§ 24. Deutsche Geschichte von 1890--1914

(H. Herzfeld)

Das Erscheinen der Bülowschen Erinnerungen im Jahre 1930 hat eine Wendung in unserer Kenntnis des Zeitraumes von 1890--1914 eingeleitet, mit der die einseitige Beschränkung unseres Wissens auf die Akten der außenpolitischen Entwicklung sich stärker als bisher aufzulockern begann. Fehlt auch weiter noch zur Kenntnis der inneren Geschichte Deutschlands die unmittelbare Erforschung und Zugänglichkeit der Archive, so treten doch jetzt allmählich die führenden Persönlichkeiten der Epoche durch die größere Dichtigkeit grundlegender, vielfach dokumentarisch unterbauter Publikationen über ihr politisches Wirken in helleres Licht. Die wertvollste Bereicherung dieser Art stellt im Berichtsjahr K. A. von Müllers Edition der Denkwürdigkeiten über die Reichskanzlerjahre des Fürsten Hohenlohe ( 1046) dar. Sie erlauben nicht nur, das persönliche Profil des dritten Kanzlers in organischer Fortsetzung seiner früheren Lebensgeschichte für diese abschließende Periode seiner Laufbahn voll zu erfassen, sondern bringen durch den Reichtum des hier erschlossenen, vielseitigen Materials eine ganz neue Grundlegung für das Studium der späteren 90er Jahre. Die Gegensätzlichkeit der Entwicklung in Reich und Preußen, das vergebliche Ringen des Kanzlers gegen den immer stärkeren Strom konservativen Einflusses in dem wichtigsten deutschen Einzelstaat tritt in eine so umfassende neue Beleuchtung, daß diese Frage jetzt an Bedeutung für die innere Entwicklung unmittelbar neben das Problem der Persönlichkeit Wilhelms II. und ihrer Rückwirkung auf die ganze Struktur der Bismarckschen Reichsverfassung zu stellen ist. Zum mindesten in den großen Umrissen läßt sich jetzt der eigentümliche Übergangscharakter dieser Zeit mit ihrer Mischung vom endgültigen Erlahmen der Bismarckschen Überlieferung und Ansätzen zu der neuen Problematik Deutschlands nach der bevorstehenden Jahrhundertwende wirklich fruchtbar erfassen, so daß die Bedeutung dieser zunächst kaum genügend beachteten Publikation mit den Jahren wohl immer stärker hervortreten und allmählich sich eher noch vor dem zunächst sensationelleren Eindruck der Bülowschen Memoiren behaupten wird, die, als Beitrag zur Persönlichkeitsgeschichte vielleicht unmittelbarer reizvoll, bei näherem Vergleich jedoch seine Erscheinung immer stärker gegen die anspruchslosere, aber sehr viel gehaltvollere Gestalt seines greisen Vorgängers und seines Nachlasses zurücktreten lassen.

Die Forschung des Jahres 1931 ist freilich zunächst noch viel stärker durch die Auseinandersetzung mit diesem umfangreichen Erinnerungswerk Bülows


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( 1051) beschäftigt geblieben. Immer zahlreicher haben sich die überlebenden Zeugen seiner Generation gemeldet, um kritisch in Verteidigung und Angriff gegen die wenig wohlwollende Behandlung zu protestieren, die der Fürst seinen einstigen Mitarbeitern hat angedeihen lassen. Nachdem bereits die Süddeutschen Monatshefte einer ganzen Reihe von Politikern und Diplomaten das Wort gegeben hatten, sammelte Fr. Thimme ( 1052) eine lange Reihe solcher Zeugenaussagen in einem starken Bande, dessen Zielsetzung schon im Titel zum Ausdruck kam. Er brachte im einzelnen wertvolle Bereicherungen unseres Wissens, auch über die gediegenen Beiträge des Herausgebers hinaus, der das Verhältnis Bülows zu Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg behandelte. Zur inneren Geschichte Deutschlands gab bereits in den Süddeutschen Monatsheften Graf Westarp wichtige Aufklärung über die Haltung der Konservativen Partei in der Abschlußkrise der Bülowschen Kanzlerschaft. Hier wurde sie für die Regierungsseite durch dokumentarisch begründete Ausführungen Reinhold von Sydows über das Scheitern der Bülowschen Finanzreform ergänzt, die auch über die Studien Eschenburgs noch hinausführen. Die Daily Telegraphfrage ist von der Mehrzahl der Mitarbeiter von den verschiedensten Seiten her zum Gegenstand kritischer Behandlung gemacht worden. Der Historiker kann so nicht übersehen, daß er der Publikation eine Fülle von Einzelkorrekturen verdankt. Ebensowenig darf er freilich verhehlen, daß die meisten Beiträge dieser »Front wider Bülow« der Natur der Aufgabestellung nach sich auf dem gleichen Boden der apologetischen, stark subjektiv bedingten Memoirenliteratur bewegen wie das inkriminierte Werk Bülows selbst. -- Stehen die Beiträge dieses Sammelwerkes fast ausnahmslos im Zeichen des stark moralisch gefärbten Protestes, den die Schwächen Bülows hervorriefen, so gilt das Gleiche auch für den größeren Teil der kommentierenden Literatur (über ihre wertvolleren wissenschaftlichen Bestandteile vgl. Jberr. 6. S. 218--221), in der die Bücher von Schoeler, Schmidt-Pauli, dem Anonymus Spectator, mit etwas abweichender Haltung auch das Werk des einstigen Bülowoffiziosus Siegfr. Münz typisch für die Anziehungskraft dieser Einstellung auf durchaus dilettantische Bearbeiter sind (zusammenfassende Besprechung dieser Literatur s. H. Meissner in Forsch. z. br.-pr. Gesch. 44, 1932, S. 232 ff.). An der Grenze dieser Kategorie steht Eckardsteins in der gewohnten halbjournalistischen Schmissigkeit geschriebenes Buch über Bülows Entlassung ( 1085), das nur in den Abschnitten über die geheime Vorarbeit für Bülows Sturz im Winter 1908/09 sensationelle neue Mitteilungen bringt, die freilich bei der Unzuverlässigkeit dieses Autors keinen Anspruch auf gesicherte Glaubwürdigkeit erheben können.

Wertvoller sind einige Publikationen, die im Anschluß an das Bülowsche Werk Erweiterungen unseres Wissens für bestimmte Einzelfragen gebracht haben. Vor allem gilt dies für den Briefwechsel Hermanns vom Rath mit dem Fürsten von seiner Entlassung bis zum Weltkrieg ( 1055), der Bülow bis 1914 als zähen Verteidiger der Grundidee des deutschen Flottenbaues und unternehmungslustigen Kritiker der vorsichtigen deutschen und österreichischen Politik während der Krise des Balkankrieges zeigt und so schneidend aufhellt, wie sehr Bülows erbarmungslose Memoirenkritik an seinem Nachfolger Bethmann-Hollweg rückwärtsgewandte Prophetie nach der Katastrophe des Weltkrieges ist. -- Ebenso bedeutsam ist zum Teil der Widerklang der Memoiren in Frankreich gewesen. Neben der allgemeinen Ausnutzung der Denkwürdigkeiten von französischem


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Standpunkt, die ein Aufsatz Jules Cambons vertritt, steht der sensationelle Artikel des einstigen römischen Botschafters C. Barrère, der die Monts-Luzzattiepisode vor Delcassés Sturz zum Anlaß eines scharfen Angriffes gegen die Bülowsche Darstellung machte ( 1051). Er leugnete, daß diese Sondierung durch den italienischen Zwischenmann einen Kapitulationsversuch Delcassés habe bedeuten sollen, der damit seinem drohenden Sturz hätte vorbeugen wollen, und glaubte, gegen die deutsche Marokkopolitik die Niederschrift Luzzattis als Gegenbeispiel voraussehender politischer Weisheit rühmen zu sollen, in der bereits die Situation der späteren Weltkriegsjahre bis zum Eingreifen Amerikas gegen Deutschland vorausgesehen wurde. Nachdem schon Maximil. Claar begründete Zweifel gegen die Gleichzeitigkeit dieser prophetischen Vision geäußert hatte ( 1077), unterbaute Thimme diese Kritik weiter durch eine wertvolle Abhandlung ( 1077), die bereits der späteren Publikation der Memoiren des Grafen Monts vorweggriff und eine Lücke der großen deutschen Aktenpublikation durch die Veröffentlichung des eingehenden Montsschen Berichtes über diese Episode vom 2. V. 1905 schloss. Es kann danach kaum ein Zweifel bestehen, daß die Auslegung Barrères sich nicht auf eine wirklich authentische Wiedergabe der Unterredung gründete, wenn auch Thimme kritisch genug blieb, um Zweifel gegen die These einer Kapitulationsbereitschaft Delcassés unmittelbar vor seiner bekannten Unterstützungssondierung in London zu äußern. Bereits hier weist Thimme sehr stark hin auf die Bedeutung des Grafen Monts als eines kritischen Antipoden der Bülowschen Politik, die seine Memoiren inzwischen bestätigt haben, kommt aber im Einzelfall der Luzzattisondierung doch zu einem sehr ruhig abgewogenen Urteil über die Skepsis, mit der man in Berlin diese Meldung des Grafen behandelte. Er schließt mit der wichtigen Andeutung, daß er in absehbarer Zeit auf Grund des Holsteinnachlasses auch gegen die herrschende Beurteilung der Marokkopolitik dieses Mannes kritisch aufzutreten beabsichtige.

