§ 22. Deutsche Geschichte 1815-1850

(H. Christern)

Für diesen Abschnitt der deutschen Geschichte liegen im Berichtsjahr keine größeren Darstellungen vor; einige ausländische ( 908 u. 909), die den ganzen Zeitabschnitt (bis 1850) und darüber hinaus betreffen, sollen im nächsten Jahrgang der Jberr. besprochen werden, weil es für dies Jahr unmöglich ist, sie vollständig zu beschaffen. Die Biographie Talleyrands von Lacour-Gayet ( 910; vgl. Jberr. 4, 723 und 6, 904) berührt die deutsche Geschichte kaum, selbst Metternich ist nur gelegentlich erwähnt, ohne daß sich hieraus etwas Neues für sein Verhältnis zu Talleyrand ergäbe (abgesehen von einem ironischen Ausspruch Talleyrands über Metternich, S. 314, und einem kurzen charakteristischen Gespräch bei Metternichs Anwesenheit in Paris 1825, S. 350). Zum Metternichproblem erschien ein Aufsatz von U. Noack ( 911), der aber nicht, wie der Erscheinungsort vermuten lassen könnte, sich mit Metternichs ungarischer Politik befaßt, sondern sich mit den Kritikern von Srbiks Metternichwerk, nämlich mit Wertheimer und A. O. Meyer auseinandersetzt. U. Noack verteidigt Srbiks Auffassung: Wertheimers Vorwurf, daß Srbik Schönfärberei treibe, widerlegt Noack dadurch, daß er eine lange Reihe abfälliger und kritischer Urteile Srbiks über Metternich zitiert, die beweisen -- auch wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen sind --, daß Srbik die Pflicht des kritischen Historikers gegenüber seinem Helden nicht verletzt hat. Damit dürfte Wertheimers schon im Beginnen aussichtsloser Vorstoß gegen Srbiks Werk endgültig abgeschlagen sein; da Wertheimer 1930 verstorben ist, hat diese Debatte ohnehin ihr Ende gefunden; es ist darum bedauerlich, daß Noack das Werk von Bibl über Metternich übersehen hat, das -- im offenen Gegensatz zu Srbiks konservativer Anschauung -- das Metternichbild der liberalen Geschichtschreibung eindrucksvoller hingestellt und besser begründet hat als Wertheimer: eine Auseinandersetzung mit Bibl würde daher tiefer in das eigentliche Metternichproblem hineinführen und sie ließe sich nicht mit einigen gut gewählten Zitaten erledigen. Noacks Einwendungen gegen A. O. Meyer laufen im wesentlichen auf eine verschiedene Auffassung in der Beurteilung Metternichs und Bismarcks und


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der Vergleichsmöglichkeit beider Staatsmänner hinaus. Es darf Noack zugegeben werden, daß auch Bismarck nicht »tabu« ist; aber wenn Noack (im Prinzip) A. O. Meyer eine Voreingenommenheit zugunsten Bismarcks vorwirft, so liegt bei Noack in gleichem Grade zweifellos eine gefühlsmäßige Abneigung gegen Bismarcks Politik vor. Die Staatsmannschaft Metternichs und Bismarcks und der Vergleich beider nach Sinn und Wirkung ist ein zentrales Problem der deutschen und europäischen Geschichte des 19. Jhds. Noack möchte Bismarck im Guten und Bösen näher an Metternich heranrücken als es bisher geschehen ist: aber was gut und was böse an ihrer Politik (inneren und äußeren) war, darüber läßt sich nur im Rahmen einer Geschichte des 19. Jhds. eine letzte Antwort finden. Die sichtlich gefühlsbetonten Argumente Noacks führen nicht über das hinaus, ja sie bleiben hinter dem zurück, was A. O. Meyer, Srbik und Rothfels zu diesem Thema geäußert haben.

