I. Allgemeines. Sprache.

Nach zweijähriger Pause ist im April 1933 wieder ein Heft des Archivum lat. m. aevi erschienen, doch lag ihm kein Bericht über die Sitzungen des Comité central im Jahre 1932 bei, wie es sonst zu geschehen pflegt, und ich würde über die Weiterentwicklung des Unternehmens seit 1931 schweigen müssen, wenn nicht durch die Güte der Vf. mir der Bericht über die Sitzungen im Mai 1932, leider nicht Januar 1932, von I. H. Baxter, Académ. royale de Belgique, Bull. de la Cl. des Lettres et des Sciences morales S. 323--336 und V. Ussani, Atti d. R. Istituto Veneto di sc., 1. ed a. 1932. Tomo XCI. P. II. S. 651--655, zugegangen wäre. Aus Ussanis Äußerungen geht mit besonderer Deutlichkeit hervor, daß zwischen den Ausschüssen der verschiedenen Länder noch immer ganz erhebliche Unstimmigkeiten theoretischer und auch praktischer Art bestehen, namentlich spielt die Frage, wie die Exzerpierung der Texte stattfinden solle, ob 'completo' ('exhaustif') oder 'per scelta' ('par choix') auch jetzt noch eine große Rolle. Während man sich ursprünglich für das erstere System entschieden hatte, ist dann der englische Ausschuß von diesem zurückgetreten und hat seine Arbeiten 'par choix' durchgeführt, während namentlich Italien an der zuerst geübten Praxis festhält. Und während der Präsident Gölzer im allgemeinen auf der Seite Italiens stand, hat sein Nachfolger F. Lot sich zum 'eco di incertezze e dubbi' gemacht: 'Si aprí così pel Comitato internazionale una nuova era di passione.' Man hat dann im Jan. 1932 beschlossen -- der Wortlaut des Beschlusses liegt mir noch nicht vor --, daß die Exzerpierung systematisch sein soll für alle kritisch edierten Texte der ganzen Periode, in der das Latein 'fut langue vivante'. Dies 'langue vivante' ist schon Korrektur für das ursprüngliche 'langue parlée'. Ussani sieht voraus, daß der französische Ausschuß auf Grund dieser Festsetzungen das Jahr 800 als Grenze bestimmen wird, daß also für alles, was nach 800 fällt, die Exzerpierung per scelta geübt werden wird, wozu Italien sich nicht entschließen kann. Insbesondere sei mitgeteilt, daß für alle lateinischen Texte, die in Deutschland geschrieben sind, das System der Auswahl angewandt werden soll. -- Der unparteiische Zuschauer kann die Frage nicht unterdrücken, wie denn das Lexikon aussehen wird, wenn die Arbeiter daran von ganz verschiedenen Prinzipien ausgehen. Und noch eine Frage: Wenn die Exzerpierung 'par choix' stattfindet, wer trifft diese Wahl? Baxter, S. 336, schreibt: »M. Pirenne souligne le rôle important que doit jouer, dans ce dépouillement de choix, l'intelligence de chacun.« Zweifellos ist die Intelligenz bei einer solchen Arbeit nicht ganz zu entbehren, aber man wüßte gern, woher all die Arbeiter genommen werden, die neben der Intelligenz auch die nötige Kenntnis des Mittellateinischen besitzen. Das unten zu nennende Buch von G. Cohen läßt Schlimmes befürchten. -- Italien hat auch dadurch sein besonderes Interesse für den Thesaurus bewiesen, daß es rechtzeitig und mit großer Sorgfalt den Index latinitatis Italicae m. ae. ( 452) zum Druck gebracht hat. Den Index l. m. ae. für Frankreich und England hatte Lot für das zweite Heft des Archivum 1931 in Aussicht gestellt, der für England ist soeben, April 1933, erschienen, während der für Frankreich noch aussteht. -- Noch sei bemerkt, daß sich in Paris auch ein Comité für ein Glossar der theol. und philos. Sprache vom 6.--12. Jhd. gebildet hat.


