VII. Kirchengeschichte.

In der älteren böhmischen Kirchengeschichtsforschung will der Streit um die Deutung des Privilegs von 1086 nicht zur Ruhe kommen, zumal verschiedene nationale Forscherlager an der Lösung interessiert sind. Wie früher bricht Zakrzewski ( 277) neuerlich für die polnische Auffassung eine Lanze. Lediglich das obere Waagtal könne als Einzugsgebiet des Prager Bistums noch in Frage kommen. -- Nach wie vor vereinigt sich das Hauptinteresse der Kirchengeschichtsforschung auf das 14.--17. Jhd. Zunächst sichert Šimák ( 228) für den ersten Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz Geburtszeit wie -ort. Als Terminus ad quem für die Geburt kommt 1310 in Frage, als Geburtsort aber Glatz. -- Die Frage der Genesis der hussitischen Bewegung ist in den letzten beiden Jahrzehnten lebhaftest besprochen, auch in weitem Maße geklärt worden. Immer wieder wurde im Anschluß an ältere Forscher auf die Sektierer des 14. Jhds. als wichtige Träger und Vermittler oppositioneller Kirchenlehren hingewiesen, unter denen die Waldenser den ersten Platz einnahmen. Eine bedeutende Vertiefung der Erkenntnisse brachten bereits die Arbeiten des katholischen Theologen Neumann (Jberr. II, 670). Holinkas ( 60) Verdienst besteht in der systematischen Darstellung des Sektenwesens vor der hussitischen Bewegung. Die taboritische Tradition weist auf das Sektenwesen des 14. Jhds. zurück. Chiliasmus, Adamitismus u. a. sind nichts spezifisch Böhmisches, sondern mit ähnlichen Erscheinungen des Abendlandes eng verbunden, wenngleich in Böhmen dieses Sektenwesen zeitweise eine verschärfte Ausbildung aufzuweisen hat. -- Für eine Reihe wichtiger Männer der unmittelbaren vorhussitischen Zeit, die als Wegbereiter des Hussitismus, aber auch als


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ernste Reformer im Rahmen der Kirche wirkten, erschienen Quellenausgaben und würdigende Gesamtarbeiten. Für Thomas Štítný liegt bereits ein zweiter, von Straka ( 236) besorgter Band seiner Sonntags- und Feiertagspredigten vor. Šimek ( 196) sammelte in einer mehr als 2000 Seiten umfassenden Ausgabe Rokycanas kirchlich, kulturhistorisch und politisch wichtigen Reden. Dem gleichen Zwecke dienen Bartoš' bibliographische Arbeiten ( 1) für die Hauptvertreter der hussitischen Bewegung. Nach Jakubek von Mies legt er nunmehr eine ähnliche bibliographische Arbeit für Jan Rokycana, Jan Přibram und Peter Payne vor. --Kvačala ( 109) versucht eine Gesamtrevision der Anschauungen über Hus und sein Werk, gestützt auf seine bisher wenig beachteten Bibelstudien, durchzuführen. K. zeigt, daß wohl Wiclifs Einfluß hoch anzuschlagen ist, daß aber Hus daneben besonders in seinen theologischen Schriften eine bestimmte Selbständigkeit bewahrt, auch nicht gleich anfangs, sondern erst 1411 alle Brücken zur offiziellen Kirche abgebrochen hat. --Stein ( 216) bringt einen Teilhaber der kirchlichen Bewegung in der zweiten Hälfte des 14. Jhds. wieder zu Ehren, den Mag. Nikolaus Biceps, einen ungefähr 1350 geborenen, 1390 gestorbenen Dominikanermönch, der 1389 durch den Ordensgeneral nach Böhmen zwecks Reform des Ordens geschickt worden war. -- Eine andere Priestergestalt dieser Zeit stellt ōíčan ( 205) in Johlin von Wodnian vor, der dem Zderaser Kreuzherrenkloster angehörte. Sein wichtigstes Werk war die 1403/4 zusammengestellte Postille, in der zu den religiösen Fragen der Zeit Stellung genommen, der sittliche Zustand, das Priestertum, wie die Waldenser scharf gegeißelt werden. -- Mit Recht lehnt Šimák ( 227) Hlošinas 1924 erschienenes Buch über das Schicksal der geistlichen Orden während der Hussitenzeit als unkritisch ab. --Navrátil ( 132) zeichnet ein offenbar aus volkstümlichen Vorträgen hervorgegangenes Gesamtbild Peter Chelčickýs. -- H. Singer: Ein neuer Beitrag zur Geschichte des Kirchengutes in der Hussitenzeit (Mitt d. Ver. f. Gesch. Böhmens 66 (1928), S. 18--37) lenkt die Aufmerksamkeit auf A. Neumanns 1920 erschienene Arbeit: »Církevní jmění za doby husitské, se zřetelem k Moravě« (Das Kirchengut während der Hussitenzeit, im Hinblick auf Mähren). Es ist klar, daß N. nichts Erfreuliches verkünden kann, wenn er gerade das Schicksal des Kirchengutes in dieser Zeit verfolgt. Vor allem zeigt das Stiftungswesen einen katastrophalen Verfall. -- Umfang und Intensität des in den Sudetenländern eindringenden Luthertums sind noch lange nicht restlos geklärt. So vermochte Th. Wotschke: Urkunden zur Reformationsgeschichte Böhmens und Mährens (Jberr. d. Ver. f. Gesch. d. Dt. in Böhmen II [1929], S. 117--166) 35 lateinische, in den Jahren 1563--1607 entstandene Briefe zu entdecken, die zur Gänze den Beziehungen zwischen Böhmen- Mähren und den lutheranischen deutschen Ländern (Wittenberg) ihre Entstehung verdanken. -- Immer größere Bedeutung erlangten im 16. Jhd. die Brüdergemeinden, deren Wirksamkeit auch in der Emigration nicht erlahmte, wie die Dissertation von E. Würfel: Die religiösen Bewegungen in Böhmen und Mähren und ihre geistigen Wechselbeziehungen mit Deutschland (Jberr. d. phil. Fak. d. dt. Univ. Prag V, 1927/28 [1929]) sich zu zeigen bemüht. -- Eine große Bedeutung erlangten in Mähren auch die Wiedertäufer. Hanák ( 57) beschäftigt sich eingehend mit einem ihrer Sonderzweige, der sich in Südmähren herausbildete, und zwar in Lilec. Der verwandten Habrovaner Gemeinde hat Odložilík 1923 eine besondere Darstellung angedeihen lassen. Diese Gemeinden waren

