§ 2. Archivwesen

(H. O. Meisner)

Von den verschiedenen internationalen Organisationen, die nach dem Weltkriege auf archivischem Gebiete entstanden, tritt die »Archivkommission« des »Internationalen Ausschusses für historische Wissenschaften« als erste mit einer literarischen Gabe auf den Plan. Man hat sich bemüht, durch eine Enquete ( 49) bei den Archivverwaltungen der einzelnen Länder die gedruckte Literatur über solche Bestände festzustellen, die organisch ihren eigenen Archiven zugehören, jedoch aus irgendeinem Grunde in ein ausländisches Archiv geraten sind.


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Die Enquete ist von allen größeren Archivverwaltungen beantwortet worden, und die historische Wissenschaft wird die zahlreichen Nachweisungen mit Dank begrüßen. In einer geplanten Erweiterung soll bei den namhaft gemachten Archivbeständen der zeitliche Umfang und möglichst auch der Inhalt kurz charakterisiert werden. Außerdem will man, was in einzelnen Berichten schon jetzt der Fall ist, künftig ganz allgemein auch diejenigen Archivalien berücksichtigen, die organisch zu ausländischen Sammelstellen gehören, aber für das berichtende Archiv von besonderem Interesse sind. Bei dieser Gelegenheit wird sich auch eine größere Anzahl drucktechnischer Fehler, die leider diesmal stehengeblieben sind, beseitigen lassen.

In ganz anderem Umfange von internationaler Bedeutung ist das Minerva- Handbuch über »die Archive«, dessen Erscheinen im Berichtsjahr begonnen hat ( 51). Da inzwischen der erste Band in vier Lieferungen abgeschlossen vorliegt, kann dieser als Einheit gewürdigt werden. Ihn füllen etwa zu dreiviertel die Angaben über deutsche Archive, ferner sind berücksichtigt Österreich, die Schweiz, Luxemburg und die Niederlande, die skandinavischen Staaten, Estland, Finnland, Lettland, Litauen. Grundsätzlich sollten alle Archive von geschichtlichem Wert und öffentlich-rechtlicher Bedeutung Aufnahme finden, d. h. also neben den beiden Hauptkategorien der staatlichen und kommunalen Archive auch solche von Kirchen, Universitäten und Familien, wenn sie obige Voraussetzungen erfüllen, desgleichen die sogenannten »Zwischenarchive« bei Behörden. Die Gruppierung erfolgte innerhalb der Länder streng alphabetisch nach Archivorten. Die Angaben über die einzelnen Institute gliedern sich übersichtlich nach den fünf Rubriken: Allgemeines, Innere Einrichtung, Benutzungsbedingungen, Geschichte, Literatur. Von der Fülle des zusammengetragenen Materials gibt das rund 130 Doppelspalten umfassende Personen- und Sachregister eine Vorstellung. Die Unsumme von Einzelarbeiten der Korrespondenten fügt sich zu einem der Gesamtheit dienenden Auskunftsmittel, wie es bisher nicht seinesgleichen hat. Insbesondere wird dem Historiker hier das langentbehrte wissenschaftliche Nachschlagewerk zur Orientierung für sein Quellenstudium geboten. Hinsichtlich der Wünsche, die naturgemäß bei einer so gewaltigen Pionierarbeit noch übrig bleiben, kann ich auf meine ausführliche Anzeige in der Minerva-Zs., 1933, Heft 1/2, verweisen.

Die von I. Striedinger ausgezeichnet redigierte »Archivalische Zeitschrift« hat stets auch den ausländischen Archiven Beachtung geschenkt. So enthält der im Berichtsjahre erschienene 40. Band Beiträge von E. Usteri ( 54) zur schweizerischen Archivgeschichte und von O. Liiv ( 60) über das estnische Archivwesen. Ebenso darf der an gleicher Stelle gedruckte Vortrag H. Frederkings über Archivalienkonservierung hier genannt werden, muß doch das Problem der »Erhaltung der Substanz« jeden interessieren, der sich mit geschichtlicher Quellenforschung beschäftigt.

