Einzelne Perioden der Schriftentwicklung.

Dobiaš-Roždestvensky ( 224) verzeichnet die ältesten lateinischen Hss. der Leningrader Bibliothek, jene Schätze, deren größten Teil einst Dubrovsky aus Frankreich nach Rußland gebracht hatte. Die Beschreibungen sind ausführlicher und sorgfältiger, als die von Staerk gelieferten, berücksichtigen die neuesten Forschungen und schenken besondere Aufmerksamkeit allen Merkmalen, welche die Geschichte der Kodizes aufhellen. -- Aus der letzten Lieferung des Archivio paleografico Italiano ( 237) erwähne ich hier drei Tafeln von der Unzial-Hs. Evangelia antehieronymiana purpurea (einst in Wien, jetzt im Museum von Trient). --Carusi und Lindsay ( 239) haben es sich zur Aufgabe gemacht, die berühmten Kodizes der Capitolare von Verona der Forschung zu erschließen. Das 1. Heft enthält den Sulpicius Severus, 517 von Ursicinus hergestellt, und weitere Arbeiten seiner Schreibschule. Der Text bringt eine Geschichte der Bibliothek sowie wichtige Bemerkungen zur Halbunziale. -- Eine glänzende Reproduktion des ganzen Missale Gothicum (Regin. lat. 317) veröffentlicht Mohlberg ( 244). Er untersucht Schrift, Miniatur, Sprache und Text. Sehr interessant ist die Feststellung der Identität der drei Schreiber mit den drei Malern. Der Kodex soll um 700 in Autun hergestellt sein, dabei ein gallikanisches Sakramentar aus dem Luxeuil-Kreis als Vorbild gedient haben.

Die eindringende Untersuchung Schiaparellis ( 226) über die Anfänge der westgotischen Schrift gelangt zu folgenden Ergebnissen: Die Kursive entwickelt ihre besonderen Eigentümlichkeiten zu Ende des 7. Jhds. (als Beispiel dafür wird Kod. Autun 27 in Anspruch genommen). Einen festen Typ zeigt das folgende Jhd. Dieser soll auch gewisse Einwirkungen durch die arabische Schrift erfahren haben. Die Minuskel ist eine kalligraphische Steigerung der Kursive mit Benutzung von Unziale und Halbunziale. -- Anschließend möchte ich die Paleografia española von Millares ( 241) erwähnen. Was sie auszeichnet, ist die stete Rücksichtnahme auf die Schrift des übrigen Abendlandes. So wird auch die nichtspanische Literatur ausgiebig verwertet. (Man vermißt die Veröffentlichungen von Kehr und dessen Mitarbeitern.) Seinem Vorgänger Villada macht M. (S. 352) mit Recht den Vorwurf, er kümmere sich zu wenig um die Beziehungen zwischen Buch- und Urkundenschrift, lasse ferner die anfängliche Sonderstellung Kataloniens außer acht. Leider wurde für den zugehörigen Tafelband ein viel zu kleines Format gewählt. -- Mit der Schrift der städtischen Notare von Neapel, dem sog. Curialesco, beschäftigt sich Gallo ( 240). Er leitet sie von der frühitalienischen Kursive her. Das älteste Original von 912 zeigt einen völlig ausgeprägten Lokaltyp, an dem mit ungewöhnlicher Zähigkeit, trotz des Verbotes Friedrichs II., bis gegen Ende des MA. festgehalten wurde. Die Beispiele aus den letzten Jahrhunderten wirken fast wie eine bizarre Stenographie. -- 1914 erschien Lowes ( 238) epochemachendes Werk «The Beneventan Script».