Die Abhandlung von Näf ( 915) leuchtet sehr tief in die europäische und österreichische Politik des Jahres nach der Julirevolution hinein. Näf hat es verstanden, aus der archivalischen Erschließung der Abrüstungsverhandlung von 1831 wertvolle Schlüsse zu ziehen auf die Motive der leitenden Staatsmänner und ihre geheimsten Absichten und Wünsche. Die Abrüstung bildete nur ein Nebengleis der diplomatischen Verhandlungen dieser Monate, in denen Europa durch die Julirevolution in Frankreich und durch den belgischen, polnischen und italienischen Aufstand erschüttert wurde. In der Hauptsache gingen die Verhandlungen zwischen Metternich und Casimir Périer hin und her, die sich dabei nicht nur ihrer Botschafter in Wien und Paris bedienten, sondern auch auf einem inoffiziellen Wege über das Haus Rothschild verhandelten. Metternich erstrebte eine europäische Konferenz, ein Wiederaufleben des Bündnisses der fünf Mächte gegen die Revolution. An einer materiellen Abrüstung lag ihm wenig, er dachte vor allem an die moralische Wirkung und instruierte in diesem Sinne seinen Botschafter Apponyi in Paris (3. Juni 1831). Diese Denkschrift, an der auch Gentz mitgearbeitet hat, ist ein für Metternichs Politik nach der Julirevolution ungemein bezeichnendes Dokument (abgedruckt ebd. S. 85 ff.: bestehend aus einer ostensiblen Depesche, einer dépêche réservée und einem Privatschreiben an den Grafen Apponyi). Dem französischen Ministerpräsidenten Périer lag vielmehr an einem augenblicklichen Erfolge, an einer materiellen Abrüstung zur Entlastung der französischen Finanzen, die er auch durch eine Vereinbarung mit Österreich allein, der sich dann auch Preußen anschließen würde, zu erreichen hoffte. Aber in der Form der Verhandlungen mußte er den Wünschen Metternichs nachgeben. So berief Périer in gewollter Feierlichkeit am Pfingstsonntag 1831 (22. Mai) die Botschafter Österreichs, Preußens, Rußlands und Englands zusammen, um ihnen den Antrag auf Eröffnung von Verhandlungen über eine europäische Abrüstung zu unterbreiten. Die durch die Tagesereignisse wiederholt und wochenlang unterbrochenen Verhandlungen schleppten sich bis zum Herbst hin, um dann wegen der neuen europäischen Spannung zu stocken und schließlich zu versanden: ihr Ende wurde durch den Tod Périers am 16. Mai 1832 bestimmt. Ihr prinzipieller Wert ist größer als ihre praktisch-politische Bedeutung, die gleich Null war. Neben diesen Verhandlungen Metternichs mit Périer liefen noch Verhandlungen Friedrich von Gentz' mit den Brüdern Rothschild (James in Paris und Salomon in Wien) einher. Näf hat ihnen in seinem Buche ein eigenes Kapitel


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(»Friedrich von Gentz und das Haus Rothschild in den Abrüstungsverhandlungen«, ebd. S. 53 ff.) gewidmet: ungemein aufschlußreich für den Charakter des alternden Gentz († 9. Juni 1832), aber auch für den latenten Gegensatz, in dem er sich zu Metternich befand, zugleich aber für seine politische Geschmeidigkeit, die es niemals zum Bruch kommen ließ. Bemerkenswert vor allem ist aber Gentzens Verhältnis zu dem Bankhause der Rothschild, das seine Verbindungen in allen europäischen Hauptstädten besaß und seine Beziehung zur Diplomatie finanziell ausnutzte. Näf ist sehr vorsichtig und zurückhaltend in seinem Urteil über Gentz, dessen Briefe an die Brüder Rothschild (von denen der immer geldbedürftige Gentz für seine politische Berichterstattung eine hohe Summe erhielt) er als »offiziöse Leitartikel« bezeichnet. Die Beziehung von Diplomatie und internationaler Großfinanz (nicht allein der jüdischen, aber doch vornehmlich!) sind bekannt und für das 19. Jhd. charakteristisch; darin liegt also nicht das Neue der Untersuchung, wohl aber darin, daß Näf an Hand eines bisher nicht ausreichend gedeuteten Materials (vor allem Gentzens Tagebüchern) die Beziehungen im einzelnen aufdeckt; die Möglichkeit eines solchen Einzelnachweises ist selten, weil aus begreiflichen Gründen die schriftlichen Zeugnisse hiervon meist niemals ans Tageslicht kommen und der Historiker nur auf Vermutungen angewiesen ist.

Die Abrüstungsverhandlungen werden außer von der belgischen und polnischen Frage vor allem durch die Aufstände in Oberitalien gestört; Metternich verlangt für sich das Interventionsrecht in Italien, worüber es fast zum Bruch mit Frankreich kommt (über Interventions- und Nichtinterventionsrecht vgl. Näf, ebd. S. 38 ff., S. 75): Die Wirkung des italienischen Aufstandes auf die europäische Politik schildert auf Grund neuer Akten, vor allem aber mit der Einstellung auf die gesamten Vorgänge in Europa, Vidal ( 914); die Einzelheiten brauchen hier nicht erörtert zu werden, da diese Frage die deutsche Geschichte nur peripher berührt.

