§ 21. Deutsche Geschichte von 1740--1815

(M. Braubach)

Hinter den großen Entscheidungen, die seit dem Regierungsantritt Friedrich des Großen in den Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Österreich in Deutschland fielen, treten natürlich die mit der Institution des altersschwachen Reichs verbundenen Vorgänge und Verwicklungen weit zurück: ihnen hat man daher auch früher im allgemeinen nur geringe Beachtung geschenkt. Und doch waren das Reich und seine Organe nicht unwichtige Faktoren in dem Verlauf der Ereignisse, trägt die Kenntnis ihrer Wirksamkeit zum Verständnis der Wendung, die in jener Zeit das Schicksal unseres Volkes nahm, nicht unwesentlich bei. So ist es denn erfreulich, daß eine größere Zahl von im Berichtsjahr erschienenen Arbeiten sich gerade mit der Tätigkeit von Organen des Reichs oder einzelnen Fragen der Reichspolitik befassen.

Die Verhandlungen des Reichstages während des Österreichischen Erbfolgekrieges verfolgt F. Meisenburg unter Zugrundelegung der im Düsseldorfer Staatsarchiv aufbewahrten umfangreichen Reichskorrespondenz Kurkölns ( 857). Er gliedert seine Darstellung in drei Teile: das Interregnum nach dem Tode Karls VI., die Zeit des Kaisertums Karls VII. und die ersten Jahre des Kaisertums von Maria Theresias Gemahl Franz I. bis zum Abschluß der großen Kriegsepoche durch den Aachener Frieden. Die inneren Kämpfe im Reich stellten den Reichstag vor außerordentliche Fragen und Schwierigkeiten und rüttelten ihn aus der gewohnten Schwerfälligkeit auf. Sah die Versammlung sich doch sogar -- ein unerhörter Vorgang in der Geschichte des »ewigen« Reichstags -- 1742 infolge der Gefährdung Regensburgs durch die österreichischen Feinde Karls VII. genötigt, ihren Sitz nach Frankfurt, der Residenz des aus seinem


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Stammland vertriebenen wittelsbachischen Kaisers, zu verlegen. Erst der Tod Karls und die anschließende Versöhnung im Reich ermöglichte 1745 die Rückverlegung nach Regensburg. Zu wirklich durchgreifenden Beschlüssen zeigte sich der Reichstag auch in dieser Zeit nicht fähig. Wie es Österreich gelang, alle Versuche Friedrichs von Preußen, das Reich zu einer wirksamen Aktion für Karl VII. zu bewegen, zu vereiteln, so hat später die französisch-preußische Opposition den von Franz I. betriebenen Plan einer Reichskriegserklärung an Frankreich durchkreuzt. Die Verhandlungen bieten ein getreues Spiegelbild der inneren Zerissenheit Deutschlands. Über den Nöten des Tages und über der Beratung der zahlreichen kleinen Beschwerden und Anträge vergißt man die Durchführung der als notwendig erkannten Reformen. Oft aber legt man auch in trüber Resignation die Hände in den Schoß, schützt man Ferienzeit oder ähnliches vor, um der Entscheidung schwieriger Fragen aus dem Wege zu gehen. -- Natürlich hat auch der Besitzwechsel in Schlesien die Gemüter am Reichstag erregt. Zunächst suchte Österreich den preußischen Einfall als Reichsfriedensbruch hinzustellen, später nach dem Dresdener Frieden bemühte sich Friedrich eifrig um die Garantie des Reichs für den neuen Besitzstand, die er erst nach langen Verhandlungen im Jahre 1751 erlangte. Daß Schlesien, das nur durch seine Zugehörigkeit zu Böhmen dem Reich verbunden war, beim Anfall an Preußen aus dem Reichsverband ausgeschieden ist, zeigt H. Schnee durch eine Untersuchung der Verträge und Friedensschlüsse von Klein-Schnellendorf bis Hubertusburg ( 854). Zwar hatte König Friedrich nach seinem Einmarsch in Regensburg versichern lassen, daß der »nexus Imperii nicht im geringsten Abbruch leide, ob das Herzogtum Schlesien sich in österreichischen oder preußischen Händen befinde« (Meisenburg S. 21). Die Abtretung als souveränes Herzogtum in völliger Unabhängigkeit von Böhmen, die er schon in Klein-Schnellendorf forderte und die ihm von Maria Theresia in den Friedensschlüssen von Breslau-Berlin, Dresden und Hubertusburg zugestanden wurde, bedeutete aber die Lösung der Beziehungen zum Reich, das diese Tatsache seinerseits durch die Garantie des Dresdener Friedens im Jahre 1751 anerkannte.