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Schon damals war eine große Faksimile-Publikation vorbereitet, gelangte aber erst fünfzehn Jahre später zu ihrem Abschluß. Jetzt ist uns Gelegenheit geboten, auf hundert Tafeln die eigenartige Entwicklung der Montecassineser Schreibschule, so wie sie L. meisterhaft analysiert hat, zu verfolgen. Vorangestellt sind nach Süditalien gehörende Unzial-Hss., darunter Bonifatianus I. aus Fulda. Der reiche Kommentar liefert zugleich einen wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte des Klosters. In dem beabsichtigten Textsupplement wird L. hoffentlich nochmals die Frage erörtern, ob man in Montecassino auch die karolingische Minuskel pflegte. Seine bisherigen Bemerkungen im Vorwort und zu den Tafeln 26, 51, 58 vermögen micht nicht zu befriedigen. -- Den Versuch der Roždestvensky, die gotische Schrift von der Cassineser herzuleiten, lehnt Schiaparelli ( 225) mit überzeugenden Gründen ab.

Einen Überblick über die Schreibschule von St. Gallen bis 800 verdanken wir Löffler ( 228). Er bespricht die insularen und vorkarolingischen Hss., im besonderen die des Winithar. Erschöpfende Behandlung des Themas war wohl nicht beabsichtigt, sonst hätten gerade bei St. Gallen auch die Urkunden in den Kreis der Betrachtung gezogen werden müssen. --Lauer ( 227) unterzieht sich der fast überflüssig erscheinenden Mühe, die schon 1916 von Gaudenzi aufgestellte Behauptung, die karolingische Minuskel sei eine römische Schöpfung aus der Regierungszeit Hadrians I., als unhaltbar nachzuweisen. -- Der berühmten Ada-Hs. ist ein Aufsatz von Kentenich ( 251) gewidmet. Er sammelt die schon bekannten Argumente, um ihre Entwicklung nach Mainz zu verlegen. -- Unter der großen Zahl karolingischer Skriptorien gilt seit Delisles 1885 erschienener Abhandlung die von Tours als die vornehmste. In straff organisierter, unermüdlich vorwärtsstrebender Arbeit verfolgten die Mönche das doppelte Ziel: nicht bloß dem neuen Schönheitsideal zu entsprechen, sondern auch den Inhalt übersichtlich zu gestalten. Regenerierte Kapitale, Unziale und Halbunziale gelangten bei Überschriften und Vorworten zur Verwendung, während der Text der neuen, noch kalligraphisch gesteigerten Minuskel vorbehalten blieb. Selbst die verzierten Initialen und das Rahmenornament mußten sich dem praktischen Zwecke unterordnen. So ward die ganze Hs. zum klar durchgebildeten und zugleich harmonisch abgestimmten Kunstwerk. Diese Bemerkungen geben wohl den Haupteindruck wieder, den Rands ( 235) großartiges Tafelwerk bei jedem Beschauer hinterlassen muß. Er verfolgt die Touronische Schreibschule vom 6. bis 12. Jhd. und verteilt ihre Erzeugnisse auf zwölf Klassen. I. und II. gehören zur vorkarolingischen Epoche. Die Hss. von III. gruppiert R. um den Livius (Regin. lat. 762), den er schon früher eingehend untersucht und in die Zeit vor Alcuins Abtregiment gesetzt hat. IV. zeigt die von letzterem durchgeführte Schriftreform. Unter seinem Schüler, dem Abt Fridugis, erhebt sich der «regelmäßige» zum «vollendeten» Typ. Die Jahrhundertmitte bringt die Meisterwerke, darunter das Lothar-Evangeliar (Paris lat. 266). Mit VII. beginnt der Niedergang. VIII. läßt eine Kreuzung mit dem franko-sächsischen Stil (vgl. Rand 236) erkennen. X., XI. und XII. entsprechen dem 10. bis 12. Jhd. Den zweihundert Tafeln hat R. eine genaue Hss.-Beschreibung beigefügt. Hinzukommt die ausführliche Einleitung. In ihr wird u. a. nochmals (vgl. Jberr. 1927, S. 126) die alte und neue Methode der Blindliniierung erörtert, die Abkürzungsfrage sorgfältig behandelt und eine Übersicht über die Touronische Schriftentwicklung gegeben. Die Wichtigkeit des von R. geschaffenen Werkes erhellt aus


