a. Kriegsschuldfrage und Kriegsausbruch.

In dem Prozeß des historisch-politischen internationalen Ringens um das Kriegsschuldproblem hat das Jahr 1931 eine relative Ruhepause gebildet. Auf das Erscheinen des Werkes von B. E. Schmitt, das im Vorjahre versuchte, den Strom des revisionistischen Gedankens einzudämmen, folgte ebenfalls aus amerikanischer Feder eine scharfe Kritik von M. H. Cochran ( 1116), die in wirksamer Weise die Schwächen seiner Arbeitsweise in minutiöser Nachprüfung aufdeckte und die Unmöglichkeit gerade solcher Lieblingsthesen wie der Behauptung des entscheidenden Einflusses, den der Gedanke des Lüttichhandstreiches auf den deutschen Kriegsplan besessen haben soll, die Ansicht, daß die deutschen Militärs die Politik entscheidend bestimmt hätten, nachwies. -- Auch eine Rundfrage der Berliner Monatshefte ( 1118) ergab von neuem, daß die revisionistische Auffassung im Kreise der ernsten Forschung außerhalb Deutschlands festen Fuß gefaßt hat und die Versailler These der einseitigen Kriegsschuld Deutschlands von ihr heute ganz überwiegend abgelehnt wird.

Sehr interessant war es, die Rückwirkung dieser Lage auf Frankreich zu verfolgen. Zweifellos bleibt es hier nur eine rührige Minderheit mutiger Einzelpersönlichkeiten, die sich von dem Boden der offiziellen und gültigen nationalen Auffassungen zu lösen wagen. Aus ihrem Kreis hat R. Gérin ( 1114) eine knappe Gesamtdarstellung des Kriegsentstehungsproblems erscheinen lassen, die schon dadurch von der offiziellen französischen Behandlungsweise abweicht, daß sie die Ursache des Kriegsausbruches im weiteren Rahmen der historischen Entwicklung seit 1871 betrachtet. Er gelangt zu einer rückhaltlosen Ablehnung des Artikels 231, die in der russischen Mobilmachung, damit im Verhalten Sasonows und der Petersburger Militärs, den entscheidenden Anlaß der Katastrophe erblickt. Obwohl er Reserven für den Zeitpunkt macht, in dem die französischen Akten für den Juli 1914 vorliegen werden, hält er als vorläufiges Ergebnis seiner Studien fest, daß die französische Politik im Juli 1914 geschickt gehandelt habe, falls sie den Krieg wollte. Zwar hält er an der geteilten Verantwortlichkeit aller Großmächte, auch Deutschland und England eingeschlossen, fest, entlastet aber mit vollem Nachdruck die deutsche Politik von dem Vorwurf, den Krieg mit Vorbedacht gewollt zu haben, den möglich zu machen sie beigetragen habe, während die Entente, vor allem Rußland, seinen Ausbruch gewiß gemacht hätte. -- Auf dem gleichen Boden der Ansicht von der geteilten Verantwortlichkeit bewegt sich die Studie von G. Demartial ( 1115) über den Mythus des legitimen Verteidigungskrieges. Ihr Ziel ist freilich, vom pazifistischen Standpunkt der Gegenwartspolitik aus, die praktische Unmöglichkeit der Friedenssicherung durch die Begriffsscheidung von Angriffs- und Verteidigungskrieg zu beweisen. Dazu dient ihm eine historische Untersuchung der deutschen und französischen Politik bei Ausbruch des Weltkrieges, die für beide Staaten den Nachweis rein machtpolitischer Orientierung geben will, die die These des Verteidigungsrechtes der eigenen Seite nur als Werkzeug der Interessenpolitik verwertete. Vom Standpunkt des Verfs. erscheint die durch Gewissensbedenken gebrochene Handhabung dieser Taktik in Bethmanns bekanntem Belgiengeständnis


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dann der skrupellosen Formulierung des französischen Standpunktes notwendig ethisch überlegen.