Das Erscheinen der Memoiren Bülows ist auch anderwärts der Anstoß geworden, die allmählich erstarrende Auffassung über Holstein in neuen Fluß zu bringen. Das bisherige Bild dieses wichtigsten Mitarbeiters der deutschen Außenpolitik von Bismarcks Sturz bis zur Marokko- und Annexionskrise litt unter der Tatsache, daß Holsteins schwer zu deutende Gestalt von einer Fülle gegnerischer Zeugen eingekreist war, denen nur die dokumentarischen Zeugnisse seiner Arbeitsleistung im Auswärtigen Amt mit ihrer nach der persönlichen Seite doch nur indirekten Sprache gegenüberstanden. Für die psychologische Beurteilung und persönliche Wertung blieb damit ein weiter Spielraum der Deutung, in den sich die Summe absprechender Beurteilungen mit schwer abzuwehrender Suggestionskraft einzuschieben vermochte. Das Holsteinbild der Grauen Eminenz des Wilhelminischen Deutschland, wie es sich so herausgebildet hatte, überwiegt auch in der im Rahmen dieser Deutung immerhin kritisch vorsichtigen, auf vollster Stoffbeherrschung beruhenden Studie von Gooch ( 1057), die als gediegene Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstandes gute Dienste für die Frage zu leisten vermag, ob und wieweit fortan durch Erweiterung unserer Kenntnisse eine Revisionsbedürftigkeit eintritt. An sich ist die Revisionsfrage dadurch gestellt, daß seit dem Berichtsjahr Teile und Fragmente des Holsteinnachlasses sich zu erschließen beginnen. Das Buch von Fr. von Trotha ( 1056) stellt freilich nur einen sehr bescheidenen Anfang dar.


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Der Neffe der Frau von Lebbien hat eine glaubwürdige Darstellung ihrer menschlichen Beziehungen zu Holstein gegeben und vermag nach persönlichem Umgang in diesem Hause ein anziehendes Bild des Holstein der späteren Jahre zu zeichnen. Die mitgeteilten Brieffragmente, charakteristisch für den hartnäkkigen Einsiedler der letzten Lebensepoche, sind aber an politischen Ausführungen leider recht arm, wenn sie auch wichtige Einzelzüge wie Holsteins scharfe Kritik am Flottenbau (im Jahre 1908) streifen. Die eigenen Zutaten des Verfassers sind recht schwach. Auch seine Neigung, nach dem Muster der Erinnerungen von der Lanckens Holsteins Marokkopolitik als gemeinsam mit Schlieffen konzipierte Politik des Präventivkrieges zu betrachten, ist mit Recht bereits von Fr. Thimme kritisch zurückgewiesen worden. Erst die umfassende Publikation Helmuth Rogges aus dem Briefwechsel Holsteins mit Ida von Stülpnagel, die eine den ganzen Bereich seines Lebens durchziehende Quelle intimer Aufschlüsse von hohem Wert erschloß, hat daher 1932 einen Ausgangspunkt für eine wirklich vertiefte Auffassung der Gestalt und der ganzen Laufbahn Holsteins geschaffen.

Trotz dieser zweifellos irrigen Neigung, die Holsteinsche Marokkopolitik zu retten, indem er hinter ihr die großzügige Konzeption des Präventivkrieges gegen die endlich richtig erkannte Gefahr der Einkreisung Deutschlands suchte, stellen die Erinnerungen des Freiherrn von der Lancken-Wakenitz ( 1198) in ihrem frischen, natürlich-einfachen Bericht über seinen Anteil an der deutschen Vorkriegsdiplomatie und seine belgische Verwaltungsmission im Weltkriege eine ähnlich wertvolle Bereicherung unserer Kenntnis dar, wie die Memoiren Fr. Rosens ( 1080). Beide sind verwandten Ursprungs, analog gedacht als Ergänzung der deutschen Aktenpublikation durch noch lebende jüngere Mitglieder des deutschen diplomatischen Dienstes der Vorkriegsgeneration. Auch ihr Schwerpunkt liegt wie derjenige des ersten Bandes der Rosenschen Erinnerungen auf der Marokkofrage. Sie sind wertvoll vor allem für das Scheitern aller Lösungsversuche in der Übergangszeit von 1906--1911, in der bereits die Gestalt des unternehmungslustigen jungen Tardieu charakteristisch hervortritt. Der Bericht über Lanckens Brüsseler Mission seit 1914 enthält eine endgültige Klarlegung seiner Rolle im Edith Cavellfall, eine Übersicht über die vielverzweigte Arbeit des deutschen Generalgouvernements in Belgien und, vielleicht am wichtigsten, eine Darstellung seines Anteils an den Friedensfühlern des Jahres 1917.

Hat diese reiche biographische Ernte des Jahres an den verschiedensten Punkten unsere Kenntnis wesentlich vermehrt, so läßt sich das Gleiche nicht über die Reiseberichte und Aufzeichnungen des Fürsten Eulenburg von den kaiserlichen Nordlandsreisen ( 1037) sagen. Die anspruchsvolle zweibändige Publikation enthält nicht die Dokumente der politischen Arbeit Eulenburgs als Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Kaiser, sondern seine persönlichen Eindrücke, die zu dem bekannten Charakter dieser Lieblingserholung Wilhelms II. nichts wesentlich neues hinzufügen. Der Höfling Eulenburg verrät sich während der ersten Jahre dieser ihm persönlich verhaßten Seereisen von neuem in hochgesteigerter Schwärmerei für die Persönlichkeit des Herrschers, so daß es einigermaßen schwer verständlich bleibt, wenn man geglaubt hat, gerade mit diesen Bänden die Angriffe Bülows auf Eulenburg besonders wirksam widerlegen zu können. Die vollendete Inhaltlosigkeit seiner Berichte an die Kaiserin


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stellt vielleicht ebenfalls ein psychologisches Dokument dar, kann aber in der hier vorgelegten Ausdehnung nur negatives Interesse erwecken. Eine ausgleichende Bereicherung unserer Kenntnisse ist nirgendwo zu finden.

Nur ein Fragment dessen, was wir wissen möchten, umfaßt, dabei aber doch einen lebendigen Hinweis auf die Bedeutung der Gestalt enthaltend, die Abhandlung F. Heilbrons über O. Hammann ( 1058). Sie weist auf ein politisches und biographisches Problem hin, das trotz der zahlreichen im Druck vorliegenden Schriften des einstigen Pressereferenten im Auswärtigen Amte heute noch der Lösung harrt. Die aus guter persönlicher Kenntnis stammende Skizze vermittelt ein Verständnis der Persönlichkeit, aus der Perspektive des anhänglichen, jüngeren Mitarbeiters gesehen, und ist geeignet, die selbstständige Bedeutung des Mannes zu unterstreichen, den Fürst Bülow unbedenklich als Lehrmeister der Redekunst und Presseregie ausnutzte, um sich ihm gegenüber in einem ähnlichen Verhältnis persönlicher Abhängigkeit wie von seinem sachlichen Gegner Holstein zu befinden. Heilbronn weist ferner nach, daß Hamanns Einfluß bereits in der letzten Zeit vor dem Weltkrieg in entschiedenem Rückgang war. Auch diese Studie vermag jedoch nicht, den Nachlaß ihres Helden zu ersetzen, dessen Erschließung bereits nach den fragmentarischen Mitteilungen seiner eigenen Bücher als sehr viel wünschenswerter erschien, als die weitere Vermehrung ungenügender Bruchstückmitteilungen aus Hamanns Leben, die diesen eigentlichen, für die ganze Kenntnis der Periode wichtigen Schlüssel nicht zu ersetzen vermag.