Nach Frankfurt, nicht zum Reichstag, sondern zu Kaiser Karl VII., wurde im Oktober 1743 und nochmals im Januar 1744 der bekannte französische Diplomat Chavigny in außerordentlicher Mission gesandt. E. de Chabannes La Palice hat in Papieren, die aus der privaten Nachlassenschaft des Ministers Maurepas stammen, Schreiben Chavignys an Maurepas aus der Zeit seines Aufenthalts in Frankfurt gefunden, die er -- kaum mit Recht -- einer besonderen Veröffentlichung wert hielt ( 855). Aus diesen Briefen, die in der Hauptsache Mitteilungen über die Entwicklung der allgemeinen Lage enthalten und für die Verhandlungen des Schreibers ausdrücklich auf die offiziellen Berichte an das französische Außenministerium verweisen, erfährt man nichts wesentlich Neues. Weist der Druck zahlreiche Lese- oder Druckfehler auf, so fehlt dem Herausgeber zudem die nötigste Literaturkenntnis. Daß z. B. die ausführlichen Instruktionen für Chavigny vom 4. Oktober 1743 und vom 19. Januar 1744 in Band VII des bekannten Recueil des instructions gedruckt vorliegen, scheint ihm unbekannt zu sein: ein Blick in diesen Band hätte ihn auch vor dem Irrtum bewahrt, den comte de Bavière als natürlichen Sohn Kaiser Karls zu bezeichnen. -- Wertvoller ist das aus den Archiven der Pariser Ministerien des Äußeren und des Krieges stammende Material, auf dem O. K. Ebbecke seine


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zeitlich unmittelbar an die Arbeit Meisenburgs anschließende Dissertation über die französische Politik gegenüber dem deutschen Reich vom Aachener Frieden bis zum Ausbruch des Siebenjährigen Krieges aufbaut ( 858). Doch wird man die Art der Bearbeitung als wenig glücklich bezeichnen müssen. Die französischen Denkschriften und Akten sind nicht mit der nötigen Sorgfalt gelesen (der Bayer Seinsheim erscheint als Stentzheim, der langjährige Kölner Reichstagsgesandte Karg stets als Kary) und mitunter auch unrichtig und sinnentstellend übersetzt, wie ein Vergleich mit dem in den Anmerkungen wiedergegebenen französischen Text zeigt (z. B. S. 19, Anm. 44 und S. 33/34, Anm. 73). In der Darstellung vermißt man Klarheit, Zusammenhang und die nötige Kritik gegenüber den Quellen. Diese geben uns im übrigen einen nicht gerade erhebenden Einblick in die politischen Anschauungen und Methoden der französischen Staatsmänner jener Zeit. Am meisten Interesse beanspruchen wohl die Zeugnisse über die Wirkung des Frontwechsels von 1756 auf die französische Diplomatie. In Regensburg ist der Gesandte Le Maire nur zögernd und widerwillig den neuen antipreußischen Weisungen gefolgt.