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vornehmlich von Zwinglis Lehren beherrscht. --Odložilík ( 150) legt der Wissenschaft neuerdings die von Jastrebov schon einmal herausgegebene Schrift Jan Blahoslavs »Über den Ursprung der Brüdergemeinde« von 1547 auf Grund einer neuen, besseren Handschrift vor. -- Einen wichtigen Weg für die Erforschung der Wiedertäuferbewegung in Mähren weist F. Hrubý ( 229). Die im 16. Jhd. sich nach Mähren aus der Schweiz, aus Tirol wie Süddeutschland flüchtenden Wiedertäufer waren Meister für die Innendekoration von Bauten, für Wasserleitungsanlagen, vor allem in der Majolikaerzeugung. Gerade diese Spezialkenntnisse der Täufer machten sich die mährischen Großgrundbesitzer zunutze, die Täufer mit Vorliebe auch als Verwalter, als Mühlenbauer usw. verwendeten. Erst das J. 1622 machte ihrem Aufenthalte ein Ende. Sie wandten sich nach Ungarn, in die Slowakei und haben von da aus noch durch das gesamte 17. Jhd. Mähren mit »täuferischen« Majolikawaren versorgt. -- Genug an »Ketzern« stellten sich demnach in den Sudetenländern der katholischen Reformpartei entgegen. Gerade da war es 1583 von allergrößter Wichtigkeit für die böhmischen Katholiken, daß nach der Einführung der Jesuiten, der Wiederbesetzung des Erzbistums, der Ankunft des Kaisers in Prag nunmehr auch die päpstliche Nuntiatur von Wien hierher übersiedelte. Gerade die Kenntnis der Tätigkeit der Nuntien in Prag ist zur Erklärung des religiösen Umsturzes in der Weißenberger Schlacht unumgänglich notwendig. Das für die Geschichte der Nuntiatur von 1581--84 vorhandene Material ist nur teilweise von Hansen, Ehse, Meister veröffentlicht worden. Stloukal ( 217) zieht nunmehr auch das übrige zu seiner aufschlußreichen Darstellung, die an seine frühere anknüpft (vgl. Jberr. I, 653), heran. Im Mittelpunkte steht der erste ständige Prager Nuntius Bonhomini. Ende 1583 übersiedelt er nach Prag. Die böhmische Frage wurde nun zu einer dauernden Hauptsorge der Nuntien. Bald entwarf er ein Rekatholisierungsprogramm, das sich zum Ziele setzte: Einrichtung von Jesuitenschulen, Überwachung der katholischen Geistlichkeit, Reform der hussitischen Universität, Visitationen ketzerischer Buchdruckereien, Vernichtung der durch die böhmischen Stände erlangten Religionsfreiheiten, Erzwingung eines neuen Ketzeredikts, Vereinigung der Hussiten mit Rom, Einführung des gregorianischen Kalenders, Besetzung der Landesämter durch Katholiken. Viel von diesem umfänglichen Programm hat erst in der Folgezeit die richtige Bedeutung erlangt. Sehr zu einem Mißvergnügen wurde Bonhomini 1584 zum Nuntius in Köln ernannt und so seinem böhmischen Reformwerk entfremdet. Malaspina, sein Nachfolger in Prag, setzte dessen Werk nicht fort, machte es vielmehr lächerlich. Damit wurde die Rekatholisierungsbewegung zeitweilig aufgehalten. -- Wieder in die Kreise der Nuntiatur führt Lívas ( 115) Beitrag zur Gegenreformation. Der Nuntius in Wien, Carafa, nahm sich zum Stellvertreter in Prag 1621 den deutschen Olmützer Kanoniker Johann Ernst Plateis von Plattenstein, der dann Carafa bestens unterstützte, ihm viele Meldungen erstattete und Material zu Berichten nach Rom lieferte. --Loesche Jberr. 1928, 1393) schöpft das Wiener Lichtensteinarchiv für die Darstellung des Ganges der Gegenreformation auf den Lichtensteinschen Herrschaften Mährens aus. -- Gegenreformatorischem Geiste entsprangen die von der Geistlichkeit geführten Beichtverzeichnisse, deren Veröffentlichung sich für die Prager Erzdiözese Šimák ( 230) zur lohnenden Aufgabe gemacht hat. Es handelt sich um kirchlich-statistische Quellen aus dem letzten Drittel des 17. und dem ersten Viertel des 18. Jhds. Bei der

