II. Allgemeine Darstellungen.

Französische Darstellungen des ausgehenden MA. sind zwei zu gleicher Zeit erschienen: in dem von Halphen und Sagnac geleiteten, im ganzen auf 20 Bände berechneten Werk Peuples et civilisations ein Doppelband von fast 900 Seiten, an dem im ganzen 5 Mitarbeiter beteiligt waren (Nr. 750. Leider war mir nur die 2. Hälfte zugänglich); während Doucet ( 751) auf reichlich halb so viel Raum den gleichen Stoff behandelte, mit Ausnahme der englischen Geschichte, die Bémont beisteuerte (damit seine gemeinsam mit G. Monod bearbeitete Histoire de l'Europe au moyen âge abschließend). Beide Werke gehen über die politische und -- wie man für das MA. hinzufügen muß -- kirchliche Geschichte hinaus mit Abschnitten über Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft. Beide orientieren über die Geschichte aller europäischen Völker, das größere macht an den Grenzen Europas nicht Halt, sondern berührt auch asiatische Dinge. Beide haben sich stärker, als wünschenswert ist, die Stoffanordnung erleichtert, indem sie je einem Volk oder einer Gruppe kleinerer Völker ein Kapitel widmen und nur in den Schlußabschnitten, die Wirtschaft und geistige Kultur behandeln, das Geschehen auf mehreren Schauplätzen zusammenfassen. Das erstgenannte Werk ( 750) ist gründlich gearbeitet und ruht auf ausgebreiteter Kenntnis, auch der deutschen Literatur. Es kann sich als Handbuch nützlich erweisen. Doucet dagegen bringt wenig über deutsche Geschichte, und dies Wenige ist herzlich schlecht. Mehr als mangelhaft berichtet er über Rudolf von Habsburg, Adolf und Albrecht. Ludwigs des Baiern Kampf mit der Kurie verzeichnet er vollständig, von Albrecht II. behauptet er gar, er sei im Laufe eines Türkenkrieges getötet worden! Und als Streitobjekte zwischen dem Deutschen Orden und Polen nennt er Westpreußen und die Odermündung! Diese Proben mögen als Warnung genügen. Für die schwierige Aufgabe, den bunten Inhalt jener Zeiten, soweit das überhaupt möglich ist, in einer dem zeitlichen Fortschreiten einigermaßen angepaßten Form darzustellen, bleibt nach wie vor Rankes zu wenig gekannte Weltgeschichte das beste Vorbild. -- Weit über die Grenzen der deutschen Geschichte hinaus greift auch Hashagens umfangreiches Buch über Staat und Kirche ( 752). Es hebt aus der unübersehbaren Masse der territorialgeschichtlichen Einzelforschungen alles hervor, was helfen kann, die Frage