Schon vor nunmehr drei Jahrzehnten hat A. Brabant sich die Aufgabe gestellt, den Kampf des Reiches gegen Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg zu schildern. Nach zwanzigjähriger Pause läßt er nunmehr dem zweiten Band seines Werkes den dritten folgen, der sich mit den Ereignissen des Jahres 1759, insbesondere dem Feldzug des Reichsheeres in Sachsen (Eroberung von Dresden, Finkenfang von Maxen) beschäftigt ( 860). Deutlich treten die Schwäche des Reichs und die Unzulänglichkeit der Reichsarmee, die nur da kräftig und erfolgreich aufzutreten vermochte, wo österreichische Truppen sie stützten, hervor. Auch über die Verhandlungen am Reichstag werden wir unterrichtet. Ich darf im übrigen auf die ausführlichere Besprechung des Bandes verweisen, die ich in Bd. 46 der Mitt. des Österr. Inst. für Geschichtsforschg. (S. 247/48) veröffentlicht habe. -- In das Intrigenspiel, das während des Siebenjährigen Krieges den Hof der Zarin Elisabeth in Petersburg zerklüftete, leuchtet ein die Berichte der französischen Gesandten verwertender Aufsatz von Elise Despreaux ( 859). Der Titel entspricht nicht ganz dem Inhalt, denn weniger die Tätigkeit der sich an das Thronfolgerpaar anlehnenden antifranzösischen Partei, als vielmehr die Gegensätze, die sich aus der polnischen Frage zwischen den beiden gegen Preußen verbündeten Mächten Frankreich und Rußland ergaben, stehen im Vordergrund. In Paris mißtraute man den russischen Absichten auf Polen, man fürchtete sogar eine Festsetzung der Russen in Danzig, Elbing und Thorn. Daß der Botschafter l'Hospital die polnischen Interessen offensichtlich vernachlässigte, führte zu seiner Ersetzung durch Breteuil, einen Exponenten der von der Verfasserin sehr günstig beurteilten persönlichen Politik Ludwigs XV. Für eine künftige Königswahl in Polen sollte er nicht dem zum Herzog von Kurland erhobenen Prinzen Karl von Sachsen, sondern dem mit Frankreich enger verbundenen Prinzen Xaver die Wege ebnen. Zeitlich schließt sich an diese mit dem Tode der Zarin Elisabeth abbrechende Abhandlung die im letzten Band der Jberr. besprochene Arbeit von L. Jacobsohn an. -- Berühren die Vorgänge in Petersburg immer wieder auch deutsche Dinge, so nicht weniger jene Ereignisse, die um das Problem der »Ruhe des Nordens« spielen (siehe Jberr. 6, S. 196). Auf Grund der großen Publikationen des dänischen Historikers Aage Friis gibt J. Krumm eine ausgezeichnete Charakteristik


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des Wesens und der Politik der beiden Bernstorff, die mit kurzer Unterbrechung nacheinander in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. die Geschicke Dänemarks leiteten ( 865). Sie sind die Staatsmänner des »Idylls«, die selbst einen glücklichen Krieg als ein großes Unglück ansahen und daher eine unbedingte Friedenspolitik trieben, die auch im Inneren die Nationen und Klassen miteinander zu versöhnen trachteten. Blieben sie ihrer deutschen Abstammung sich stets bewußt, so dachten und handelten sie doch als treue Diener des Staates, dem sie sich verpflichtet hatten, als überzeugte Anhänger der Idee des dänischen Gesamtstaates, gewissermaßen übernational.