Aus dem Jahr, das dem Ausbruch der Märzrevolution voraufging, stammen die Brautbriefe Johannas von Bismarck, die den ganzen Zauber der stillen Welt, in der sie lebte, wiederspiegeln, einer Welt ländlicher Einfachheit und religiöser Selbstzufriedenheit, die durch die ersten Warnungszeichen der kommenden Revolution, einer Welt, die Hungeraufstände des Jahres 1847 in pommerschen Städten in große Aufregung versetzt wurde. Obwohl von den Briefen Johannas ein starker persönlicher Reiz ausgeht, so beruht ihr historischer Wert doch allein darauf, daß in ihnen die Braut und spätere Gattin Bismarcks spricht; um seinetwillen und als Gegenbild seiner eigenen Persönlichkeit gewinnen sie erst ihre eigentliche Bedeutung; sie sind bereits von E. Marcks in seiner Darstellung von Bismarcks Jugend verwertet und ausgeschöpft worden: das Bild, das Marcks von Johanna zeichnet, wird nicht verändert, aber noch runder und voller, wenn man nun ihre Briefe unverkürzt liest. Bismarcks lang vertraute Briefe an seine Braut sind jetzt keine Monologe mehr, in dem Zwiegespräch beider gewinnen auch die Bismarckischen Briefe noch an innerer Lebendigkeit. Leider hat die Ausgabe der Brautbriefe Johannas für ein solches Nebeneinanderlesen beider Briefwechsel keine Vorsorge getroffen: die Briefe sind meist nur durch Wochentagsangabe datiert, vielfach undatiert; wo die Herausgeberin das Datum beizufügen versuchte, ist es ihr durchweg mißlungen, das richtige zu treffen; um so bedauerlicher, als Marcks in seiner Biographie, auf die die Herausgeberin in der


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Vorrede mehrfach hinweist, bei seinen häufigen Zitaten aus Johannas Briefen, immer auch das genaue Datum beifügt. Diese Fehler und Lücken in der Datierung, die wahrlich nicht nebensächlich sind, wird hoffentlich eine Neuauflage beseitigen. Unter den Beigaben zu diesen Brautbriefen sind die Briefe Bismarcks an seine Tochter Marie zu nennen, vor allem der vom 24. August 1863 aus Baden-Baden, unmittelbar nach den aufregenden Tagen, die Bismarck dort mit König Wilhelm erlebte, ferner eine Aufzeichnung des Fürsten Herbert v. Bismarck von seines Vaters Tode (1919).

Die Politik der leitenden Männer der Paulskirche ist in den letzten Jahren in verschiedenen Einzelabhandlungen mit geistesgeschichtlichen Methoden neu erschlossen worden: im Berichtsjahr liegen Untersuchungen vor über Droysen ( 971), über Dahlmann ( 934; schon i. J. 1926 erschienen, vgl. Jberr. 3, 953; damals mir nicht zugänglich) und über Waitz ( 935). Wenn auch Droysens Anschauungen nur im Hinblick auf die preußisch-deutsche Frage untersucht werden, so handelt es sich doch um das zentrale Problem seines Denkens, und Gilbert greift weit genug aus, um es in Droysens weltanschaulichem und politischem System zu fundieren. Überhaupt steht -- mehr als es der Titel der Schrift vermuten läßt -- das »politische System« Droysens, das er 1840--47 in Kiel ausgebildet hat und das bis zur Novemberkrise 1848 in Preußen sein politisches Handeln bestimmte, in dieser Abhandlung zur Diskussion: seine geistige Herkunft (von der klassischen Philologie, von dem christlichen Element seines Denkens, von Hegel) und die Vereinbarkeit und Mischung der verschiedenen Elemente seines Denkens wird aufgezeigt. Dabei darf als bemerkenswertes Ergebnis erwähnt werden, daß das Werk über Alexander d. Gr. nicht, wie man bisher annahm, eine historische Anspielung auf Preußen enthielt und ihm das Vorbild der mazedonischen Militärmonarchie liefern sollte: Das Werk enthält also nicht die Verkündigung der Notwendigkeit der preußischen Hegemonie über Deutschland (S. 34). Dazu wäre zu fragen, wer denn nun diese herkömmliche Auffassung des »Alexanderbuches« zuerst aufgebracht hat? Gilbert grenzt den Einfluß Hegels auf Droysen ab, zeigt, daß sein Denken bis in sein Alter durchgehende Züge Hegelscher Provenienz behalten hat, obwohl sich Droysen schon im 2. Band des »Hellenismus« sehr scharf von Hegel abwandte; die Hegelschen Einflüsse blieben mit dem christlichen Element seines Denkens vereinbar. Lehrreich ist auch der Vergleich der Rankeschen und Droysenschen Geschichtsauffassung (S. 10 f., 39 ff., 75 ff. und am Schluß S. 121 ff.). Sein politisches System erprobte Droysen an der schleswigholsteinischen Frage und der inneren Politik Preußens vor 1848; aber seine eigentliche Bewährung mußte es erst 1848 finden. Das »Aufgehen Preußens in Deutschland« war für Droysen der Sinn und die Vollendung der Preußischen Geschichte. Aber sein Glaube, auf dem sein gesamtes historisch-politisches Denken ruht, daß in der Welt des geschichtlichen Lebens sich auch die ethischen Kräfte durchsetzen (S. 72), scheiterte in den Stürmen der 1848er Revolution. Wie Droysen im Sinne seines politischen Systems und seiner Auffassung von dem Beruf Preußens bis zum November 1848 wirkte, schildert Gilbert -- die Gedankengänge Meineckes auf Grund reicheren Materials nachzeichnend. Mit der Wendung der Preußischen Politik, mit der Wiederherstellung der Preußischen Staatsautorität, bricht sich für Droysen die neue Erkenntnis vom Wesen des preußischen Staates Bahn, die dann später auch zu der