Die Jahre 1930/31 sind durch die Fülle dieser Erscheinungen ein Abschnitt für unser Wissen um die innere Seite der deutschen Entwicklung geworden. Gleichzeitig ist die Produktion an darstellender Literatur begreiflicherweise ins Stocken geraten, da die Begrenztheit der bisherigen Grundlagen unseres Wissens dadurch scharf ins Bewußtsein gerufen wurde. Nur der Dilettantismus Fr. Nowaks hat sich mit einer Gesamtdarstellung des neuen Kurses ( 1035) hervorgewagt, die, ebenso wie der Vorläufer über Bismarcks Sturz, auf dem unmöglichen Versuche beruhte, die persönlichen Erinnerungen Wilhelms II. zum Ausgangspunkt für eine Neuorientierung unserer Auffassung der Periode machen zu wollen. -- Die Literatur beschränkt sich im übrigen auf kleinere monographische Studien. Helds Dissertation ( 1043) stellt das Material über Bismarcks Beziehungen zu Caprivi zusammen, ohne zu einer befriedigenden Gesamtbehandlung ihres Verhältnisses zu gelangen. -- Wertvoller ist die Breslauer Arbeit von Bernh. Michalik ( 1048) über die Probleme des deutschen Flottenbaues. Sie stellt in scharfer Zuspitzung die Frage nach der politischen Fundamentierung des Tirpitzschen Risikogedankens und sucht die relativ spärlichen Aussagen des Admirals über diese Seite seines Wirkens auf einen letzten einheitlichen Sinn zu bringen. Als Ergebnis sieht er an, daß die logische Ergänzung des Flottenbauplanes im Kontinentalbündnis hätte liegen müssen. Die Tragik dieser großen Kraftanstrengung des wilhelminischen Deutschland findet er somit in der Tatsache, daß diese von Tirpitz richtig empfundene politische Rückendeckung des Flottenbaues gerade in dem Augenblick unmöglich wurde, in dem der Aufbau der Flotte recht eigentlich erst begann. Seine Arbeit wird so zu scharfer Kritik an der ideenarmen Zusammenhanglosigkeit der deutschen Politik um die Jahrhundertwende, die aber doch noch die vitale Energie der Tirpitzschen Leistung stark gegen die opportunistische Leichtfertigkeit Bülows


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hervorhebt. Es ist kein Zweifel, daß eine solche Betrachtungsweise der tieferen Problematik der Flottenfrage gerechter wird, als trotz seiner überlegenen Forschungsleistung der einseitig innenpolitische Interpretationsversuch Ekkart Kehrs im Vorjahre (Jberr 6, S. 222). Es bleiben aber doch Bedenken gegen die scharf zugespitzte Konstruktion, die hier Flottenbau und Kontinentalbündnis in absolute gegenseitige Abhängigkeit setzt. Sie beachtet die Tatsache zu wenig, daß die Vorbereitung der Tirpitzschen Flottenbauidee in Hinblick auf die Gefahr des Zweifrontenkrieges beginnt und zum mindesten der Admiralstab noch nach 1900 mit dieser kriegerischen Möglichkeit in erster Linie rechnete. Der Flottenbau ist doch nicht so einseitig nur gegen England gerichtet gewesen, wie es nach dem Verfasser erscheint. Es entspricht auch kaum dem Wesen einer permanenten militärischen Institution von solcher Tragweite, sie ausschließlich als Funktion einer zeitbegrenzten politischen Lage beurteilen zu wollen. So wichtig die gegenseitige funktionelle Bedingtheit der politischen Lage und militärischen Rüstung eines Staates ist, so kann sie der Natur der Dinge nach doch nicht so konstruktiv scharf in Abhängigkeit von der Lage einer bestimmten Einzelsituation beurteilt werden, wie es hier geschieht, es sei denn, daß man angesichts der zentraleuropäischen Mittellage Deutschlands dogmatisch zu einer allgemeingültigen Verurteilung des Strebens nach Seemacht gelangen muß. Trotz dieser Bedenken bleibt die anregende Bedeutung der Fragestellung bemerkenswert, deren Fruchtbarkeit noch stärker erscheinen würde, wenn sie auch auf die Entwicklung des deutsch-englischen Verhältnisses im Weiterverlauf des Flottenbaues ausgedehnt wäre, während hier die Untersuchung auf die Ausgangssituation um 1900 beschränkt bleibt. -- Aus der Schule S. Kaehlers stammt auch eine Dissertation über die Auswirkung der Daily Telegraphaffäre in der deutschen Presse von H. Teschner ( 1082), die eine brauchbare Orientierung zu vermitteln vermag und gut das schnelle Versanden der stark stimmungsmäßig beschränkten Kritik der deutschen Parteien und der öffentlichen Meinung beleuchtet.

Wie die Forschungsbeiträge zur deutschen Geschichte im engeren Sinne bleiben auch die Arbeiten zur diplomatischen Geschichte der Vorkriegsperiode dieses Mal durchweg in monographischen Grenzen und bewegen sich in der Hauptsache um eine beschränkte Reihe von wichtigen Fragenkomplexen. An erster Stelle steht noch immer die Frage der deutsch-englischen Beziehungen. Die quellenmäßige Grundlegung bilden weiter die deutschen und englischen Akten, die nur beschränkte Erweiterung durch Memoirenliteratur erhalten haben. Für das Jahrzehnt von 1890--1901 liegen jetzt die Briefe der Königin Viktoria in den zwei abschließenden Bänden ( 1038) der großen, ihrer Korrespondenz gewidmeten Publikation vor. Als Dokument für die erstaunliche Aktivität und Arbeitskraft der greisen Herrscherin anziehend, bringen sie für das deutsch-englische Verhältnis nur begrenzte Erweiterungen gegen die große Biographie Eduards VII. von Lee. Immerhin werfen sie wertvolles neues Licht auf die maßgebenden Persönlichkeiten der englischen Politik und ihre Tendenzen und lassen aus dem Verhältnis der Königin zu Rosebery und vor allem Salisbury, an den sie sich schließlich mit ähnlicher Energie anschließt wie in früheren Jahrzehnten an Disraeli, auch wichtige Streiflichter auf deren Außenpolitik fallen. Solche Ergänzungen sind für die Siamkrise von 1893 und den Besuch in Cowes 1895 zu verzeichnen. Entsprechend der stark dynastisch-familienhaften


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Interessiertheit der Königin an der Außenpolitik ist stofflich vor allem ihr Verhältnis zu Wilhelm II. durch eine ganze Reihe von Briefen neu belegt. Auch hier tritt ohne die scharfe Gehässigkeit des englischen Thronfolgers doch mehr und mehr das Gefühl der Enttäuschung und der mißtrauischen Zurückhaltung gegen die Politik des Enkels bei der Königin hervor, um im Burenkrieg noch einmal einer neuen, freilich wenig gesicherten Annäherung Platz zu machen. Am wichtigsten sind die reichen Materialien, die beweisen, daß im ganzen Jahrzehnt nach 1890 die Sorge vor der russisch-französischen Gefahr doch immer wieder die Bedenken über die aufstrebende Geschäftigkeit Deutschlands überschattet hat. Ergänzend muß freilich das Bekenntnis Salisburys von 1896 hinzugenommen werden, das zwar die Krügerdepesche Wilhelms II. als Übereilung relativ nüchtern beurteilt, aber ein Bündnis mit Deutschland energisch ablehnt, weil dies eigentliche Ziel der deutschen Wünsche vor der englischen Nation als zu weitgehende Bindung auf jeden Fall untragbar sein würde. Das Prinzip der splendid isolation als Grundlage seiner Politik erscheint damit trotz des Alpdruckes der Zweibundgefahr als Grundlage des Salisburyschen Denkens erneut bestätigt. Ebenso aufschlußreich ist seine Begründung für den Ententevorschlag an Rußland im Januar 1898, die ein gutes Verhältnis zu Russland als einziges Mittel wertet, Deutschland in Schach zu halten. Die Beiträge zur Bündnisfrage in den Jahren 1898/99 sind recht begrenzt, illustrieren aber doch ebenfalls wieder die abweisende Zurückhaltung Salisburys gegen diese Chamberlainsche Idee und weisen gleichzeitig auf die Schwierigkeiten hin, die ihm derselbe Kolonialsekretär als Opponent gegen Konzessionen an Deutschland in der Samoafrage und der Verhandlung über die portugiesischen Kolonien in Afrika bereitete.