Daß das sog. »Archivwesen« unserer Tage nicht mehr wie früher bloß ein praktisches Handwerk, eine Verwaltungsangelegenheit darstellt, sondern Anspruch auf den Rang einer besonderen gelehrten Disziplin erheben darf, dafür ist die am 1. Mai 1930 erfolgte Eröffnung des »Instituts für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung« im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem ein weithin sichtbares Zeichen. Ursprung, Aufgaben und Bedeutung dieses Instituts, an dem Staatsarchivare und Universitätslehrer in glücklicher


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Weise zusammenwirken, schildert ein Vortrag, den A. Brackmann, der eigentliche Begründer und Direktor des »I. f. A.«, auf dem deutschen Archivtage in Linz-Wien 1930 gehalten hat ( 49a). Es soll nicht nur »den künftigen Archivaren eine vertiefte wissenschaftliche Bildung vermitteln, sondern zugleich allen Historikern, die sich nach Abschluß ihrer Universitätsstudien für eine wissenschaftliche Tätigkeit weiterbilden« wollen. Demgemäß soll das Institut an den Stellen »ergänzend eingreifen, wo die Universität nichts oder nicht Genügendes bieten kann«. Brackmann rechnet dazu vor allem die kritische Bearbeitung größerer Urkundengruppen von der archivalischen Überlieferung bis zum Druck und die Behandlung der politischen, insbesondere der preußischen Geschichte im engsten Zusammenhang mit Behördenorganisation und Aktenwesen. Die Vorlesungen und Übungen über Aktenkunde der neueren Zeit als Fortsetzungen der mittelalterlichen Urkundenlehre, dürften, wie Brackmann in seinem Bericht über den zweiten Institutslehrgang (Frühjahr 1933 als Manuskript gedruckt) bemerkt, etwas dem I.f.A. ausschließlich Eigentümliches darstellen. Die kunst- und siedlungsgeschichtliche Schulung durch das Institut dient insbesondere auch künftigen Stadtarchivaren, die oft in die Lage kommen werden, das historische oder Heimatmuseum ihres Sprengels mit zu betreuen. Überhaupt lassen sich, wie Brackmann in einem Aufsatz über die deutschen Stadtarchive ( 52) betont, infolge der vielseitigeren Ausbildung des Archivars Personalunionen mit den Schwesterinstituten Bibliothek und Museum vom Archiv aus leichter und sachdienlicher vollziehen als umgekehrt.

Aus der schönen Festgabe für den langjährigen Leiter der sächsischen Archivverwaltung W. Lippert ( 50) sind (außer dem im bibliographischen Teil Genannten) für weitere Kreise wertvoll noch die Beiträge von G. Bäßler über Kriegstagebücher als geschichtlicher Quellenstoff, von L. Bittner über die Neuorganisation des österreichischen Archivwesens (mit der Verordnung über Archivalienschutz), von H. Kretzschmar über Zentralismus und Regionalismus im sächsischen Archivwesen. Archivwissenschaftlich wichtig sind die Erörterungen über das Provenienzsystem von J. Schultze und (im Hinblick auf die französischen Verhältnisse) von H. Kaiser. Daß der Grundsatz, die Archivalien nach ihrem Ursprung zu ordnen, nicht zum alleinseligmachenden Dogma erhoben werden darf, ist dem Fachmann bekannt. J. Schultze zeigt an einigen Beispielen den Widersinn einer Überspannung des Prinzips. Es gibt Fälle, wo die theoretisch abzulehnende Mischung verschiedener Provenienzen aus praktischen Gründen geduldet, ja als zweckmäßig anerkannt werden muß. Im allgemeinen bleibt es aber bei dem »respect des fonds«, wie ihn eine Verordnung für die französischen Departementalarchive schon 1841 proklamierte. Daß man gerade in Frankreich von dieser Regel später zu viele Ausnahmen gemacht hat, legt Kaiser näher dar. Ob man sich im übrigen mit der Erhaltung des Einzelfonds als Ganzen begnügen soll, also innerhalb desselben die Umänderung des ursprünglichen Registraturzusammenhangs durch ein »classement par matières« nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten für zulässig erachtet (französisches System), oder ob man die Akten eines Fonds grundsätzlich in der Ordnung und mit den Signaturen beläßt, die sie im Geschäftsgange erhalten haben (preußisch-holländisches System), hängt letzten Endes von der Güte der behördlichen Aktenbildung ab. Handelt es sich um so glücklich angelegte »Dossiers« wie in den preussischen Registraturen, so wird der Archivar


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für das strengere Provenienzsystem (das sog. »Registratur«-Prinzip) plädieren. Damit erledigen sich auch die Einwände C. G. Weibulls (vgl. Jberr. 6, Nr. 56), wie G. Winter in seiner Kritik (Korr.bl. des Gesamtvereins der dt. Geschichts- und Altertumsvereine 1930, Sp. 137 ff.) treffend ausführt.


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