch nicht dafür. Eher teilt man seine Auffassungen über die Gegenreformation und die Aufklärungszeit. Auf weite Strecken verdienen R.s Darlegungen der nationalen Verhältnisse in der neueren und allerneuesten Zeit Anerkennung, in denen er sich mutvoll gegen alteingelebte Vorurteile und neugebildete Ideologien der Tschechen wendet, die sich fast sämtlich zum schweren Schaden des Deutschtums ausgewirkt haben.

Einen wesentlich solideren Unterbau weist A. Fischel: Das tschechische


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Volk, Breslau, Oppeln (Priebatsch) 1928, I/II. Bd., XVI u. 234 S., 108 S., auf. F.s Werk ist aus dem Nachlaß herausgegeben worden und besitzt daher auch alle Mängel solcher Werke. Es fehlt die innere Ausgeglichenheit, vor allem auch die Vollständigkeit. Der zweite Band enthält mehr lose aneinander gereihte Sonderkapitel.

Dem gegenseitigen Verhältnis der Tschechen und Deutschen in den Sudetenländern spüren wie Fischer vom gegenwartspolitischen Standpunkte K. Krofta und B. Kafka in ihren beiden unter dem Titel »Die Deutschen in der Tschechoslowakei«, Prag 1928, 74 S., zusammengefaßten polemischen Artikeln, die 1927 in der Ztschr. f. Politik erschienen, nach, wobei Krofta die deutsche Entwicklung und Stellung ähnlich wie 1924 in seiner Broschüre »Die Deutschen in Böhmen« zeichnet. Man müßte fast zu jedem Satze des historischen Teiles ein Fragezeichen setzen und dies nur deswegen, weil der aktive Politiker in Krofta die Feder geführt hat. Die Einseitigkeit der Auffassungen für die neuere Zeit hat Kafka mit guten Gründen dargetan.

Neben die geschichtsphilosophischen oder durch die Gegenwartspolitik nahegelegten Gesamtdarstellungen treten andere von durchaus verschiedenem Gepräge. Einen Sonderplatz nimmt in der tschechischen Historiographie der letzten zwei Jahrzehnte Novotnýs ( 145) Böhmische Geschichte ein. Der dritte bis 1253 führende Band gibt willkommene Gelegenheit, die deutschen Forscher mit Nachdruck auf dieses Werk hinzuweisen, aber auch seine Eigenart zu bestimmen. N.s Werk ähnelt in seiner Anlage am ehesten den Deutschen Jahrbüchern älteren Stils. Damit ist bereits angedeutet, daß N. die mehr annalistische Darstellungsweise gewählt hat und besonders in der politischen Geschichte von Jahr zu Jahr fortschreitet. Sonst finden sich aber eingehende sachliche Kapitel wie Verfassung, Kirchengeschichte, materielle, geistige Kultur usw. Freilich bleibt das Hauptmerkmal dieser Gesamtdarstellung die Analyse. Hatte Palacký seiner Nation eine Gesamtkonzeption böhmischer Geschichte in glühenden Farben vor Augen gestellt, die Darstellung mit philosophischem Geiste durchtränkt, so gehört N.s fast ausschließliche Liebe dem Einzelfaktum, dem Detail, der Kritik. Obwohl er sich in gewissen Grundauffassungen durchaus mit Palacký einig und von Peckař getrennt weiß, berichtigt seine Detailforschung doch wesentlich das Bild der böhmischen Frühgeschichte gegenüber Palacký. Aber auch Bachmanns Geschichte wird durch Heranziehung eines unvergleichlich größeren, meist tschechisch geschriebenen Materials wesentlich überholt.

Neben Novotnýs Geschichte fällt Juritschs (Jg. 1928 Nr. 600) posthume Arbeit, wohl ursprünglich auch als Gesamtdarstellung der böhmischen Geschichte, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen gedacht, gewaltig ab. Es ist ein Beispiel dafür, wie es beim gegenwärtigen Stande der Forschung nicht mehr gemacht werden soll. J. ist über den Stand der Forschung in seinen früheren, verdienstlichen Arbeiten nicht mehr recht hinausgekommen.

Gut führt in die historisch-geographischen Probleme der Sudetenländer F. Machatschek: Die Tschechoslowakei (Berlin, Zentralverlag, 1928, 79 S.) ein. Er hebt die Grundgedanken von Hassingers Tschechoslowakei wie seiner eigenen Landeskunde der Sudetenländer heraus.

Daß die Arbeit auf dem Gebiete der Ortsgeschichte in den letzten Jahren sehr rege war, ging bereits aus früheren Berichten hervor, und erhellt nun aus


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dem eingehenden Referate Šimáks ( 229) über eine ganze Reihe böhmischer Stadtgeschichten. In Böhmen hat Vančuras ( 262) schon Jb. III, S. 610 besprochene Klattauer Stadtgeschichte eine Fortsetzung erfahren. -- Hatte Prag in Tomek einen vorzüglichen Historiographen gefunden, so schien dies auch Brünn beschert zu werden, als Bretholz 1911 den ersten, bis 1419 reichenden Band der Brünner Stadtgeschichte schrieb. Leider hat dieser bisher keine Fortsetzung erhalten, so daß Šujan ( 238), der 1902 eine Art Heimatkunde oder Stadtchronik Brünns vorlegte, sich zu einer Neubearbeitung seines Buches entschloß. Freilich ist damit die tatsächlich vorhandene Lücke bei weitem nicht ausgefüllt worden. Wohl ragt Š. etwas über das Niveau der oftmals anzutreffenden Heimatforscher hinaus. Aber von einer Bewältigung des umfangreichen Stoffes kann keine Rede sein, so daß diese Darstellung nie den üblichen Stadtchronikcharakter hat abstreifen können. In diesem Urteil sind sich auch Kameníček ( 87) und Šebánek ( 224) einig. -- Ein zweites über Brünn erschienenes Gesamtwerk von Kožíšek ( 103a) verdankt der Brünner Gesamtstaatsausstellung seine Entstehung. Es gleicht in vielem den vom Berliner Verlage für Kommunalpolitik für deutsche Städte wie Landschaften herausgegebenen Monographien. Eine Reihe von meist der Brünner tschechischen Universität angehörenden Fachleuten haben sich zusammengetan, um die geschichtliche, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung Brünns ans Licht zu stellen.


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