Über dies letzte Teilproblem hat F. Schwarze eine gediegene Göttinger Dissertation ( 1050) vorgelegt, die in erstmaliger sorgsamer Auswertung der englischen Akten neues Licht auf die Bedeutung des deutsch-englischen Vertrages von 1899 wirft. Sie weist nach, daß es irrig ist, diese Verhandlung allzu unmittelbar in Verbindung mit den Bündnissondierungen Chamberlains zu bringen. Die Frage der portugiesischen Kolonien kam in Bewegung durch ihre Eigenbedeutung für die Machtkonstellation in Südafrika. Sie steht in erster Linie im Zusammenhang der Vorgeschichte des Transvaalkrieges und wurde ins Rollen gebracht durch den englischen Versuch, in den Besitz des Hafens von Lourenco Marquez zu gelangen und damit den Burenstaaten die einzige Bahnverbindung zur See auf neutralem Boden abzuschneiden. Die deutsche Gegenaktion stieß daher auf zähen englischen Widerstand, so daß hieraus verständlich wird, warum der Anreger des Bündnisgedankens, Chamberlain, diesen deutschen Wünschen besonders schroff engegentrat. Der Vertrag von 1898 stellt somit nur ein der englischen Politik wider Willen aufgezwungenes Kompromiß aus ganz entgegengesetzten politischen Richtungen, nicht ein Teilglied einer englischen Politik des Entgegenkommens gegen Deutschland dar. Auch die zweifellose Verletzung des politischen Sinnes dieses Abkommens im Windsorvertrag zwischen England und Portugal im Jahre 1899 wird damit zwar nicht entschuldigt, aber doch politisch begreiflich. Er bedeutet, daß England nach dem Ausbruch des Burenkrieges in reduzierter Form auf seine von Berlin soeben teilweis durchkreuzte, ursprüngliche politische Intention zurückgriff.

Das Gesamtproblem der deutsch-englischen Beziehungen von 1898 bis


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1914 behandelt ein Aufsatz der Engl. Hist. Review von Mowat ( 1061). Er ist für die Frage der Bündnisverhandlungen um die Jahrhundertwende in seltsam ungenügender Weise von älterer Literatur abhängig. Wertvoller ist die Darstellung der Besprechungen über die Flottenfrage seit 1907, die nach Bd. 6 der British Documents auch die im englischen Lager gegen eine Verständigung mit Deutschland wirksamen Kräfte richtig würdigt und angesichts der Haltung von Crowe und Nicolson sich sogar zu dem Geständnis durchringt, daß bei Bethmann-Hollweg ein stärkeres Maß von aufrichtigem Verständigungswillen vorhanden gewesen sei, als bei seinen englischen Verhandlungsgegnern. Auch die prinzipielle Ablehnung der englischen Diplomatie gegen die deutschen Neutralitätswünsche ist richtig erkannt, wenn auch die Tragweite der deutschen Forderungen mit der Formulierung übersteigert ist, daß die Neutralitätsformel Bethmanns von 1912 tatsächlich einem Bündnisvorschlag gleichgekommen sein würde. -- Eine Nachernte zu der deutschen Diskussion über die Bündnisfrage stellt die Abhandlung H. Walthers ( 1061) dar, die in allen Hauptpunkten die entscheidende Kritik G. Roloffs an der früheren Überschätzung der Bündnis- wie Ententemöglichkeiten in den Verhandlungen des Jahres 1901 bestätigt.

Die 2. Serie der französischen Aktenpublikation hat jetzt in ihrem mikroskopisch langsamen Fortschritt mit dem zweiten Bande ( 1059) das Jahr 1902 erreicht und damit ernsthafte Bedeutung für die Erkenntnis des Umschichtungsprozesses im Mächtesystem um die Jahrhundertwende erlangt. Das Hauptthema dieser Dokumente bildet die Verhandlungsgeschichte des französisch-italienischen Notenaustausches vom Juli 1902. Eingeleitet durch die persönliche Initiative C. Barrères, gestützt von stetig steigenden Sympathien in der Öffentlichkeit der beiden romanischen Länder, hat dieses Abkommen allgemeine politische Bedeutung vor allem auch in Zusammenhang mit der gleichzeitigen Wandlung der deutsch-englischen Beziehungen erhalten. Es stellte ursprünglich für Frankreich nicht nur eine Sicherung gegen Deutschland dar, sondern auch eine Rückendeckung der französischen Mittelmeerstellung gegen die seit der Faschodakrise mißtrauisch und ängstlich beobachtete Gefahr eines deutsch-englischen Bündnisses. Nach dem endgültigen Abbruch der Verhandlungen zwischen London und Berlin traten im Jahre 1902 sofort die ersten Symptome stärkerer englischer Rücksichtnahme auf Frankreich hervor. Lansdowne hat nach der Unterzeichnung des englisch-japanischen Bündnisses im Unterhaus nicht nur offen das Ende der Isolierungspolitik angekündigt, sondern auch Frankreich gegenüber dies Ereignis schonend mit der Zwangslage begründet, in die er durch die Unmöglichkeit einer englisch-russischen Verständigung über Asien versetzt sei. Da auch von der englischen Politik so kein Gegendruck mehr zu befürchten war, konnte Frankreich nach langen, zähen Verhandlungen in Rom zum Ziele gelangen. Die Begleiterklärung Prinettis zum Notenaustausch vom 17. Juli 1902 zeigt deutlich, daß die italienische Neutralitätsbereitschaft bei einem deutschfranzösischen Kriege bis zu den äußersten Grenzen der dehnbaren Formulierung ging. Seine Beispiele für den Fall eines unprovozierten französischen Verteidigungskrieges -- Bismarcks Emser Depesche, der Fall Schnaebele, gewisse Phasen der Faschodafrage -- erhärten endgültig, daß die neuen Verpflichtungen des italienischen Rückversicherungsvertrages mit dem strengen Sinn der Dreibundsverpflichtungen unvereinbar waren und eine neue Phase der Politik Italiens zwischen den großen europäischen Mächtegruppen einleiteten.


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Das Jahresende brachte als weiteren Triumph der Politik Delcassés bereits noch den Auftakt zu den Ententeverhandlungen mit England. Durch den Portugiesen Soveral erhielt der Quai d'Orsay die erste Nachricht über die endgültige Abwendung Chamberlains von dem Gedanken des Bündnisses mit Deutschland. Am Jahresende setzen die ersten Fühler in London über die Marokkofrage ein. P. Cambon konnte bereits Lansdowne den Wunsch andeuten, Deutschland dort zugunsten der beiden Westmächte auszuschalten und bei dem englischen Staatsmann Verständnis für diese Sondierung finden. Auf beiden Seiten tritt der Wunsch hervor, die marokkanische Streitfrage zu bereinigen, ehe hier Lansdowne, dort Delcassé weniger verständigungsbereiten Nachfolgern Platz machen müßten. Der Boden für den Beginn der Ententediskussion war in der inhaltsreichen Entwicklung eines kurzen Jahres nach dem Ausgang der deutschenglischen Bündnisverhandlung bereits geebnet.

Eine wertvolle, neue Beleuchtung der gleichzeitigen Vorbereitung des russisch-japanischen Zusammenstoßes gibt die Berliner Dissertation von Steinmann ( 1070) über die Politik des Staatssekretärs Besobrasow, die nach russischen Quellen sehr energisch gegen die einfache Übernahme seiner absprechenden Beurteilung durch Witte Einspruch erhebt und die Bewertung der russischen Politik im Fernen Osten gegen die bisherige Auffassung einschneidend zu ändern versucht.