Wie anders als diese deutschen Minister in Dänemark fühlte doch ihr Zeitgenosse Friedrich Carl von Moser, der Sohn des alten Reichsjuristen, der selbst die berühmte Schrift über den deutschen Nationalgeist verfaßte! Mehr und mehr haben neuerdings Leben und Schaffen dieses leidenschaftlichen Reichspatrioten des 18. Jhds. Beachtung gefunden. Nachdem Br. Renner vor einem Jahrzehnt die nationalen Einigungsbestrebungen Mosers in den Jahren 1765--1767 untersucht und K. Witzel 1929 eine Würdigung seiner Reformtätigkeit in Hessen- Darmstadt während der 70er Jahre (siehe Jberr. 5, S. 506) vorgelegt hat, schenkt uns jetzt H.-H. Kaufmann eine über Renner weit hinausführende Darstellung der politischen und publizistischen Wirksamkeit dieses unruhigen, hochstrebenden Geistes in der Zeit von 1750--1770 ( 864). Ihm haben die Bestände der Archive von Darmstadt, Marburg und Wien eine breite Quellengrundlage geliefert. Den natürlichen Ausgangspunkt bilden Mosers erste politische Schriften, die seinen schriftstellerischen Ruhm begründeten, »Der Herr und der Diener« von 1758/59 und die »Beherzigungen« von 1761, Werke, in denen viel guter Wille, aber auch manche Schwächen des Verfassers, das Vorherrschen des Gefühls über den Verstand, die Unfähigkeit, systematisch und einheitlich zu denken, zum Ausdruck kommen. Aus der anschließenden Untersuchung der diplomatischen Tätigkeit Mosers als Vertreter des Erbprinzen von Darmstadt und des Landgrafen von Hessen-Kassel am oberrheinischen Kreis in Frankfurt ergeben sich manche Einblicke in die Zustände und Streitigkeiten innerhalb der Reichskreise. Den wichtigsten Teil der Arbeit aber haben wir in der Erforschung des reichspatriotischen Wirkens Mosers zunächst als Bewunderer Friedrich des Großen, dann als kaiserlicher Publizist und »Spion«, vor uns. Während Kaufmann gegen Renner glaubhaft macht, daß ein Dienstverhältnis Mosers zu Preußen nicht bestanden hat, deckt er aus den in Wien befindlichen Korrespondenzen des österreichischen Gesandten Pergen und des Reichsvizekanzlers Colloredo die engen, nicht ganz einwandfreien Beziehungen und Verpflichtungen auf, die der Publizist wohl unter dem Eindruck der 1764 in Frankfurt erfolgten Erhebung Josephs II. zum römischen König mit dem Wiener Hofe einging. Wenn Moser auch für seine patriotischen Schriften bezahlt wurde, so gaben sie doch seine eigene Meinung wieder, erhoffte er von ihnen ehrlich eine Reinigung des Nationalgeistes zur Stärkung des Reiches und die Erweckung eines Staatsgefühls im deutschen Volk. Die Enttäuschung über Joseph II. und die kaiserliche Politik konnte nicht ausbleiben, und so schied er, zumal er als Verwalter der Grafschaft Falkenstein den auf ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprach, zu Anfang der 70er Jahre wieder aus dem kaiserlichen Dienste aus.

In die Welt der geistlichen Staaten führt uns die Studie B. J. Kreuzbergs über die Bemühungen des Prinzen Clemens Wenzel von Sachsen um seine Wahl


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in deutschen Bistümern vor seiner Erhebung auf den Trierer Erzstuhl: eine Nebenfrucht seines erst im nächsten Jahresbericht zu besprechenden Buches über die Beziehungen Triers zu Frankreich in der zweiten Hälfte des 18.Jhds. ( 1700). Die Bewerbungen des jungen Wettiners, der in Wien und in Paris hohe Gönner besaß, um Münster, Paderborn, Hildesheim, Lüttich, also einen Teil der Erbschaft der wittelsbachischen Brüder Clemens August und Theodor, ferner um Ellwangen und Passau in den Jahren 1761--1763 schlugen fehl, dagegen fielen ihm Freising und Regensburg zu, und 1764 wurde er mit bayrischer Unterstützung zum Koadjutor in Augsburg gewählt. Auf Regensburg und Freising mußte er freilich nach der Trierer Wahl 1768 wieder verzichten. Die Arbeit, die z. T. Pariser und Dresdener Archivalien benutzt, weist leider Stellen auf, die zu Beanstandungen Anlaß geben. Nur ein Flüchtigkeitsversehen ist es wohl, wenn einmal die Alternative zwischen einem katholischen Bischof und einem Hannoverschen Prinzen für Paderborn statt für Osnabrück in Anspruch genommen wird. Daß, wie der Verfasser in Wiederholung alter Behauptungen annimmt, der Wiener Hof bei der Kölner Wahl von 1761 die Kandidatur von Lothringen aufgestellt hat, ist, wie ich in einer -- übrigens zitierten -- Abhandlung über die Außenpolitik des Kurfürsten Max Friedrich nachgewiesen habe, völlig irrig. Für die Darstellung der Wahlvorgänge in Paderborn hätte der Verfasser die Arbeit von J. Wenzel über die Wahl Wilhelm Antons von der Asseburg (Diss. Münster 1912) heranziehen müssen.