Die gleiche enge Bindung der französischen Literatur an die Gegenwartslage kehrt auch im Bereiche der offiziellen französischen These zur Kriegsschuldfrage wieder und hat hier zu einer Abwandlung geführt, mit der die französische Kriegsschuldforschung den Versailler Vertrag der Auswirkung des revisionistischen Andranges zu entziehen versuchte. Der Hauptvertreter dieser Richtung P. Renouvin hat materiell seine Auffassungen nicht geändert. In einer Besprechung, die die Werke von Sidney B. Fay und Bernadotte E. Schmitt ( 1117) verglich, stellte er naturgemäß, wenn auch etwas gewagt, den letzteren und sein dem französischen Standpunkt nahestehendes Werk als Forschungsleistung hoch über den ersteren und erklärte in der Formulierung des Artikels 231, die Wissenschaft bejahe damit erneut die Tatsache, daß die deutsche Politik Europa 1914 den Krieg aufgezwungen habe. -- Gleichzeitig aber machte ein viel beachteter Tempsartikel vom 15. XI. 1931 (Abdruck Berl. Monatshefte, vgl. 1123) den Versuch, künftigen gefährlichen Auswirkungen des internationalen Ringens um das Schuldproblem durch eine neue Interpretation des Artikels 231 auszuweichen, die in sehr zugespitzter Argumentation die Behauptung aufstellte, daß er nur die formelle deutsche Initiative in der Frage der Kriegserklärung als Auslösung des kriegerischen Zusammenstoßes treffe, nicht die generelle einseitige Kriegsschuld Deutschlands überhaupt behaupte. Ist hier schon die Textinterpretation von Gewaltsamkeit nicht freizusprechen, so konnte A. von Wegerer aus der Entstehungsgeschichte des Artikels und der Kommentierung, die ihm von der Gegenseite bis 1921 immer wieder selbst gegeben ist, eine zweifellose Widerlegung dieser These führen, die jetzt die Kriegsschuldanklage als moralische Basis des Versailler Vertrages nachträglich zu eliminieren sucht, nachdem sie ihre Dienste getan hat und zu einer Gefahr geworden ist. Als Symptom des heutigen Standes im Kampf um das Kriegsschuldproblem bleibt aber dieser Wandel der französischen Stellung doch selbst ein symptomatisch bedeutsames Ereignis, das deutlich als Folge der Entwicklungsrichtung der letzten Jahre zu erfassen ist.

A. v. Wegerer ( 1112) hat in einer Spezialstudie sich noch einmal der Aufgabe gewidmet, in dem russischen Hilfsversprechen für Serbien das Ereignis zu bestimmen, das die Katastrophe unvermeidlich gemacht hat. Unter Heranziehung von Pressestimmen des Juli 1914, weiter der englischen und französischen Berichterstattung aus Belgrad, vertritt er die These, daß bis zum Morgen des 25. Juli 1914 auch die serbische Regierung und Öffentlichkeit mit der Zwangslage einer Kapitulation vor dem durch Tiszas Einwirkung nicht prinzipiell unannehmbar formulierten und als unannehmbar gedachten österreichischen Ultimatum gerechnet hätten. Erst die beiden russischen Telegramme vom 25. VII. bedeuten danach den Augenblick, der den österreichisch-serbischen Zusammenstoß entschied und die Katastrophe ins Rollen brachte. Solange der Text dieser Ermutigungen, deren Bedeutung man schon 1914 ahnte, nicht vorliegt, fehlt noch immer ein wesentliches Glied in der Kette der Ereignisse. Wegerer weist aber mit Recht auf den Zusammenhang der Vorgänge in Belgrad am 25. VII. mit den Ereignissen in Petersburg am gleichen Tage, dem Beschluß über die Inkraftsetzung der vorbereitenden Mobilmachungsperiode, hin und sieht in diesen Weisungen Rußlands an Serbien den entscheidenden Schritt in


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den Weltkrieg, für den die russische Mobilmachung am 29. VII. logische Folgerung und entscheidende sachliche Konsequenz zugleich bedeutet.