Ein ganzer Kreis von Arbeiten hat sich der Entstehung der Ententen und dem Zeitraum der ersten Marokkokrise zugewendet. Montgelas ( 1064) hat in einem gedrängten Aufsatz der Berliner Monatshefte die Ergebnisse der Lansdownebiographie von Newton zusammengestellt. Die Fortsetzung von Rich. Festers Aufsätzen über »Geschichtliche Einkreisungen« ( 1062) in der Deutschen Rundschau verfolgt unter sorgsamer Feststellung der Grenzen und Lükken unseres bisherigen Wissens die Entwicklung vom Beginn der Amtszeit Greys bis zum Memorandum Eyre Growes vom Januar 1907. Seine Behandlung der Algesiraskonferenz zeichnet sich durch weiten Überblick über die gesamte Verflechtung der Mächtekonstellation aus und klärt grundlegend die realen Motive auch der amerikanischen Politik auf. Ebenso wertvoll ist die sorgsame Untersuchung der Differenzen zwischen der Politik Holsteins und Bülows, die ohne die Übersteigerung der Präventivkriegsthese gegen Holstein den Vorwurf erhebt, daß seine an die Grenzen der ultima ratio regis streifende Politik mit der Persönlichkeit des Kaisers notwendig undurchführbar sein mußte, gegen den leichtfertigen Opportunismus Bülows aber doch auf seiner Seite das höhere Maß staatsmännischer Aufopferung der eigenen Persönlichkeit im Augenblick des Scheiterns hervorhebt. Sein Ergebnis geht dahin, daß Deutschland bei einem kriegerischen Zusammenstoß schon in diesem Zeitpunkt nicht nur die Koalition des Zweibundes und der Entente, sondern auch Belgiens und bei längerer Kriegsdauer der Vereinigten Staaten vor sich gefunden haben würde. Die Verhärtung des englischen Ententewillens, wie er am schärfsten in Eyre Crowes Memorandum hervortritt, der bewußte Entschluß Englands, die Entente systematisch als Waffe zur Einschränkung der deutschen Machtstellung in der Richtung zu entwickeln, daß man, gestützt auf Rußland, in absehbarer Zeit dadurch auch Herr der Lage im Nahen Osten zu werden verspreche, zeigt ihm, daß der Geist von Versailles bereits 1907 seinen Einzug in Downingstreet hielt.


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Von Einzelstudien ist die sorgsame Untersuchung Erh. Richters (Diss. Leipzig 1931) über den Anteil Lord Cromers am Abschluß der englisch-französischen Entente zu nennen, die in der Richtung Festerscher Anregungen aus dem Vorjahr die Bedeutung der ägyptischen Frage für den Ausgleich zwischen beiden Mächten nach den englischen Dokumenten umfassend klärt. -- Eine tüchtige Hamburger Dissertation von L. Poltz ( 1071) untersucht den Anteil Englands an der Gründung des Dreiverbandes von 1904 bis 1907 und bekämpft die nach dem Erscheinen der englischen Akten unhaltbare Auffassung, daß diese englische Politik überwiegend den Charakter passiven und defensiven Ausgleichs weltpolitischer Einzeldifferenzen getragen habe. Sie berührt in sorgsamer Untersuchung die ganze Reihe kritischer Einzelfragen, die mit diesem Entwicklungsprozeß von der französischen zur russischen Entente verbunden sind, und hebt hervor, daß es von Anfang an der Sinn auch der Greyschen Politik gewesen ist, Deutschland, wenn möglich, durch Druck auf seine Ostgrenze in Schach zu halten, indem Rußland in das System der Entente eingegliedert wurde. -- Die fleißige Stoffarbeit von Gertrud Rheinländer über die Marokkokrise ( 1073) tritt demgegenüber zurück, da sie sich nicht zu selbständiger Durcharbeit der tieferen politischen Problematik dieser Jahre erhebt.

Einer der Höhepunkte der Marokkokrise, Delcassés Sturz, ist quellenmäßig neu beleuchtet durch die Veröffentlichung von Auszügen aus dem Tagebuch seines Mitarbeiters Paléologue ( 1075). Sie sind wichtig als Vorläufer der französischen Aktenpublikation, da sie dramatischen Einblick in die abgrundtiefe Schärfe des Gegensatzes zwischen dem französischen Außenminister und seinem Ministerpräsidenten Rouvier geben. Zu der wichtigen Frage der englischen Hilfszusagen an Frankreich scheinen die Aufzeichnungen Paléologues erneut zu erhärten, daß die Maierklärungen Lansdownes von französischer Seite übertreibend als Bündnisangebot aufgefaßt wurden, vor dessen Gefahren übrigens selbst P. Cambon den Außenminister warnen zu müssen glaubte, obwohl er den Sinn der englischen Erklärungen richtiger nur als entente générale bezeichnete. Ungelöst bleibt auch hier das Problem, ob etwa Eduard VII. mündlich weitergehende Ermutigungen geäußert hat, für die manches in den hier gegebenen Andeutungen über das Verhalten des Königs sprechen könnte. Auch die Möglichkeit, daß Delcassés Verachtung für die Ängstlichkeit seiner Kollegen (Paléologue: on sue la peur) wie seine betonte Versicherung der englischen Hilfsbereitschaft nur dem verzweifelten Ringen um Behauptung seiner Stellung gegen die innerfranzösischen Widerstände entsprang, bleibt jedoch offen und ernsthaft zu erwägen, so daß eine endgültige Lösung der Frage, wenn überhaupt zu erhoffen, erst mit der französischen Aktenpublikation und dem etwaigen Erscheinen von Denkwürdigkeiten Delcassés zu erwarten ist. Auch der Beginn der Militärbesprechungen mit England, angeblich auf Anregung wieder Eduards VII., erfährt in dem wichtigen Aufsatz eine Beleuchtung von französischer Seite, die bei der bekannten Eigenart Paléologues freilich ihrem Wert nach erst später endgültig beurteilt werden kann.

Die der Marokkokrise parallel laufende russische Diversionspolitik Deutschlands hat W. Klein ( 1076) zum Gegenstand einer von H. Übersberger angeregten Arbeit gemacht. Als erste monographisch eingehende Behandlung des Bjoerkoeproblems beachtenswert, ist sie leider durch starkes Steckenbleiben im stofflichen Detail belastet. Das Urteil des Verfs. ist kritisch besonnener und


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gleichmäßiger ausgeglichen, als es nach der schriftstellerischen Form erscheinen möchte und sucht das Für und Wider der deutschen Politik, die Berechtigung ihres Kerns und die taktischen Fehler im einzelnen sorgfältig zu scheiden. Die beiden Grundgebrechen, Unterschätzung des französischen Widerstandes und -- wie in der Frage des englischen Bündnisses 1901 -- Starrheit der formellen deutschen Bündnisforderung gegen die geschmeidigere Ententepolitik der Gegenseite, und dadurch bewirkt die taktische Überstürzung, die den Erfolg der eigenen Politik auf eine momentane Überrumpelung des schwachen und leicht beeinflußbaren Zaren setzte, sind unter umfassender Ausnutzung des Quellenmaterials schließlich doch klar herausgearbeitet. -- Für die Entwicklung der russischen Politik zum Beginn der Ententeverhandlung wie den Abschluß der ersten Marokkokrise gleichmäßig wichtig sind die jetzt auch in deutscher Übertragung vorliegenden russischen Akten zur Algesiraskonferenz ( 1079). Sie zeigen, wie die russische Politik nach dem Frieden von Portsmouth unter dem Druck der inneren Revolution durch ihr Anleihebedürfnis notwendig auf die Seite Frankreichs und Englands geführt werden mußte. Die Monate der Algesiraskonferenz bringen dadurch das erste Stadium jener Entwicklung, die den Zarenstaat gerade durch die Niederlage gegen Japan an die Seite seines alten englischen Gegners zwang. Nur daß Rußland doch noch nicht mit der ganzen Starrheit des Franzosenfreundes Nicolson bereit war, die Konferenz wegen der deutschen Widerstände gegen die Ansprüche Frankreichs auffliegen zu lassen, sondern sich durch die Vermittlung Aehrenthals lebhaft an der Formulierung des rettenden österreichischen Kompromißvorschlages beteiligte und schließlich auch die Friedensbereitschaft Bülows als solche anerkannte. Der unmittelbare Abschluß und Lohn dieser Politik war beim Abschluß der Konferenz die Bewilligung seines Anleihewunsches durch Frankreich.