E. Runges eingehende Schilderung der Politik Hannovers im Fürstenbund ( 867) dürfte an anderer Stelle dieses Bandes besprochen werden. Die Frage, wann der Fürstenbund eigentlich sein Ende gefunden hat, klärt W. Lüdtke in einem aufschlußreichen Aufsatz, der sehr wichtige neue Quellen zur deutschen Geschichte der Jahre 1789--1791 -- sie stammen aus den Archiven von Wien und Berlin -- verarbeitet ( 870). Er zeigt uns die politische Verwirrung, in der sich das Reich am Vorabend des verhängnisvollen Zusammenstoßes mit der französischen Revolution befand. Scheint mir der Verfasser die Bedeutung der durch das französische Beispiel in Deutschland hervorgerufenen Unruhen zu überschätzen, so hebt er dagegen mit Recht die große Tragweite der Vorgänge um die Lütticher Revolution und Exekution heraus. Das eigenmächtige, die Sprüche des Reichskammergerichts mißachtende Verhalten Preußens, überaus geschickt ausgenutzt von dem Kölner Kurfürsten Max Franz und seinem soeben in Österreich zur Herrschaft gelangten Bruder Leopold, führte zu einer Krisis im Fürstenbund, von dem sich vor allem der Kurfürst von Mainz mehr und mehr löste. Schon vor dem Reichenbacher Vertrag, an den sich der Rückzug Preußens in der Lütticher Frage anschloß, war so der Bund schwer erschüttert, er ist dann, nachdem er noch einmal in dem elsässischen Konflikt mit Frankreich eine bescheidene Rolle gespielt hat, nach dem Abschluß des Wiener Präliminarbündnisses zwischen Preußen und Österreich im Juli 1791 sang- und klanglos zu Grabe getragen worden. Dem Aufsatz folgen im Wortlaut eine Reihe der bisher unbekannten Aktenstücke, vor allem die sehr interessante Korrespondenz zwischen Max Franz und Leopold mit überaus charakteristischen Urteilen des klugen Kölners z. B. über Joseph II. Wenn Lüdtke auf Grund dieser Briefe nachweisen zu können glaubt, daß nicht nur reichspatriotische und rechtliche Gesinnung, sondern auch die Anhänglichkeit an das Haus Habsburg-Lothringen und die Abneigung gegen Preußen die Politik Max Franzens bestimmt hätten, so


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halte ich -- entsprechend der früher von mir vorgetragenen Auffassung -- diese Folgerung nicht für richtig. Nicht persönliche Verärgerung, sondern ehrliche Enttäuschung des Vorkämpfers für Reich und Recht spricht aus seinen Mahnungen an den Bruder, sich der Reichsangelegenheiten mehr anzunehmen. Er war stets bereit, auch gegen Wien Front zu machen, wenn von dort gegen die Reichsinteressen verstoßen wurde.