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Schreibung der Namen scheint sich Š. allerdings nicht an die Form der Vorlage gehalten, sondern diese modernisiert zu haben, was abzulehnen ist.

Zum Schlusse ist eines Sonderzweiges des böhmischen Klosterwesens, der 1333 durch den Prager Bischof unter Vermittlung Pavias eingeführten Augustiner Chorherren in Raudnitz zu gedenken. Ziebermayer, I.: Zur Geschichte der Raudnitzer Reform [Mitt. d. öst. Inst. f. Gesch.forschung XI. Erg.B. (1929), 323--353], umreißt kurz die Geschichte dieser sich bald in zahlreichen Kanonien über Böhmen sich ausbreitenden, zunächst nur für geborene Tschechen bestimmten Neugründung, die bald auch auf deutsches Gebiet (Glatz, Mähren, Österreich) übergriff. In Böhmen entwurzelte der Hussitensturm auch diese Klöster, die sich nach der Raudnitzer Regel richteten. Obwohl der Ausgangspunkt Raudnitz im 16. Jhd. in Vergessenheit geriet, entwickelte sich diese Regel doch in Österreich und Bayern weiter. Aber es kam zu keiner Kongregation. -- Den drei mährischen Kanonien widmet Hofmeister ( 1739) eine Sonderarbeit, aus der folgt, daß diese zwischen 1500--1572 eine solche Kongregation untereinander geschlossen haben.

Steinherz ( 1989), der bereits im Vorjahre (Jberr. III, 620) einen Sammelband zur Geschichte der Juden vorlegte, erläutert die Nachricht des Cosmas zum Jahre 1096 und der Reimchronik Dalimils cap. 86, die beide von den durch Böhmen ziehenden Kreuzfahrern handeln, welche gegen die Juden vorgegangen sein sollen. Es gelingt S., durch Heranziehung jüdischer Geschichtsquellen des 12. Jhds. darzutun, daß sich Dalimils Angabe auf 1096 bezieht, daß Cosmas die Ereignisse in der Hauptsache verschwiegen hat und daß in diesem Jahre die Juden sich der sie bedrückenden und sie zur Taufe zwingenden frommen Kreuzfahrer erwehrten, sie besiegten. -- In die Zeit nach dem Weißen-Berge führt Prokeš ( 1990) mit seinen die Vorarbeit zu einem größeren zusammenfassenden Werke darstellenden Sonderkapiteln, wobei die Feststellung von besonderem Werte ist, daß zu Beginn des 18. Jhds. Prags Bevölkerung zu einem Viertel jüdisch war. P. bringt dann all jene Versuche der Behörden und der Bevölkerung, die Juden zu verdrängen, zur Darstellung. P.s Arbeit ist ebenso auf reichen Archivalien aufgebaut wie die Bergls ( 1991), der einer Judenaustreibung unter Maria Theresia eine besondre, sehr belehrende Abhandlung widmet. -- Ein nicht minder aufschlußreiches Sammelwerk legt Gold ( 1988) für die Geschichte der mährischen Juden vor. Eine große Zahl von Beiträgen werden da in einem luxuriös ausgestatteten Bande vereint, in dem naturgemäß Ungleichmäßigkeit herrscht. Ein erster Teil beschäftigt sich mit der Geschichte der Juden Mährens im allgemeinen; sodann ist ein besondrer Teil der Geschichte der einzelnen mährischen Judengemeinden gewidmet.


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