Eine amerikanische Arbeit von O. J. Hale ( 1074) hat schließlich mit umfassendem Fleiße die schwierige Aufgabe übernommen, den Anteil der Presse an der Entwicklung der Europäischen Gesamtkonstellation in den Jahren 1904 bis 1906 zu untersuchen. Sie hat das schwierige Problem in recht instruktiver Weise gelöst, indem sie von dem allein möglichen methodischen Leitsatz ausgeht, die großen Zeitungen der europäischen Staaten nicht nur als Ausdruck und Widerhall einer abstrakten öffentlichen Meinung zu betrachten, sondern als selbst bestimmende Former der politischen Kräfte, die in mannigfacher, von Nation zu Nation und Staat zu Staat wechselnder Gestalt diese erst ihrerseits zu bilden beschäftigt sind. So ist auf diesem Arbeitsgebiet der Pressegeschichte, das von der amerikanischen Forschung der letzten Jahre mit unverkennbarer Vorliebe und sichtlichem Erfolge immer wieder aufgesucht worden ist, eine Arbeit entstanden, die sehr lehrreich an den führenden Organen der deutschen, englischen und französischen Presse das Wechselspiel der Kräfte zwischen Außenpolitik und öffentlicher Meinung darlegt. Kritische Einzeluntersuchungen wie diejenige zu den sensationellen Enthüllungen der französischen Presse über den Sturz Delcassés zeigen sorgsame methodische Kritik. Ohne die Bedeutung der öffentlichen Meinung doktrinär zu überschätzen, weist ihr der Verf. doch vielfach entscheidenden Einfluß auf den großen Entwicklungsgang des Staatensystems zu. Er hebt die Stärke der Abneigung gegen Deutschland in der englischen Presse seit 1900 hervor, die je länger, je mehr die Regierung nach der prinzipiellen Preisgabe der Salisburyschen Isolierungspolitik auf die Bahn des


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Ausgleichs mit Frankreich und später auch Rußland drängen mußte und weist den entscheidenden Anteil der in schroffem Umschwung von tiefer Niedergeschlagenheit zu neuer Sammlung der Kräfte auftretenden nationalen französischen Reaktion gegen die Demütigung des Sommers 1905 an der Ablehnung aller deutschen Verständigungsversuche seit dem Juli 1905 nach. Für Deutschland herrscht auch bei ihm etwas die Neigung vor, den Einfluß der offiziösen Regierungsinformation auf die außenpolitische Stellungnahme der Presse zu überschätzen und die sehr starke Bedeutung der nationalen Prestigeempfindlichkeit als entgegenwirkenden Faktor nicht genügend in Rechnung zu ziehen.

An Inhalt und Umfang tritt die Literatur zur Geschichte des Staatensystems seit dem Abschluß der Ententen gegen die Periode bis 1907 etwas zurück. Die außenpolitischen Reden Greys sind in einer bequemen englischen Ausgabe vorgelegt worden ( 1067), die es gestattet, den lehrreichen Vergleich zwischen den intimen Dokumenten seiner Außenpolitik und ihrer taktischen Adaptierung für die englische Öffentlichkeit zu ziehen. -- Herm. Lutz ( 1068) hat eine der einschneidendsten Enthüllungen des 6. Bandes der englischen Akten in seinem Buche über den Deutschenhasser Eyre Crowe ausgewertet, das auch die englische Berichterstattung aus Berlin und München über die Haltung der deutschen Presse lehrreich geprüft hat und den scharfen Nachweis führt, daß die Gehässigkeit Crowes im einzelnen selbst Zweifel an dem guten Glauben seiner Argumente erwecken muß. Er weist nach, daß auch der Botschafter in Berlin, Sir Edw. Goschen, ganz von der Deutschenfeindlichkeit der englischen Berufsdiplomatie beherrscht war und die Glaubwürdigkeit seiner Berichterstattung nach Einzelkontrolle durch die deutschen Parallelakten nicht unwesentlichen Zweifeln unterliegen muß, während die von der englischen Aktensammlung als offenbar wichtiges Beweisstück für die Englandfeindlichkeit der deutschen Presse umfangreich herangezogenen Münchener Berichte von Sir F. Cartwright ebenfalls stark tendenziöse Entstellungen aufweisen. Als Beispiel für die Fruchtbarkeit kritischer Einzeluntersuchung der englischen Akten vermag das kleine Buch recht gute Dienste zu leisten.

Zur zweiten Marokkokrise untersucht eine Kölner Dissertation von P. Gruschinske ( 1089) Kiderlen-Wächters Verhältnis zur deutschen Presse und betont, daß die Glaubwürdigkeit der alldeutschen Behauptung, daß er ihre Forderung nach einem Stück Marokko zu Beginn der Krise als berechtigt bezeichnet habe, im großen und ganzen nicht anzuzweifeln sei. Der bisher vorliegende Teildruck behandelt nur die Anfänge der Krise, in denen die deutsche Presse mit wenigen Ausnahmen der Kiderlenschen Politik bereitwillige Unterstützung gewährte. -- Ein ebenfalls wichtiges Teilproblem, die Unternehmungen der Brüder Mannesmann in Marokko, untersucht ein Angehöriger der Familie (Kl. Mannesmann: Die Unternehmungen der Brüder Mannesmann in Marokko. Staatsrechtl. Dissert. Würzburg 1931), der den Nachweis liefert, daß ihre ausgedehnten wirtschaftlichen Organisationen in Marokko ihrer eigenen Erkenntnis von der wirtschaftlichen Bedeutung des Landes und ihrer privaten Initiative entsprungen waren, während die deutsche Regierung ihnen schon seit 1909 mit steigender Zurückhaltung gegenüberstand. Die Arbeit gibt so den Nachweis, daß die Einwirkung des Mannesmanneinflusses auf die deutsche Politik nicht entfernt die ausschlaggebende Bedeutung besessen hat, die ihr vor allem von französischer Seite zugesprochen worden ist. -- Über seine Rolle in der Agadirkrise


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hat jetzt Jos. Caillaux ( 1090) erneut das Wort ergriffen und den Anspruch erhoben, daß seine Mäßigung Frankreich davor behütet habe, in die provozierende Falle zu gehen, die ihm Kiderlen mit dem Agadircoup gestellt hätte. Er habe so Frankreich den Besitz Marokkos um den geringsten möglichen Preis gesichert.

Eine umfangreiche holländische Untersuchung von B. D. Kraft ( 1092) über die Haldanemission geht weit über die engere Grenze dieses Themas heraus, da sie den Versuch einer zusammenfassenden Geschichte des deutsch-englischen Flottenproblems wagt. Sie zeichnet sich durch gediegene Ruhe des Urteils aus, das richtig das allmähliche Hervortreten der englischen Sorge vor der Tirpitzschen Schöpfung beobachtet und erst seit ungefähr 1904 eine entscheidende Belastung der Beziehungen zwischen beiden Ländern durch den Flottenbau feststellt. Ihr Hauptinhalt ist die Auswertung des 6. Bandes der englischen Aktenpublikation, der von deutscher Seite trotz seiner grundlegenden Bedeutung für das Problem noch keine eingehendere Bearbeitung gefunden hat. Kraft hat mit anerkennenswerter Objektivität klargestellt, daß die politischen Bindungen der englischen Ententepolitik ein ebenso entscheidendes Hemmnis für die Verständigungsversuche bedeuteten, wie die militärische Tatsache des deutschen Flottenbaues. Er hat die ganze Fülle des englischen Materials, das den prinzipiellen Primat der Ententeidee im Foreign Office erhärtet, in eindrucksvoller Vollständigkeit ausgebreitet. Die Schlußabschnitte über das engere Thema der Haldanemission würden heute auf Grund der französischen Akten bereits eine wesentliche Ergänzung und Bereicherung erfahren müssen. Auch sie sind jedoch als eingehende Feststellung des Ergebnisses aus den deutschen und englischen Dokumenten von Wert. Sie betonen scharf, daß Haldanes Aufgabe in Berlin zunächst nur in der Erforschung des Bodens bestand, so daß die optimistischeren deutschen Deutungen von vornherein in der Luft schwebten. Er ordnet als Gründe für das Scheitern der Verhandlung das englische Mißtrauen gegen die deutsche Politik und die zähe Verteidigung des Flottenbauplanes durch Tirpitz gleichberechtigt nebeneinander, stellt aber abschließend doch fest, daß England 1912 bereits zu fest an die Entente gebunden war, als daß ein deutscher Verzicht auf die geplante Flottennovelle den Kurs der englischen Politik noch grundlegend hätte ändern können. Auch für ihn bleiben so die großen bündnispolitischen Gruppierungen der letzte die Situation von 1912 bestimmende Faktor, gegen den auch die deutsch-englische Flottenrivalität bei aller ihrer unleugbaren Bedeutung doch erst als sekundärer Faktor zu werten ist.

