I. Genealogie.

Trotz ungewöhnlicher Ausbreitung des genealogischen Schrifttums fehlt es ihm noch immer sehr an Tiefe und System. Seit dem Erscheinen von Lorenz' Werk 1898, das selbst noch kein durchgegliedertes Lehrgebäude


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errichten konnte, ist es über erste Ansätze zu einer genealogischen Systematik noch nicht hinausgekommen. Friedrich von Klocke ( 287) stellt dieses Thema in einem anregenden Aufsatz zur Debatte, in dem er an einigen Beispielen aufzeigt, wie sehr Begriffe und Bezeichnungen heute noch durcheinanderlaufen, und daran einzelne Versuche anschließt, aus dem gegenwärtigen Zustand heraus- und weiterzukommen. Klocke trägt Wesentliches bei zur Klärung der Begriffe Geschlecht und Familie, Reihe und Linie, wobei er seine schon öfter vorgetragene Methode, die Ahnenbezifferung nicht mit den Probanden, sondern erst mit den Eltern beginnen zu lassen, verteidigt. Es ist dagegen geltend zu machen, daß die Ahnentafel eine Einheit bildet, die überhaupt nur durch die Person des Probanden ein zusammengehöriges Ganzes wird -- die von Klocke mit den Eltern beginnende Bezifferung umschließt Personen, die nur durch Ehe oder Konkubinat verbunden sind, während die mit dem Probanden beginnende Bezifferung eine abstammungsmäßig verbundene Reihe umfaßt. Dankenswert ist die Klärung der Begriffe Proband und Probant durch Klocke. Innerhalb des gesamten Wissenschaftssystems weist Klocke die Genealogie den Gesellschaftswissenschaften zu.

Joh. Hohlfeld hat im letzten Heft der leider eingegangenen Zeitschrift »Archiv für Politik und Geschichte« (Jahrg. 1929, 2, S. 131--137) die Beziehung »Genealogie und völkische Frage« behandelt und in diesem Aufsatz die Neubelebung der Genealogie aus den politisch-geistigen Strömungen der Gegenwart abgeleitet. Die aus der Ahnenforschung gewonnene Erkenntnis der Ahnengemeinschaft muß nach seiner Darlegung zu dem entscheidenden Punkte führen, »von dem aus den durch die völkische Bewegung aufgerollten Fragen wissenschaftlich beizukommen ist«.

Die besondere Aufgabe der Genealogie auf dem Gebiete der Auslandsdeutschenforschung hat Joh. Hohlfeld in seinem Festvortrag zur Feier des 25jährigen Bestehens der Leipziger Zentralstelle »Auslandsdeutschenforschung« (Familiengeschichtliche Blätter, Jg. 27, 1929, Sp. 161--170) umrissen. Seine Vorschläge zur Inventarisierung der Auswandererakten und zur Anlegung einer Zentralkartei der deutschen Auswanderer sind inzwischen durch die Arbeiten des Reichsarchivs und durch die Anlegung der Kartei in der Leipziger Zentralstelle der Verwirklichung entgegengeführt worden.

Einen nützlichen Überblick über die Entwicklung der Genealogie im letzten Vierteljahrhundert sowohl in wissenschaftlicher wie organisatorischer Richtung bietet die Festschrift Hohlfelds zum 25jährigen Bestehen der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig ( 288). Seit 1904 um die organisatorische und bibliographische Sammlung bemüht, hat die Zentralstelle in den letzten Jahren eine besonders lebhafte publizistische Tätigkeit entfaltet, als deren vielversprechende Fortsetzung das Sammelwerk »Ahnentafeln berühmter Deutscher« ( 294) zu erwähnen ist. Da noch die (5.) Schlußlieferung mit den wissenschaftlichen Gesamtergebnissen des Werkes im Augenblick des Berichtes aussteht, soll diesen nicht vorgegriffen werden. Gegenstand der Untersuchung ist hier, im Gegensatz zu anderen Werken, wie etwa der »Edda«, nicht eine einseitige soziale Führerschicht wie der Adel, sondern die geschichtlich bedeutungsvolle Persönlichkeit aus allen Schichten des Volkes, »abgeleitet aus ihren blutmäßigen Lebensgrundlagen, verwoben in den bunten Teppich ihrer Vorfahren, das Ergebnis einer oft staunenerweckenden


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Mischung heterogenster Blutzuflüsse«. Zutreffend bemerkt Steinberg (Familiengeschichtliche Blätter 1929, Sp. 185), daß hier die volkhafte Einheit und Unzertrennbarkeit der Nation, ja darüber hinaus auch ihre Durchdringung mit fremdem Blut, wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen wird. Aus der Reihe der behandelten Probanden seien genannt die Reichskanzler Fürst Bülow, Graf Hertling, Prinz Max von Baden, die Generale Graf Roon, Graf Zeppelin, Graf von Starhemberg, Freiherr von Manteuffel, die Philosophen Kant, Wundt, Lagarde, Feuerbach, Strauß, die Dichter Lessing, Ludwig, Raabe, Novalis, A. Grün, Meyer, die Maler Menzel und v. Gebhardt, die Musiker Brahms und Wagner, die Industriellen Krupp, Riebeck und Siemens, die Mediziner von Bergmann, Billroth und Röntgen. Alle Wissenschaften werden für die Geschichte ihrer großen Persönlichkeiten neue Erkenntnisse aus diesem Werk gewinnen können. Nach Abschluß des Werkes wird auf das genealogische Gesamtergebnis zurückzukommen sein.