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Entstehung der »borussischen Geschichtsauffassung« führte (über diese vgl. das Schlußkapitel): ein Erbe der unpolitischen und ethischen Denkweise wirkt auch in ihr noch fort (S. 129); Droysen hat sich fortan zum Wesen des Staates als »Macht« bekannt (zuerst Weihnachten 1848 in einer Denkschrift, vgl. S. 114 f.) wie zu gleicher Zeit auch Dahlmann in seiner Rede für das absolute Veto am 14. Dezember 1848 (vgl. Kleine Schriften S. 451). Die Abhandlung Gilberts ist reich an wertvollen Einblicken in die Problematik der deutschen Revolution und ihrer geistigen Voraussetzungen, wenn er auch nur in Einzelheiten zu neuen Erkenntnissen kommt. Das neue von ihm zuerst verwertete Material hat er inzwischen gesammelt in dem Band: Johann Gustav Droysen. Politische Schriften. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Felix Gilbert. München und Berlin, R. Oldenbourg, 1933, XI, 382 S. 8, auf den in den Jberr. noch zurückzukommen sein wird.

Nicht von gleicher Spannweite wie Gilberts Abhandlung ist die Jardons ( 934) über Dahlmann, schon weil es sich hier nur um einen recht kleinen Ausschnitt aus einem größeren Thema handelt: es ist lebhaft zu bedauern, daß sie bisher nicht unverkürzt veröffentlicht ist, weil sie es, nach der vorliegenden Probe zu urteilen, sicher verdiente. In diesem Teildruck ist nur das Kapitel über den Verfassungsentwurf der 17 Vertrauensmänner zum Abdruck gelangt; darin fesselt die Charakteristik Friedrich Wilhelms IV. und die Darlegung des Briefwechsels zwischen dem König und Dahlmann: die Analyse könnte wohl noch tiefer dringen.

Einen Zug hat Droysen mit Waitz gemeinsam: der unbedingte Glaube an die ethische Grundlage aller Politik. Für Droysen war dies Postulat in seine geschichtsphilosophische Konstruktion eingebaut, für Waitz, der aus der Schule Rankes stammte, beruhte diese Überzeugung auf der unverbrüchlichen Rechtsgrundlage des Staates. Er konnte sich keinen Staat denken, der auf einer Verletzung des Rechts beruhte. Das hat ihn von Bismarcks Politik 1863/64 getrennt, da er an das unanfechtbare Recht des Augustenburgers glaubte. Hagenah ( 935) weist aber auch noch auf einen anderen Gegensatz zwischen Waitz und Bismarck hin: ihm fehlte das Robuste in der Politik, das Treitschke besaß, er erstrebte das Ideal des Gentleman. Waitz wurde 1846 in Kiel durch den »Offenen Brief« in die Politik geführt, zunächst im Gegensatz gegen seinen Kollegen Droysen, mit dem er sich aber 1848 zusammenfand. Beim Ausbruch der schleswig-holsteinischen Erhebung ging er für einige Wochen als Beauftragter der Provisorischen Regierung nach Berlin: der Einblick, den er dort in das Getriebe der Diplomatie gewann, hat seine spätere Haltung in der Nationalversammlung, namentlich in der verhängnisvollen Frage des Malmöer Waffenstillstandes, bestimmt. (Hagenah druckt die Berichte Waitzens an die Provisorische Regierung von Schleswig-Holstein im Anfang ab, S. 186--216). Die Hauptwirksamkeit hat Waitz im Verfassungsausschuß vertreten: die Bundesstaatstheorie, die er hier zuerst entwickelte, hat er nur wenig modifiziert später in seine »Politik« übernommen. Waitz hat, wie es die Vorgänge von 1863/64 und seine Dahlmannrede von 1885 lehren, immer an diesen Grundlagen festgehalten, auch in einer durch Bismarcks Auftreten politisch veränderten Zeit. Aber Hagenah verteidigt ihn doch mit Recht gegen den Vorwurf, ein reiner Gefühlspolitiker gewesen zu sein. Waitz hat in seinem politischen Denken nicht die Wendung genommen, die an Droysen zu beobachten ist. Er hat sich