Den Persönlichkeiten und den diplomatischen Aktionen, die Lüdtke behandelt, begegnen wir wieder in den zahlreichen Korrespondenzen und Berichten von den rheinischen Fürstenhöfen, die J. Hansen im ersten Band seiner großen Quellenpublikation zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der französischen Revolution veröffentlicht ( 869). So wird z. B. das von Lüdtke im Nachlaß der Frau von Coudenhove im Schloßarchiv Ronsperg-Böhmen gefundene und im Anhang seiner Abhandlung wiedergegebene Schreiben des Kölners an seinen Kollegen von Mainz vom 5. 4. 1790 auch von Hansen (S. 594 ff.) auf Grund des im Düsseldorfer Staatsarchiv aufbewahrten Konzepts abgedruckt. Für die Frage der Einwirkung und Aufnahme der Revolution im Rheinland bietet Hansen einen reichhaltigen Stoff, während dieselbe Frage für Württemberg in dem schönen Buch von E. Hölzle über das Alte Recht und die Revolution ( 874) zusammenfassend behandelt wird: ich begnüge mich hier damit, auf die ausführliche Anzeige zu verweisen, die ich über beide Werke in Bd. 52 des Historischen Jahrbuchs erstattet habe. -- Die Wirkung der Revolution auf das abbruchreife Gebäude des alten Reichs hellt J. Schick auf, indem er die Verhandlungen des Regensburger Reichstags vom Beginn der Revolutionskriege bis zum Abschluß der durch den Frieden von Basel ausgelösten Debatten verfolgt ( 872). Ähnlich wie Meisenburg hat auch er seiner Arbeit die Kölner Reichskorrespondenz zugrunde gelegt, daneben konnten die bekannten Sammlungen und Darstellungen von Häusser und Sybel, von Vivenot-Zeissberg und Hüffer, von Erdmannsdörffer und Bailleu ausgeschöpft werden. Noch einmal hat sich in diesen wirrvollen Jahren, da die Gefahr der Spaltung und des Zusammenbruchs des Reichs in unmittelbare Nähe rückte, die Reichsversammlung zu einer erstaunlichen, wenn meist auch vergeblichen Aktivität aufgerafft. Von der Erklärung des Reichskriegs an Frankreich und den unerhörten Beschlüssen über Aufbietung des Quintuplums der matrikelmäßig festgesetzten Stärke der Reichsarmee führt der Weg über den von Schick in seinen Ursachen und Wirkungen klargelegten überraschenden Mainzer Friedensantrag vom Oktober 1794 zu den durch den preußischen Sonderfrieden verursachten erregten Auseinandersetzungen und Beschlüssen des Sommer 1795, deren auf einen baldigen Reichsfrieden gerichtete Tendenz der Wiener Hof mit allen Mitteln zu verschleiern und umzubiegen wußte. Zur Geschichte und zur Verfassung des alten Reichs am Vorabend seines Unterganges bietet der Verfasser, der sich in der Einleitung seines Buchs ausführlich über die Institution des Reichstags und die Zustände in Regensburg äußert, einen gründlichen Beitrag.

Eine reiche Ernte hat das Berichtsjahr für die Zeit des Zusammenbruchs und der Erhebung Deutschlands zur Zeit Napoleons gebracht: sie gruppiert sich um die Persönlichkeit des größten Deutschen jener Tage, des Freiherrn vom Stein, dessen Todestag sich zum 100. Male jährte (893--899). Aus der Fülle der aus diesem Anlaß erschienenen Bücher und Schriften, die zusammenfassend in dem Bericht über preußische Geschichte angezeigt werden (siehe