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der Inhaltsangabe. Es bedarf keiner weiteren Lobeserhebung. Hingegen seien, da Verfasser selbst seine Untersuchungen als noch nicht abgeschlossen bezeichnet, einige Bedenken angemeldet: Läßt sich der Übergang von der alten zur neuen Linierungsmethode wirklich zeitlich so genau fixieren? Sodann: Bezeichnungen wie (nr. 153, 161, 165) Decadent Perfected and Revived Cursive oder (nr. 29) Improved (Embellished?) Cursive entbehren der wünschenswerten Klarheit. Ferner scheint es mir bedenklich, für die Verfallszeit bewußte Tendenzen (S. 69: return to nature, reaction from art) anzunehmen. Sollten sich nach Lockerung der festen Schultradition die für Urkunden damals noch ganz üblichen Kursiv-Elemente nicht einfach in den Hss. Eingang verschafft haben? Des weiteren eine Kleinigkeit: die Besitzvermerke von nr. 67 und 83 können schwerlich noch dem 12. Jhd. angehören. Endlich die Hauptfrage: Sind Klasse III., IV. und V. richtig datiert? Mit andern Worten: Beginnt die Ausgestaltung des Touronischen Stils wirklich mit Alcuin? Geht sie auf seine Initiative zurück; war er überhaupt an der Schriftreform ästhetisch interessiert? R. hält mit allem Nachdruck an der von ihm schon früher vertretenen These fest. Doch unter den mit größtem Eifer zusammengetragenen Gründen findet sich, wie ich meine, kein neuer von durchschlagender Beweiskraft. Die Entscheidung wird wohl erst R.'s Auseinandersetzung mit Köhler bringen. -- Die Frage hat sich dadurch etwas verschoben, daß Kodex Köln 106, welchen nach der bisherigen Ansicht Alcuin in Tours für Arn von Salzburg herstellen ließ, jetzt wohl mit Recht von L. W. Jones (im Speculum 4, 27) für das Kölner Skriptorium in Anspruch genommen wird.

An ein größeres Publikum wendet sich Lerches ( 248) Aufsatz über Reichenau und seine Kunst, ohne neue Gedanken dabei zu entwickeln. Störend wirkt das Verherrlichen des MA. auf Kosten der Gegenwart. -- Zwei von Fischer ( 245) herausgegebene Hefte enthalten schöne Buntreproduktionen der zu Bamberg befindlichen Hss. der Reichenauer Schule. Die Beilage zum letzten Heft handelt von den Kaiserbildern und bekämpft zu Unrecht Schramms Ansichten, sowohl was die Beziehung zu Otto III., als auch die zeitliche Folge der Hss. anbetrifft. --Toesca ( 256) unternimmt den kaum gelungenen Versuch, für die italienischen Riesenbibeln, durch Vergleich ihrer Miniaturen mit Denkmälern der Freskomalerei, als Entstehungsort Umbrien und das Gebiet um Rom nachzuweisen. -- Faksimiles von einem reich illustrierten Gebetbuch, welches sich heute in der P. Morgan-Sammlung befindet, ediert E. Ph. Goldschmidt ( 254). Es soll nach ihm von Otto von Wittelsbach (dem späteren Königsmörder) der h. Hedwig, Herzogin von Schlesien, für die Abtei Trebnitz geschenkt worden sein. Dem widerspricht Klapper und lokalisiert den Kodex in dem Zisterzienserinnenkloster Oslavan (Diöz. Olmütz), läßt aber die Frage nach der Malerschule noch offen.