Auf bibliographischem Gebiete ist außer auf die laufende Familiengeschichtliche Bibliographie der Leipziger Zentralstelle, von der im Berichtsjahr der Jahrgang 1928, von Joh. Hohlfeld bearbeitet ( 289), erschienen ist, der Katalog der familien- und personengeschichtlichen Literatur der Stadtbibliothek Frankfurt am Main, eingeleitet und herausgegeben von Arthur Reichel ( 299), hervorzuheben, eine wahre Fundgrube bibliographischer Nachweisungen auf biographischen und genealogischem Gebiete von allgemeiner Bedeutung, da auch jede Persönlichkeit von nur entferntester Beziehung zu Frankfurt berücksichtigt ist.

Die Inventarisierung der genealogischen Quellen hat durch einen Führer durch »die kirchlichen familienkundlichen Quellen des Herzogtums Oldenburg« von Ludwig Koch in den »Flugschriften für Familiengeschichte« (Heft 13, Leipzig 1929), von seiten der Leipziger Zentralstelle und durch R. Geyers »Handbuch der Wiener Matriken« ( 297) von seiten des österreichischen Instituts für Genealogie, Familienrecht und Wappenkunde bedeutsame Förderungen erfahren. Vor allem die Arbeit Geyers ist von weittragender Bedeutung auch für die ortsgeschichtlich-topographische Forschung. Nimmt doch den größten Teil seiner umfangreichen Arbeit die Darstellung der Geschichte der Pfarreien und ihrer Sprengel-Veränderungen ein. Die schönen und aufschlußreichen Karten der Pfarrsprengel sind ebenso für genealogische wie ortsgeschichtliche Forschungen in Wien von grundlegender Bedeutung.

Gleichsam als Illustration zu Geyers Matrikenführer enthält das gleiche 1. Jahrbuch des österreichischen Instituts 1928/29, dessen ersten Teil jener bildet, den Anfang einer Sammlung von Matrikenauszügen von A. v. Doerr aus dem Tetschener Schloßarchiv des Fürsten Thun-Hohenstein, von denen gleichzeitig eine zweite Reihe als Beilage zur Zeitschrift der Gesellschaft »Adler« im Druck erscheint. So willkommen im Einzelfalle eine solche Quellenveröffentlichung sein mag, gibt die Uferlosigkeit solcher Quellenveröffentlichungen doch zu ernsten Bedenken Anlaß. Diese Bedenken verstärken sich noch, wenn genealogische Einzelquellen durch Manuldruck bildgetreu veröffentlicht werden, wie es bei den »Sonderveröffentlichungen der Ostfälischen Familienkundlichen Kommission« geschieht. Das hier von Ernst Neubauer herausgegebene »Kinderbuch der Brauer- und Bäcker-Innung der Altstadt Magdeburg« ist bei den besonders ungünstig liegenden Quellenverhältnissen Magdeburgs sicherlich von


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erheblicher ortsgeschichtlicher Bedeutung; die einfache und uninteressante Kanzleischrift des 17. Jahrh. rechtfertigt aber nicht eine so kostspielige und voluminöse Wiedergabe. Die gegebene Form der Veröffentlichung familiengeschichtlicher Quellen wird vielmehr im allgemeinen die Bearbeitung in möglichst gedrängter und übersichtlicher Form sein, die große und verstreute Stoffmassen bequem, billig und zuverlässig erschließt, wie es etwa die Bearbeitung der Kölner Weiheprotokolle für genealogische Zwecke durch J. Janssen ( 300) tut.