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Wie gesagt, hat bei den Beratungen, ob 'exhaustif' oder 'par choix', die Frage der 'langue vivante' (so statt des ursprünglichen 'langue parlée') eine große Rolle gespielt: nur für die 'langue parlée' wird ein 'système exhaustif' gebilligt. Damit hängt es offenbar zusammen, daß Lot ( 430) in einem ausführlichen Aufsatze die Frage behandelt, wann man denn aufgehört hat, Latein zu sprechen ('quand les gens qui écrivent cessent d' écrire comme ils parlent'), mit dem Ergebnis, daß seit der karol. Renaissance das Latein eine künstliche, tote Sprache sei. Wie weit dieser Gesichtspunkt bei den hier zur Beratung stehenden Fragen berechtigt ist, dürfte nicht entschieden sein, aber jeder Leser wird mir zustimmen, wenn ich sage, daß der Aufsatz bei allen Zweifeln, die er erweckt, außerordentlich anregend ist, auch deshalb, weil er nicht von einem Philologen geschrieben ist. Ob er bei den Romanisten viel Anklang finden wird, bleibt abzuwarten, jedenfalls hat M. Wilmotte, Le moyen âge 1931, 338--342, mancherlei daran auszusetzen. Auch an Einzelheiten für den Thesaurus bringt der Aufsatz dies und das. Es ist natürlich, daß wir solche Beiträge auch sonst im Archivum zu erwarten haben. Das ganze zweite (und letzte) Heft ist von einem Aufsatz P. G. Thérys ( 431) eingenommen, in dem mit Sorgfalt und Umsicht untersucht wird, wie Johannes Scotus den griechischen Text des Corpus Dionysiacum lateinisch wiedergegeben und den Grund für eine Sprache gelegt hat, die fähig war, die philosophischen Begriffe der Vorlage auszudrücken, wobei nicht verschwiegen wird, daß er sich nicht selten recht verhauen hat. Sehr interessant ist der Vergleich mit seinem Vorgänger Hilduin v. St. Denis. Daß das Buch von Kletler ( 431) einen ganz anderen Charakter trägt, sagt schon der Titel. -- Recht nützlich ist die sprachliche Untersuchung des Homiliariums des Paulus Diaconus durch A. Dall ( 432), sie würde es in noch höherem Grade sein, wenn die Vf. etwas mehr für Lesbarkeit und Übersichtlichkeit gesorgt hätte; in der ganzen Arbeit ist außer der Einleitung ein einziger Absatz. Von diesem Homiliar hat, nebenbei bemerkt, A. Oldfather eine neue Hs. gefunden, vgl. Speculum 6, 293 f. Die wertvolle Arbeit Ottingers zum Ruodlieb ( 434), eine Breslauer Dissertation, lag bisher nur in Maschinenschrift vor, und es ist sehr erfreulich, daß sie durch die Aufnahme in die Hist. Vj.schrift allgemein zugänglich geworden ist. Eine Stelle dieses Gedichtes, 5, 196, erklärt F. Löwenthal, vgl. Nr. 453, S. 132 f., sehr einleuchtend, die glandes sind Meermuscheln, die sausen, wenn man sie ans Ohr hält. -- Glossographisch sind auch H. Koch, Zwei Erlasse Papst Stephans I. in sprachgeschichtlicher Betrachtung (nisi=sed), Philologus 86, 128 ff.; F. S. Lear, Blasphemy in the lex Romana Curiensis, Speculum 6, 445 ff.; C. Lynn, The Repetitio: and a Repetitio, Speculum 6, 123 ff.; Puntschart, Carmula, Zs. hist. Ver. Steiermark, 26, 9 ff. (= Aufstand, von den Slaven entlehnt). Sehr fleißig ist das Buch von C. J. Balmus ( 433), das ein großes Material bietet, aber dies etwas mechanisch ausnutzt; vgl. auch An. Boll. 49, 427 ff. Auch die Analyse der Sprache der Historia Norwegiae durch E. Skard ( 436) ist sehr gründlich und nützlich; nähere Besprechung von Fr. Blatt, Arch. lat. m. ae. 7, 46 ff. -- Reiche Ausbeute haben wir nach J. F. Willard, Progress usw. Bulletin 10, 1932, 82 ff. aus Amerika, namentlich aus Chicago, zu erwarten, wo die Latinität des Hrabanus Maurus, Ekkehard IV., der Dhuoda, Hrotsvit uaa. bearbeitet wird. Leider bekommt man die Ergebnisse selten oder gar nicht, bestenfalls sehr spät zu sehen. So habe ich leider auch W. F. Dwyer, The Vocabulary


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of Hegesippus, a Study in lat. Lexicography, Washington 1931, nicht gesehen (sehr anerkennend besprochen von B. Capelle in Rev. d. Théol. anc. et mod. 4, 1932, 209). Die Gelegenheit sei aber benutzt, um auf Ussanis vortreffliche Hegesippusausgabe, CSELV Nr. 66, aufmerksam zu machen. -- Die vielen Fehler, die man in den von F. X. Kraus edierten christlichen Inschriften d. Rh. und sonst findet, haben E. Arens ( 435) zu einer hübschen, freilich nicht überall überzeugenden Studie veranlaßt. -- R. Pfeiffer ( 437) knüpft an P. Lehmanns Aufsatz (Jb. 4, Nr. 319) an und bestätigt dessen Vermutung, daß Wort und Begriff des Küchenlateins aus den Kreisen der italienischen Humanisten stamme.


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