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unten S. 364), sei hier nur nachdrücklich das zweibändige Werk G. Ritters herausgehoben, nach Srbiks Metternich wieder eine hervorragende Leistung auf dem Gebiete der politischen Biographie, eine kenntnis- und ideenreiche, eigenwillige und doch im ganzen überzeugende Behandlung des Stein-Problems. -- Arbeiten zur allgemeinen Geschichte jener umstürzenden Zeit, soweit sie nicht von Stein bestimmt wurde, von deutscher Seite liegen dagegen nur in geringer Zahl vor. In ansprechender Form führt uns W. Andreas ein diplomatisches Zwischenspiel aus der Epoche vor Jena vor, in dessen Mittelpunkt »zwei Unerfüllte« standen, Johannes von Müller, »der Schweizer Gelehrte, der auch Staatsmann sein wollte«, und Karl August von Weimar, »der thüringische Fürst, dem sein Land zu klein war« ( 880). Nicht allein zu seinem Vergnügen erschien Müller Anfang 1804 in Weimar, sondern mit dem von dem Herzog mit Begeisterung geförderten österreichischen Geheimauftrag, eine Verständigung zwischen den beiden deutschen Großmächten in die Wege zu leiten. Doch die preußische Regierung hielt sich völlig zurück, und der eigenartige Diplomat verlor rasch selbst an der Mission die Lust, als er erkannte, daß sich ihm in Berlin günstige persönliche Aussichten boten. Als Beilagen sind dem Aufsatz das Empfehlungsschreiben Karl Augusts an den König von Preußen mit einer auf Müllers Angaben beruhenden interessanten Schilderung der Parteien in Wien und ein Brief des Historikers an den Herzog angefügt. -- Eine minutiöse Untersuchung und Interpretation der durch neue Funde im Wiener Archiv ergänzten österreichischen Akten aus dem Frühjahr und Sommer 1813 führt A. Greulich zu einer teilweise neuen Auffassung der Politik Metternischs und des Kaisers Franz in jenen entscheidungsvollen Monaten, die mir freilich nicht in jeder Beziehung gesichert scheint ( 890). Die Gegensätze und Widersprüche, die sich aus den Instruktionen an Bubna und Stadion für das österreichische Verhalten gegenüber Napoleon auf der einen und den Verbündeten auf der anderen Seite ergeben, brauchen keineswegs unbedingt zu den Schlüssen des Verfassers zu führen, daß z. B. Metternichs Ziel bis zum 10. August, dem Tage der Kriegserklärung, die Durchführung seines Programms des europäischen Gleichgewichts im Waffenbündnis mit dem Korsen gewesen sei und daß er auch danach noch neue Verhandlungen auf der Grundlage des Angebots des Kaisers vom 11. August erstrebt habe.

Noch sind zum Schluß einige, teilweise wichtige Veröffentlichungen des Auslandes zu erwähnen. Verschiedentlich wird die deutsche Geschichte in dem Werke A. Mansuys über die Beziehungen von Napoleons Bruder Jerôme zu Polen berührt ( 887). Werden wir doch z. B. eingehend über die leitenden Persönlichkeiten und Zustände am Hofe in Kassel und über die Gegensätze zwischen dem Königreich Westfalen und dem durch Napoleon tief gedemütigten Preußen unterrichtet. Freilich hat der Verfasser, wie schon die unrichtige Wiedergabe von Orts- und Personennamen zeigt, nur eine oberflächliche Kenntnis Deutschlands und der deutschen Geschichte jener Zeit: das Preußen der Reform erscheint daher auch in völlig falscher Beleuchtung. Daß Jerôme besser war als sein Ruf bei den Zeitgenossen und bei manchen Historikern, ergibt sich mit Sicherheit aus Mansuys Untersuchungen. Wenn seine Berufung nach Polen im Jahre 1812 zur Führung des rechten Flügels der Großen Armee vielfach als Vorbereitung seiner Erhebung auf den Thron des völlig wiederhergestellten Polen aufgefaßt wurde, so besaß er selbst keineswegs den Ehrgeiz, Kassel mit