Diese bereits aus den englischen Dokumenten mit Sicherheit abzulesende Feststellung hat eine neue Bekräftigung durch das Erscheinen der französischen Dokumente für die Zeit der Haldanemission ( 1059) erfahren. Wir können auf ihrer Grundlage jetzt in vollem Umfange das französische Gegenspiel übersehen, daß nach anfänglicher Unterschätzung der Bedeutung der Haldanemission -- veranlaßt durch irreführende, abschwächende Angaben Greys -- durch den Alarmruf des englischen Botschafters in Paris seit dem 27. März mit schärfstem Gegendruck einsetzte. Es bewegt sich auf dem Hintergrund radikaler Ablehnung aller deutschen Versuche, die Schärfe des Gegensatzes zu Frankreich abzumildern, die in diesen Akten wiederholt schroffe Bestätigung erhält. Völlig neu war in diesen französischen Dokumenten die Aufklärung, daß dies Wechselspiel


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zwischen Paris und London in unmittelbarer Verkettung mit Erörterungen stand, die Anfang 1912 durch den Antrag Joffres, der französischen Armee im Kriegsfalle die Offensive durch Belgien freizugeben, hervorgerufen waren. Obwohl Poincaré dieser militärischen Forderung mit Rücksicht auf England sofort Bedenken entgegenstellte, mußte hierdurch für Frankreich jede politische Formel zwischen Deutschland und England unannehmbar werden, die Deutschland für den Fall eines Verteidigungskrieges die englische Neutralität zusicherte, weil damit die Möglichkeit gefährdet wurde, den Ententegenossen für einen als Präventivkrieg begonnenen deutsch-französischen Zusammenstoß an die eigene Seite zu binden. Es ist für die Lage auch in England charakteristisch, daß Nicolson diesen französischen Standpunkt ebenso begreiflich fand, wie ihn Bertie unbedingt unterstützte. Frankreich hat schließlich mit Rücksicht auf die Bedenken Greys sich zur Ablehnung der strategischen Wünsche Joffres entschlossen, dafür aber, wie Aug. Bach ( 1093) in einer guten Studie über diese Frage der belgischen Neutralitätsfrage nachgewiesen hat, um so energischer den Verzicht Englands auf jedes politische Abkommen mit Berlin verlangt und durchgesetzt, so daß jetzt kein Zweifel mehr daran bestehen kann, daß diese französische Gegenaktion den ergebnislosen Abschluß der deutsch-englischen Verhandlungen zum mindesten in der Schlußphase entscheidend beeinflußt hat. Die gleiche führende Einwirkung der energischen französischen Politik beweisen weiter die Dokumente über den Beginn der Besprechungen zur englischfranzösischen Marinekonvention seit dem Juni 1912. Die für Frankreich anfangs nicht unbedenklich erscheinende Flottenkonzentration im Mittelmeer, die militärisch ja aus dem Bedürfnis Englands nach Entlastung durch den Verbündeten entsprang, wurde angenommen, um durch die energische Forderung einer politischen Bindung Englands eine Wiederkehr der Haldanesituation für immer unmöglich zu machen. Der ursprüngliche französische Präambelvorschlag für die Flottenkonvention suchte die Annäherung an eine Bündnisverpflichtung so weit wie möglich zu steigern, die Gegenbedenken Greys erhärten, daß er jetzt nur noch formell die notwendige Rücksicht auf das Parlament für die Zukunft zu wahren versuchte, während er von Anfang an erkannte, daß sachlich eine Bindung Englands mit der Entblößung der französischen Nordseeküste unvermeidlich werden mußte.

Ebenso inhaltsreich und bedeutsam werden unsere Kenntnisse über die russische Politik des Ministeriums Poincaré erweitert. Der Ertrag der beiden Dokumentenbände für das Jahr 1912 verschafft uns zum erstenmal einen Einblick in die Vorgeschichte der kriegsbereiten Haltung Poincarés im Herbst 1912, der das Urteil über seine Polemik gegen die Berichterstattung Iswolskis in den entscheidenden Grundfragen mit durchschlagender Kraft negativ bestimmen muß. Sasonows Wunsch, sich zu Jahresbeginn über die Gesamtheit der Balkanfragen mit Frankreich zu verständigen, führte sofort dazu, die Erinnerung an eine Formulierung Berthelots vom 20. XII. 1895 wieder aufzufrischen, daß nur ein großes nationales Interesse wie die völlige Neuregelung des Ergebnisses von 1870 zwischen Deutschland und Frankreich das Wagnis eines allgemeinen europäischen Zusammenstoßes rechtfertigen könne. Damit wird die Voraussetzung enthüllt, auf deren Grundlage Poincaré am Jahresende die Zurückhaltung seiner Vorgänger in Balkanfragen über Bord warf. Die Feststellung des Obersten Pellé (1. IV. 1912), daß die militärische Lage Deutschlands seit 1871 niemals ungünstiger


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gewesen sei als gegenwärtig, erhellt blitzartig die Wurzeln des neuen französischen Kraftgefühls, das seit dem Ausgang der Agadirkrise immer wieder als Hintergrund der Politik Poincarés sichtbar wird. Zwar fühlt sich Paris noch nicht sicher, daß Serbien der Gefahr einer österreichischen Assimilationspolitik auf jeden Fall gewachsen sein würde, aber der französische Generalstab sah doch die Aussichten der Entente bei einem europäischen Kriege um Balkanfragen als besonders günstig an. Unmittelbar nach Poincarés berühmtem Petersburger Besuch stellte er (2. IX.) auf Anfrage des Quai d'Orsay fest, daß die Bindung österreichischer Kräfte gegen Serbien im Sandschak das zahlenmäßige Gleichgewicht zugunsten der Entente entscheidend beeinflussen und erlauben würde, »einen Sieg zu erringen, der es ihr gestatte, die Karte Europas neu zu gestalten«. Nach diesen Enthüllungen wird man auf Poincarés momentanes Erschrecken über den kriegsgefährlichen Charakter der ihm in Petersburg von Sasonow mitgeteilten serbisch-bulgarischen Konvention nicht länger mehr entscheidendes Gewicht legen dürfen. Die französischen Bedenken (P. Cambon, 3. IX., S. 449 ff.) gingen vor Ausbruch der Krise vor allem dahin, daß Rußland durch Widerstand gegen sofortiges Losschlagen der Balkanstaaten sich diese entfremden und damit den von ihm gebilligten Vertrag mit seinen explosionsgefährlichen Zusagen zu einer höchst zweischneidigen Waffe in ihrer Hand machen würde. Eine wirklich ernsthafte französische Anstrengung, die Auswirkung der gewagten russischen Balkanpolitik zu durchkreuzen, läßt sich im Gegensatz zu diesem besorgten Schelten über das Risiko des von dem Verbündeten getriebenen Spieles nicht feststellen. Man wird das weitere Urteil vertagen müssen, bis auch die französischen Dokumente für das kritische Ende des Jahres 1912 vorliegen, aber schon jetzt feststellen können, daß das bisher Erschienene geeignet ist, die Aktionslust der ehrgeizigen Politik Poincarés in recht bemerkenswerter Beleuchtung erscheinen zu lassen.

Ein weiteres Zentrum der Studien zur Vorgeschichte des Weltkriegs bildet erneut die Entwicklung der Balkanfragen, die durch das Erscheinen der österrichischen Akten in vielfach neue Beleuchtung gerückt sind. Das österreichischserbische Problem hat eine neue Gesamtdarstellung durch Boghitschewitsch ( 1127) erhalten, der mit ihr selbst die Summe aus seiner Aktenpublikation über die serbische Politik vor dem Weltkrieg zieht. Sie beweist von Neuem seine umfassende Kenntnis des Gegenstandes, berücksichtigt am eingehendsten die Annexionskrise von 1908/09, wird aber im Weiterverlauf erheblich skizzenhafter, so daß sie als wirklich befriedigende Behandlung des Problems auch bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse doch nicht angesehen werden kann. -- Auch die geistreiche, aber stark konstruktive Arbeit von E. Anrich ( 1101), die die Bedeutung der serbischen Frage für die europäische Gesamtpolitik seit dem Berliner Kongreß unter starker Betonung geopolitischer Gesichtspunkte in großen Linien verfolgt, ist offenbar in der Hauptsache vor dem Erscheinen der österreichischen Akten gearbeitet worden. Sie verfolgt geistreich und anregend das allmähliche Hervortreten der großserbischen Frage seit dem Berliner Kongreß in ihrem Zusammenhang mit dem Wandel der europäischen Mächtekonstellation und bringt wertvolle Einblicke in die funktionellen Grundlagen der immer auswegloseren Situation, in der sich die Donaumonarchie in der letzten Epoche vor dem Weltkrieg dem kleinen serbischen Nachbarn gegenüber befand. Dafür tritt der konkrete Ablauf der Ereignisse seit 1908 so


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stark zurück, daß auch diese Behandlung den Leser mit dem Gefühl der Unbefriedigung zurückläßt.