Die biologische Genealogie hat starke Anregungen erfahren von den rassekundlichen Studien Günthers, ohne freilich von sich aus bisher Bedeutsames hervorgebracht zu haben. Die Synthese zwischen Naturwissenschaft und Geschichte, die ihr auf diesem Gebiete als Aufgabe zufällt, ist bisher nicht geglückt. Auch soweit sie von naturwissenschaftlicher Seite versucht wurde, klafft zwischen historischer Darstellung und naturwissenschaftlicher Bestandsaufnahme eine nur dürftig überbrückte Lücke. In dieser Weise kennzeichnen sich etwa die bisher erschienenen Bände der von Eugen Fischer herausgegebenen »Deutschen Rassenkunde« (Jena 1929 ff.), deren genealogisch-historischer Einleitungsteil meist in keinem inneren Zusammenhang zu den anthropologischen Vermessungsergebnissen des Hauptteiles steht. Die Zusammenstellungen, welche Leven unter dem Titel »Genealogische Untersuchungen über die Vererbung der geistigen Begabung, mit besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Rolle des Geschlechts« in der Zeitschrift »Volksaufartung, Erbkunde, Eheberatung« (Jg. 4, 1929, S. 73--112) über das Ahnenerbe geistig hervorragender Deutscher veröffentlicht hat, ist nur als Material zu bewerten. Einen originellen Versuch stellt das Kartenwerk von Kurt Gerlach, »Begabung und Stammesherkunft im deutschen Volke« (München 1929, 112 S.), dar, indem es auf 25 Karten die Geburtsorte von Dichtern, Malern, Musikern, Ärzten, Mathematikern und Generalen, nach Zeitaltern geordnet, einträgt, um »das Kreisen des deutschen Kulturmittelpunktes« anschaulich zu machen. Gegen die Idee des Buches ist kaum etwas zu sagen, aber die Zufälligkeit des Geburtsortes als genealogische Grundlage statistisch zu verwerten, ist doch ein zu schmaler und unzuverlässiger Ausgangspunkt. Immerhin heben sich Einzelerscheinungen mit eindringlicher Deutlichkeit ab: der starke Anteil des mitteldeutschen thüringisch-obersächsischen Gebietes an allen Begabungen, das, allerdings nur sozial-, nicht rassegeschichtlich bedingte Überwiegen Nordostdeutschlands bei der Generalität, die »kulturelle Wüste«, die sich auf den modernen Karten insgesamt im bajuvarischen Gebiet auftut und die geradezu magische Anziehungskraft, die die Großstädte, voran Berlin und Wien, auf die Begabungen aller Richtungen ausüben.

Ehe die Genealogie zu rassekundlichen Ergebnissen kommen oder auch nur sichere Bausteine für sie beisteuern kann, wird sie das genealogische Tatsachenmaterial ganzer Bevölkerungsgruppen systematisch bearbeiten müssen, um durch solche genealogische Durcharbeitung erst einmal das rassekundlich in Frage kommende Bevölkerungsmaterial auszusondern, die Untersuchungen teils auf geographische, teils auf ständische Gruppen beziehend. In ersterer Richtung ist etwa auf die genealogische Bearbeitung der Bauernschaft der Kremper- und Kollmar-Marsch durch Johannes Gravert ( 303) und H. Borstelmanns Familienkunde des Landes Kehdingen ( 304) hinzuweisen. In ähnlicher


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Weise bietet auf oberdeutschem Gebiete die »Chronik des oberen Leizachtales« von Josef Brunhuber (Fischbachau 1928) eine Familiengeschichte der Pfarreien dieses Gebietes. Die ständische Genealogie erfährt durch Gerhard Pfeiffers Arbeit über »Das Breslauer Patriziat im MA.« ( 1397) eine wertvolle Bereicherung. Dieses Patriziat, eine Gruppe der ratsfähigen Geschlechter, erscheint im 14./15. Jhd. als gehobene Klasse der Kaufmannschaft und entwickelt sich später zur einfachen Honoratiorenregierung. Mangels einer gesellschaftlich bindenden Organisation befindet es sich in stetigem Flusse -- der Zustrom kommt aus dem gehobenen Handwerk Breslaus selbst und aus der Kaufmannschaft anderer Städte, besonders Oberdeutschlands, zum Teil auch aus dem Landadel, aber gar nicht aus dem ländlichen Schulzenstand. Bei den Abwanderungen, für die der Landkauf aus angesammeltem Handelsgewinn häufige Veranlassung bietet, spielt eine gewisse koloniale Neigung für Westpreußen, besonders Thorn, eine Rolle. Die beigegebenen aufschlußreichen 55 Stammtafeln unterstreichen die genealogische Grundlage und Bedeutung der Arbeit. In ähnlicher Weise untersucht, genealogisch ertragreich, Gerhard Fischer, »Aus zwei Jahrhunderten Leipziger Handelsgeschichte, 1470--1650« ( 1543), die kaufmännische Einwanderung in Leipzig und ihre Einwirkung auf die Entwicklung der Stadt und ihrer Gewerbe.

Ein weitschichtiges Material aus der Geschichte des Adels breitet des Grafen zu Münster (†) Untersuchung über die Münster-Palmschen Ahnen ( 318) aus, die 106 verschiedenen, meist dem Landadel oder dem süddeutschen Patriziat angehörenden Geschlechtern entstammen, ein Material, das allerdings nicht ausschließlich unmittelbar den Quellen entnommen ist, aber doch, soweit es zweiter Hand entstammt, die sonst beliebten Fehlerquellen vermeidet. --


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