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Warschau zu vertauschen. In Polen selbst war man insbesondere in den oberen Schichten nicht gut auf ihn und die ihm unterstellten Truppen zu sprechen. -- Ausführlich behandelt der Schweizer Historiker W. Martin die Umwälzung, die der Sturz Napoleons in der Schweiz hervorrief ( 891). Der bisher vorliegende erste Band schildert unter wörtlicher Wiedergabe zahlreicher Aktenstücke aus den Archiven in Wien, Bern, Genf und London die Entwicklung der Dinge vom Herbst 1813 bis zu den Entscheidungen des ersten Pariser Friedens und der Neuordnung der inneren Verhältnisse im Sommer 1814. Die Vertreter der Schweiz selbst sind in diesen Monaten nur selten die schiebenden, sondern meist die geschobenen gewesen, Schicksal und territoriale Gestaltung des Landes wurden von den oft uneinigen Führern der großen Koalition, von dem Zaren, der durch Männer wie Laharpe und Jomini beeinflußt wurde, und von Metternich, der wenigstens anfangs auf die Berner Aristokraten hörte, entschieden, daneben durch die in das Land gesandten Vertreter der Verbündeten, die Österreicher Lebzeltern und Bubna, den Russen Capodistrias und später den Engländer Stratford Canning. Endgültig werden die Vorgänge und Intrigen, die um die Verletzung der Schweizer Neutralität Ende 1813 sich abspielten, geklärt, insbesondere auch die berühmte Mission des Grafen Senft nach Bern, die mit seiner Desavouierung durch Metternich endigte. Die österreichische Politik erscheint dabei in günstigerem Lichte als bisher: ein Doppelspiel wird man Metternich nicht mehr vorwerfen können. Der Gedanke eines Wiederanschlusses der Schweiz an Deutschland, vertreten durch den hannoverschen Minister Münster und die preußischen Staatsmänner, ist doch zu keiner Zeit wirklich ernsthaft erörtert worden. -- Endlich sei mit besonderem Nachdruck auf ein englisches Werk hingewiesen, in dem uns in plastischer Sprache das gesamte Rekonstruktionswerk jener schicksalsvollen Jahre von 1812--1815 vorgeführt wird. C. K. Webster hat 1925 eine Darstellung der Politik des englischen Ministers Castlereagh von 1815--1822 veröffentlicht (siehe Jberr. 1, S. 276), nachdem er schon früher Studien und Aktensammlungen zur englischen Politik in der Zeit des Befreiungskampfes und zum Wiener Kongreß publiziert hatte. Nun faßt er diese letzten in seinem neuen Werke über Castlereaghs Anteil an der Niederwerfung Napoleons und der Neuordnung Europas in ausgezeichneter Weise zusammen ( 888). Im ganzen ist die Rechfertigung des lange verkannten und unterschätzten englischen Staatsmannes durchaus überzeugend. Liegt freilich nicht darin, daß Webster Castlereagh als den europäischen Staatsmann jener Epoche hinstellt, als den einzigen der Sieger über Napoleon, der wirklich das Ganze vor Augen sah und danach handelte, wieder eine Unterschätzung Metternichs, über dessen europäische Haltung uns v. Srbik in seiner merkwürdigerweise von Webster nicht zitierten großen Biographie Aufschluß gegeben hat? Beide, der Österreicher und der Engländer arbeiteten zusammen für die Herstellung eines Gleichgewichts der Kräfte. Castlereagh ist der Schüler und Erbe des jüngeren Pitt, es ist dessen von ihm selbst beeinflußter großer Plan zur Wiederherstellung Europas von 1804, den er nach 1812 in zähem Ringen zunächst gegen den französischen Imperator, später gegen die Ansprüche der Verbündeten, insbesondere des Zaren, zur Durchführung bringt. Da die Diplomaten, die er auf das Festland gesandt hatte, Lord Cathcart, sein Bruder Sir Charles Stewart und Lord Aberdeen, der sich ganz von Metternich leiten ließ, sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigen, greift der Minister selbst in den entscheidenden Augenblicken ein: er eilt

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im Winter 1813/14 in das Hauptquartier der Verbündeten und bringt das Bündnis von Chaumont zustande, persönlich vertritt er England auch in Wien, wo ihn freilich zunächst mit dem Scheitern seiner Vermittlung in der polnisch-sächsischen Frage der schlimmste Rückschlag trifft, er jedoch schließlich im wesentlichen sein Ziel erreicht, und endlich bestimmt er als »the natural leader of the European Council« die zum zweiten Pariser Frieden und zum Viermächtepakt führenden Verhandlungen. Im einzelnen gibt uns Websters Buch, in dessen Anhang bisher unbekannte Aktenstücke, darunter auch Berichte des Grafen Münster an den Prinzregenten von England, abgedruckt sind, zahlreiche neue Aufschlüsse. Vereinzelte Irrtümer, die sich gerade in den Abschnitten über die Entwicklung in Deutschland nicht nur in der Wiedergabe von Namen (Ravelsberg statt Ravensberg, Lauenberg statt Lauenburg), sondern auch in der Beurteilung von Personen und Verhandlungen z. B. bei der Schilderung der Auseinandersetzung zwischen Preußen und Hannover finden, können den Eindruck und Wert des Werks nicht wesentlich beeinträchtigen.


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