Als erstes Faszikel einer größeren Sammlung «Exempla scripturarum» geben Katterbach u. a. ( 230) «Codices latini saec. XIII.» heraus: Zunächst Beispiele aus den päpstlichen Registern, sodann Proben von vatikanischen Hss. Darunter finden sich bekannte Autographen des Thomas von Aquino und des Fra Salimbene. Hinzukommt ein neuentdeckter von Roger Bacon (nr. 17 u. 18). Wir begrüßen es, daß nur zeitlich genau bestimmbare Stücke ausgewählt wurden. Das Beiheft bringt sorgfältige Inhaltsangaben. Doch vermißt man vollständige Transskriptionen, noch vielmehr näheres Eingehen auf die paläographischen


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Probleme. Dabei besaßen die Herausgeber an Ehrle und Liebaert's Publikation ein so vorzügliches Vorbild! -- Die sorgfältige und feinsinnige Arbeit Stanges ( 253) untersucht eine Reihe von Hss. (c. 1200 bis c. 1240), welche er um das Goslarer Evangeliar gruppiert. Ihr Miniaturenschmuck redet eine eigene Formensprache, läßt aber Einflüsse von England her vermuten, die vielleicht die Welfen vermittelt haben. Kulturgeschichtlich noch interessanter ist das enge Sichanlehnen an byzantinische Vorbilder, um auf diesem Wege zur selbständigen Erfassung der Wirklichkeit zu gelangen. -- Wie der zuletzt angedeutete Prozeß sich im einzelnen vollzog, können wir jetzt genau verfolgen, dank der vorzüglichen Veröffentlichung von Hahnloser ( 252). Es handelt sich um das Wolfenbütteler Muster- oder Skizzenbuch, eines der wenigen aus damaliger Zeit erhaltenen Exempla. Die Zeichnungen ahmen unverkennbar Muster des byzantinischen Kulturkreises nach und zeigen doch zugleich das eigene Wollen des Künstlers. Möglicherweise ist er mit dem Schöpfer des Goslarer Evangeliar identisch. -- 1927 wurde die Weingartner Liederhs. von Löffler ( 247) im Faksimile herausgegeben. Nunmehr will er sie in Konstanz entstanden wissen und mit dem kunstfreundlichen Bisch. Heinrich von Klingenberg in Verbindung bringen, gesteht aber selbst, daß er nur Wahrscheinlichkeitsgründe anzuführen vermag. --Kloss ( 255) beschreibt die Filigran (Fleuronnée)-Initialen. Sie bestehen aus einem festen Buchstabenstamm, der mit zartem Ornament gefüllt ist. Vom Ausgang des 13. bis zur Mitte des folgenden Jhds. lassen sie sich in Böhmen und anschließend in Schlesien nachweisen. -- Das spätma.liche Evangelistar des Trierer Domschatzes enthält mancherlei Bemerkenswertes, so das lebenswahre Porträt Erzbischofs Kuno von Falkenstein (es wirkt wie eine Illustration zur Persönlichkeitsschilderung des Kirchenfürsten in der Limburger Chronik), ferner Nachbildungen von Miniaturen des Egbert-Kodex. Wir sind Remy ( 250) für Untersuchung des Evangelistars dankbar. Seine Annahme, der Erzbischof habe eine eigene Buchmalerwerkstatt besessen, bedarf wohl noch der Nachprüfung.

Das neueste Heft von Chrousts ( 222) Monumenta palaeografica bringt den Abschluß der Urkunden der askanischen Markgrafen (vgl. Jberr. 1928, S. 98), ferner Beispiele aus Geschäftsbüchern der Wittelsbacher Kanzlei in der Mark. -- In dem schon erwähnten Faszikel des Archivio paleografico Italiano ( 237) sind Blätter vom Chartular des Trientiner Hochstifts (sog. Codex Wangianus) reproduziert. Sie können als Studienmaterial für die deutsch-italienische Schriftgrenze dienen. --Mehring ( 231) ediert Schriftproben von württembergischen Urbaren und Lagerbüchern des 14. bis 18. Jhds., erhebt dabei weder den Anspruch der Vollständigkeit, noch will er der paläographischen Forschung dienen, vielmehr nur den Lokalhistoriker mit dem Schriftcharakter der Archivalien vertraut machen. Er gibt bloß Transskriptionen, keinen weiteren Kommentar. Bedeutet ein derartiges Verfahren nicht Mechanisierung unserer Wissenschaft?


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