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darum aber nicht grollend zurückgezogen, als die Ereignisse einen andern Gang gingen als er für richtig hielt: er hat seinen Standpunkt bis zuletzt verteidigt. Ein Exkurs Hagenahs über Waitz' Staatstheorie macht eben diese Seite seines politischen Denkens verständlich. -- Die zweibändige Darstellung der deutschen Revolution von 1848/49 von Veit Valentin ( 929) ist bereits in dem vorigen Jahrgang (6, S. 207 ff.) eingehend in ihrer Grundanschauung charakterisiert, so daß für den 2. Band, der erfreulich schnell dem 1. gefolgt ist, einige kurze Hinweise genügen: er enthält den ganzen Verlauf vom Beginn der Nationalversammlung bis zu ihrem Scheitern und bis zu den revolutionären Nachwehen, die diesem Ereignis folgen. Die Politik Österreichs und Preußens, der Mittel- und Kleinstaaten kommt in selbständigen Kapiteln zu ihrem Recht, daneben aber auch die sozialen Schichtungen und wirtschaftsgeschichtlichen Probleme. Die hemmende Einwirkung des Auslandes auf den Fortgang der Revolution wird auf Grund neuen archivalischen Materials geschildert; zumal der massive Druck, den England auf die Regierung in Frankfurt ausübt, als es sich um die Annahme des Malmöer Vertrages handelt, war bisher nicht bekannt und erklärt erst Dahlmanns Versagen als Minister wirklich. Aber Valentin findet dennoch in den europäischen Gegenwirkungen, denen sich auch das revolutionäre Frankreich anschloß, nicht den entscheidenden Grund für das Scheitern der deutschen Revolution (wie es am eindrucksvollsten Erich Marcks geschildert hat, vgl. Jberr. 6, S. 209), sondern er verharrt bei einer innerpolitischen Ideologie, die ihn doch letzten Endes zu einer Gleichsetzung der staatlichen Macht mit Reaktion und Gegenrevolution führt: so nahe dieser Schluß im Zeitalter der deutschen Revolution liegt, so muß sich der gegen sich selbst kritische Historiker vor solchen Kurzschlüssen hüten; Valentin läßt sich überall aber von seinem demokratisch-pazifistischen Staatsideal leiten und führt da allzuoft an den entscheidendsten Kräften der Zeit vorbei. Dieses Werk ist aus dem Geist der Weimarer Verfassung geschrieben und berührt daher heute fremd und fern, als ob es nicht erst vor 2 Jahren veröffentlicht sei. Obwohl die historische Auffassung (ohne daß es sich hier genauer begründen ließe, vgl. aber die Ausführungen im vorigen Jahrgang) als Ganzes und der Stil abzulehnen ist, muß doch offen bekannt werden, daß eine Fülle wertvoller Forschung in diesem Bande steckt, die ihren Niederschlag zumal in den Anmerkungen gefunden hat. Die glücklich gegliederte Bibliographie des 1. Bandes wird hier fortgesetzt und ergänzt. Sechs parallel laufende Zeittafeln (Gesamtdeutsche Ereignisse, österreichischer Kaiserstaat, Preußen, Bayern, Kleinstaaterei, Geistes-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte) erleichtern die Übersicht und führen Ereignisse, die im Text aus sachlichen Gründen getrennt behandelt sind, in ihren chronologischen Zusammenhang zurück; auch das Sachregister gewährleistet eine gute Erschließung des in dem gesamten Werk verarbeiteten Materials; ferner sei auf die »Kritische Übersicht über Quellen und Forschung zur Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49« hingewiesen, die die Bibliographie ergänzt und erläutert und zudem das Werk Valentins historiographisch unterbaut und einordnet.


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