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zu klären, inwieweit sich im ausgehenden MA. die Herrschaft des Landesherrn über seine Kirche, wie sie die Perioden seit der Reformation verwirklichten, vorbereitet habe. Außer den bekannten hierhergehörigen Themen wie Pfründenpolitik, Klosterreform, geistliches Gericht, Ablaßwesen usw. erörtert er zum Beginn die Rechtgläubigkeit der Landesfürsten und zum Abschluß die theoretische Begründung des Laieneinflusses in der Kirche. Das Buch erleichtert ohne Zweifel das Sicheinarbeiten und -zurechtfinden in dem ungeheuren Stoff, es gibt auch eine Menge bedeutsamer Hinweise auf seine mögliche Auswertung. Eine großangelegte Darstellung, die zeigt, wie im Lauf jener Jahrhunderte trotz allen Gegenwirkungen ein Baustein nach dem andern hinzukam zum Gebäude des landesherrlichen Kirchenregiments, bis er seine vorreformatorische Gestalt erlangt hatte, ist das Buch nicht geworden und sollte es auch nach der Absicht des Verf., der die Zeit einer solchen Darstellung noch nicht gekommen glaubt, nicht werden. Von Kienasts Buch »Die deutschen Fürsten im Dienste der Westmächte« ( 753) ist die erste Hälfte des 2. Bandes erschienen. Sie umfaßt die Zeit von 1223 bis 1270 bzw. 72, also bis zum Tode Ludwigs des Heiligen und Heinrichs III. von England. Gründlichste Quellenstudien sind in ausgedehnten, oft genug Datierungs- und andere Fehler der bisherigen Literatur berichtigenden Anmerkungen niedergelegt. Die Darstellung ist reich an Einzeltatsachen und enthält zugleich wohldurchdachte, gut formulierte Urteile und Persönlichkeitsschilderungen. Von den handelnden Männern werden u. a. der durch seine diplomatische Tätigkeit für Heinrich III. von England wichtige Peter von Savoyen (S. 172) und sein Bruder Philipp (S. 203) treffend charakterisiert, vor allem aber wird plastisch herausgearbeitet der Politiker in Ludwig dem Heiligen, den seine Landsleute (S. 117 mit N. 1, 192 mit N. 4) allzusehr als uneigennützigen, ausschließlich von frommer Gesinnung beherrschten König darzustellen pflegen. Zu diesen Vorzügen von K.s Buch kommt als besonderes Verdienst die Sorgfalt, mit der die Formen staats- und lehnrechtlicher Verhältnisse und all die mannigfaltigen Mittel des damaligen Machtkampfes geschildert und als Erzeugnis wie als erzeugende Kraft des politischen Geschehens erfaßt werden. Hier ist viel Stoff gesammelt für die so dringend nötige vergleichende Geschichte der germanisch-romanischen Staaten. Als Stichwörter seien angeführt: Politische Pensionen (S. 112 f. Bezeichnend für den Wandel der Zeit, daß Philipp August dem Markward von Anweiler, Friedrich II. einem der französischen Staatsmänner eine Pension aussetzt; überhaupt Rolle des Geldes in der damaligen Politik 112--114, 145 N. 1); Bündnisse gegen den eigenen König im 12. Jhd. in Frankreich, im 13. in Deutschland (S. 135); 1230 erster Schiedsspruch eines französischen Königs im Streit zweier deutscher Fürsten (S. 60); Vasallität ohne Lehen noch weit später, als die herrschende Lehre annimmt (S. 44 N. 2); passive Resistenz des Lehensmanns bei scheinbarer Erfüllung seiner Pflichten: er bringt nur zwei Ritter ins Feld oder kehrt nach 40 tägigem Kriegsdienst unweigerlich heim (S. 38, 52, 58); lockeres Gefüge des Feudalstaates: Flandern kann Frieden mit England auch dann aufrecht erhalten, wenn es in einem englischfranzösischen Kriege dem französischen König Heeresfolge leisten muß (S. 83 N. 1). Nach alledem wird man sagen müssen: eines der gründlichsten und belehrendsten Bücher über politische Geschichte des MA., die wir in den letzten Jahren erhalten haben.

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Gerade die von Ausländern verfaßten Darstellungen der Deutschen Geschichte, von denen oben zwei zu besprechen waren, zeigen, wo für unsern Zeitraum die Hauptschwierigkeit liegt: in einer angemessenen, nicht in beziehungsloses Nebeneinander absinkenden, von einem Leitgedanken zusammengehaltenen Behandlung der Territorien. Hier ist noch viel Einzelarbeit nötig, bevor eine Zusammenschau aussichtsreich wird. Als solche Einzelarbeit ist v. Freedens Schrift ( 755) entstanden. Sie untersucht die Beziehungen der Reichsgewalt zu Norddeutschland von etwa 1250 bis 1347. Der Verf. hat in Urkundenbüchern und Regestenwerken fleißig Umschau gehalten. Er entfaltet seine Ergebnisse, indem er die einzelnen Landschaften von West nach Ost durchgeht; aber er gibt auch eine Zusammenfassung, die das Wesentliche für die einzelnen Königsregierungen erkennen läßt. Als Hauptzüge wären u. a. hervorzuheben: Der Rückzug der Reichsgewalt aus dem deutschen Nordwesten; vereinzelte Versuche der Könige, bald durch die Gft. Mark, bald durch Cleve oder die Westfälischen Femgerichte den erzbischöflich kölnischen Einfluß in Westfalen einzudämmen. Des Reiches wechselndes Verhältnis zu Lübeck, das sich darin spiegelt, daß manchmal die vom Reich gesetzten Rektoren, manchmal die von Lübeck selbst bestellten Schirmherren hervortreten. Der enge Zusammenhang, der die ganze Zeit über besteht zwischen der Politik der zwei wichtigsten Territorien im Osten, Böhmen und Brandenburg. Im ganzen erweisen sich unter Rudolf und Ludwig dem Baiern die Reichsbeziehungen zum Norden stärker als sonst.