Dem umwälzenden Eindruck der österreichischen Publikation hat sich auch der Amerikaner Bernadotte E. Schmitt nicht entziehen können. Seine umfassend angelegte Studie über die Annexionskrise ( 1087) behandelt vorläufig nur Vorgeschichte und Ausbruch des Konfliktes, zeigt aber in dem kritischen Urteil über Iswolski deutlich die Wirkung der neuen Quelle. Auch er muß die russische Initiative für die zur Annexionskrise führenden Verhandlungen zugeben, die ebenso stark den Meerengenaspirationen Iswolskis, wie dem österreichischen Wunsche entsprangen, die staatsrechtliche Lage des Okkupationsgebietes zu regeln. Zwar läßt er die Frage noch offen, ob Aehrenthal in der Frage des Annexionstermines nicht doch eine gewisse Übertölpelung des russischen Ministers versucht habe, stellt aber fest, daß der Hauptgrund für den schroffen Zusammenstoß nach der österreichischen Annexionserklärung in dem Widerstand beruht hat, den Iswolskis leichtfertig aufgebaute Politik im eigenen russischen Lager durch den Widerspruch des aus innenpolitischen Gründen unentbehrlichen Ministerpräsidenten Stolypin gefunden hat. Er stützt sich dabei mit Recht auf die wichtigen Memoiren N. V. Tscharykows (Glimpses of High Politics, London 1931), die für diese Episode und die der Annexionskrise folgenden Jahre seiner Konstantinopeler Botschaftertätigkeit -- vor allem seine Meerengenaktion von Ende 1911 -- für das Verständnis der russischen Politik eine nicht zu übersehende Bedeutung besitzen.

Auf Grund der Aktenpublikation hat weiter A. Rappaport ( 1091) den Friedjungprozeß behandelt, dessen Geschichte in ihr besonders eingehende Berücksichtigung erfahren hat. Er vermag die Anklagen, die auf Grund der unseligen Dokumentenfälschungen gegen die österreichische Diplomatie erhoben worden sind, auf ihr wahres Maß einzuschränken und den Nachweis zu geben, daß an sich die österreichischen Anschuldigungen gegen die großserbische Unterwühlung schon in diesem Zeitpunkt zutrafen, daß damals »wahre Tatsachen durch gefälschte Dokumente« erwiesen worden sind. -- Ein bisher lange im Schatten stehender Komplex der Vorkriegsgeschichte ist zuerst ausführlich in den Studien von Ed. Ritter v. Steinitz ( 1094) über die österreichische Politik während des ersten Balkankrieges behandelt. Sie zeigen, wie viel lebendiger heute unsere Anschauung der österreichischen Politik zu sein vermag, deren defensiver Charakter vor allem hervortritt. Nur der Generalstabschef Schemua hat bei Beginn der Krise noch den alten Traum einer Angliederung Serbiens an die Doppelmonarchie in der Form eines Zoll- und Handelsbündnisses vertreten, die Politik Berchtolds war dagegen von Anfang an bereit, serbischen Gebietszuwachs in ausgedehntem Maße hinzunehmen, falls der Nachbarstaat eine Garantie für Sicherstellung der wirtschaftlichen Interessen Oesterreichs zu bieten bereit war. Wenn er sich der auch in Österreich nicht seltenen Neigung widersetzte, selbst die Gewährung des Adriaausganges an Serbien zuzugestehen, so doch nur, weil selbst diese bescheidene Sicherstellung eines erträglichen Verhältnisses nicht zu erlangen war. Bei aller Schärfe in einzelnen Phasen blieb die österreichische Politik so dauernd in der Abwehr gegen den kleinen Nachbarn und es bestätigt sich von neuem, daß von friedensgefährdendem Ehrgeiz der bereits um ihr Dasein ringenden Donaumonarchie nicht die Rede sein kann.

Schließlich ist auf den letzten Abschnitt der Vorkriegspolitik in ausgiebigem


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Maße durch den Beginn der amtlichen russischen Aktenpublikation zur Vorgeschichte des Weltkrieges Licht geworfen worden (1103--1105). Sie ist nach den bereits bekannten Abmachungen mit Rußland gleichzeitig in deutscher, von O. Hoetzsch mit mustergültiger Sorgfalt bearbeiteter Übersetzung herausgegeben worden. Der zunächst vorgelegte I. Band umfaßt die Zeit vom 14. Jan. bis 15. März 1914, da zwar die Gesamtpublikation von 1904--1917 -- damit im Unterschied zu den Publikationen der übrigen Nationen auch die Jahre der russischen Teilnahme am Weltkrieg umfassend -- reichen wird, der Beginn aber mit der unmittelbaren Geschichte des Kriegsausbruches gemacht werden sollte. Für den fraglichen Zeitabschnitt dieses Bandes sind zahlreiche, und zwar gerade entscheidend wichtige Materialien bereits in den Publikationen der Benckendorff- und Iswolskipapiere vorgelegt gewesen, deren Editions- und Übersetzungstechnik jetzt einer interessanten Nachprüfung unterworfen werden kann. Unser Bild von den großen Linien der russischen Politik wird daher nicht entscheidend geändert. Da aber ihr Spiel jetzt in vollem Umfang übersehbar ist, wird es möglich, die Linien doch erheblich feiner und schärfer festzulegen. Erst jetzt wird die große Fülle der expansiven und aggressiven Tendenzen der russischen Politik ganz erkennbar. Der russische Imperialismus mit seiner Übersteigerung der außenpolitischen Offensive als Ablenkung von der immer trostloseren inneren Lage tritt uns auf allen Fronten, in der ganzen Ausdehnung der asiatischen Grenze, in höchster Steigerung aber erst gegenüber der Türkei und auf dem Balkan entgegen. Die Überleitung der Sasonowschen Politik von dem Teilerfolg der Liman von Sanderskrise zu verstärkter Bündniswerbung um England ist Schritt für Schritt mit minutiöser Vollständigkeit zu verfolgen. Für die Sachlichkeit der Herausgeber spricht es, daß sie ihre eigne Grundthese, die entscheidende Bedeutung des imperialistischen Kapitalismus für den Ausbruch des Weltkrieges im Falle Rußland eigentlich selbst widerlegt haben. Denn eine auf Grund dieser Akten mögliche lehrreiche Untersuchung des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik in Rußland zeigt scharf, daß selbst in der Meerengenfrage, mit der die relativ bedeutendsten Wirtschaftsinteressen des damaligen Rußland verknüpft waren, die politischen Erwerbstendenzen der Schwäche der wirtschaftlichen Kraftentwicklung im Grunde weit vorauseilen und die machtpolitischen Antriebe im Grunde stets ihren Primat wahrten. So verspricht die hiermit beginnende endgültige Zusammenfassung und Ergänzung der zerstreuten und mit der Zeit bedenklich unübersichtlich gewordenen russischen Publikationen, deren sehr verschiedenartige Auswahlgesichtspunkte auch für die Forschung erhebliche Gefahren in sich bargen, zu einer geschlossenen Grundlegung unseres Wissens um den russischen Anteil an der Entstehungsgeschichte des Weltkrieges zu werden, die bei weiterem Fortschritt ebenbürtig neben die deutsche, englische, österreichische und französische Dokumentensammlung zu treten vermag. Der Zeitpunkt, in dem für diesen unserer Epoche so nahe liegenden geschichtlichen Zeitraum eine Dokumentation vorliegen wird, die an innerer Geschlossenheit und Umfang den Vergleich mit wenigen älteren Geschichtsepochen nicht zu scheuen braucht, ist damit erneut um einen wesentlichen Schritt näher gerückt, und man kann nur hoffen, daß eine energische Förderung den Fortschritt der russischen Akten in etwas schnellerem Tempo bewirkt, als dies zur Zeit mit der französischen Dokumentenpublikation der Fall ist.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)