Neben die tüchtige Dissertation von Freedens tritt die zeitlich eingeschränktere, aber auf tiefdringender Forschung aufgebaute Arbeit, die H. Reincke Karl dem IV. und der deutschen Hanse widmet ( 766). R. geht aus von Karls Städtepolitik -- mit wertvollen Bemerkungen zur Constitutio de libertate ecclesiastica, über die er eine Sonderstudie in Aussicht stellt --, behandelt seine Pläne eines direkten böhmisch-hamburgischen Elbhandels (dabei wiederholt R. knapp frühere Ausführungen, führt sie aber auch weiter), zeigt, gerecht abwägend, weshalb Karl IV. und Lübeck in der Außenpolitik sich nicht einigen konnten, wie aber doch eine gewisse Annäherung sich vollzog. Ausführungen über künstlerische, kirchliche, wissenschaftliche Beziehungen zwischen Böhmen und dem Hansegebiet decken viele bisher ganz unbekannte Züge auf, zumal in den Angaben über norddeutsche Gelehrte, die auf der Prager Universität studierten, und in der feinen Bemerkung, in der R. auf die zweimalige Unterbrechung der sonst herrschenden kulturellen West-Ost-Beziehungen durch eine südnördliche Linie solcher Einflüsse hinweist. Nach Inhalt und Form ist die Lektüre ein Genuß für den Historiker. Teichmann ( 767) stellt die Politik der Hanse gegenüber den Vitalienbrüdern und den nordischen Wirren dar. Seine Absicht ist, unparteiisch vorzugehen, also weder die hansische noch die mecklenburgische oder skandinavische Politik vorsätzlich zu verteidigen. Zugleich will er in der Struktur der Hanse die Gründe aufzeigen, weshalb die 1370 so mächtig dastehende Hanse so lange Zeit der Seeräuberei nicht Herr wurde. Diese Gründe liegen überwiegend im Auseinandergehen der hansischen Gruppeninteressen; zumal die preußischen Städte unter dem Einfluß des Hochmeisters treiben eine andere Politik als die wendischen mit Lübeck an der Spitze. Walter Vogel ( 768) gibt einen höchst anregenden Überblick über die Seekriege der Hanse zwischen 1270 und 1570.


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Er zeigt die verschiedenen Typen des hansischen Seekriegs: gegen Dänemark Offensive zur Gewinnung von Pfändern in Gestalt der Sundschlösser; gegen Holland Handelskrieg in Form einer Sperrung des Sundes, im Krieg gegen England (1467--74) Kaperkrieg an der englischen Küste -- nebst allerhand Abwandlungen im Verlauf der Zeit. Auch die Kriegsschiffe, die die Gegner jeweils verwendeten, bespricht er und zeigt, wie das bis dahin übliche taktische Mittel des Nahkampfs mit dem Ziele des Enterns im Nordischen siebenjähren Kriege schon dem seither üblich gewordenen artilleristischen Fernkampf in Linie zu weichen beginnt. Solche Arbeiten sind vortrefflich geeignet, die erwünschte Wiederbelebung kriegsgeschichtlicher Interessen zu fördern.

Zum Abschluß dieser Reihe von Schriften allgemeineren Inhalts sei Anna M. Campbells Studie über den Schwarzen Tod ( 758) genannt. Sie ist vorwiegend medizingeschichtlich und erläutert 16 Traktate, die in den Jahren 1348--50 von christlichen und muhammedanischen Ärzten über die Pest geschrieben wurden. Dazu kommen viele kulturgeschichtlich wichtige Angaben z. B. über das Aufkommen der Quarantäne, über sanitäre Maßnahmen der Stadtgemeinden usw. Die Verfasserin versucht auch, Anhaltspunkte zu gewinnen zum Abschätzen der Verheerungen, die der Schwarze Tod unter den Gelehrten angerichtet hat. Sie gibt eine reichhaltige Bibliographie. Mir scheint, daß das Thema wieder mehr Aufmerksamkeit bei den Historikern finden sollte; in Deutschland ist es seit langem nur noch von Medizinern angepackt worden.


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