Zur Frage der engeren Verantwortlichkeit der serbischen Regierung an dem Attentat von Sarajewo haben jetzt auch die beiden letzten überlebenden Mitglieder des Kabinetts Pasitsch das Wort ergriffen ( 1128). Der ehemalige Kriegsminister von 1914, Petrowitsch, sucht die Geständnisse Ljuba Jowanowitschs durch den Hinweis zu widerlegen, daß die serbische Armee, dank den Folgen des Balkankrieges zerrüttet, 1914 zu einem neuen Kriege ganz außerstande gewesen sei, übersieht aber, daß die Auswirkung dieser unzweifelhaften Tatsache für Serbien 1914 durch die Gewißheit der russischen Unterstützung mehr wie ausgewogen war. -- Näher auf die Behauptungen des einstigen Kollegen Jowanowitsch, der nach wie vor Hauptbelastungszeuge gegen das Kabinett Pasitsch bleibt, geht der serbische Handelsminister von 1914, Velizar Jankowitsch, ein. Er gibt eine Version über die kritische Kabinettssitzung, in der die Gefahr eines Grenzübertritts serbischer Verschwörer nach Bosnien besprochen wurde, -- gesteht also im Gegensatz zu Petrowitsch die Tatsächlichkeit des Vorganges zu -- die die Tragweite der Mitteilungen Pasitschs möglichst abzuschwächen sucht. Da aber nach Jowanowitsch die entscheidenden Mitteilungen erst in dem anschließenden Privatgespräch einer Teilgruppe der Minister gemacht wurden, stellt auch dies keine Widerlegung der sehr präzisen Angaben des einstigen Unterrichtsministers dar. A. von Wegerer hat kritisch auch die Bedeutung der Mitteilungen Jankowitschs über ein persönliches Gespräch mit Frhr. von Giesl am 25. VII. 1914 beleuchtet, in dem er dem österreichischen Gesandten schon vor der offiziellen serbischen Antwort auf das Wiener Ultimatum Andeutungen über deren wahrscheinlich negativen Inhalt machte ( 1128).

Zur Rolle Deutschlands in der Julikrise ist vor allem die unmögliche Darstellung des Fürsten Bülow über den Kriegsausbruch weiter diskutiert worden ( 1051/ 1120). -- Th. von Schäfer ( 1102) hat noch einmal in instruktiver knapper Zusammenfassung die Frage erörtert, ob nach der These von 1919 die militärischen Rüstungen Deutschlands es im Jahre 1914 zu einem aussichtsreichen Kampf um die europäische Hegemoniestellung befähigt haben würden. Er bringt im Rahmen der Studie eine gedrängte Zusammenfassung nicht nur über die Frage des rein militärisch-technischen Rüstungsstandes für Heer und Flotte, sondern auch eine Quintessenz dessen, was die Sonderarbeit des Reichsarchivs zur Frage der wirtschaftlichen Vorbereitung des Krieges in Deutschland ergeben hat und zeigt den Parallelismus des Versagens der deutschen Kriegsrüstung auf diesem Gebiete und dem Gebiete der Landrüstung auf.

G. Roloff hat in Ergänzung seiner grundlegenden Studie von 1928 (Jberr. 4, S. 235) über die Rolle Englands im Juli 1914 den Anteil König Georgs an den Handlungen der Greyschen Politik in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch ( 1126) nachgeprüft. Er stellt fest, daß der englische König wohl auch darum der passiv zurückhaltendste der europäischen Monarchen in der Krise gewesen ist, weil er durch den Staatssekretär offensichtlich nur ganz ungenügend informiert worden ist. Die schwer verständlichen Differenzen zwischen den Meldungen des Prinzen Heinrich über die englische Haltung und ihrem wahren Charakter gehen anscheinend auf diese Ursache zurück. Ebenso erscheint wahrscheinlich, daß die Verzögerung in der Übergabe seines Telegrammes an den Zaren vom 31. VII. 1914, das seinen Empfänger so merkwürdig


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verspätet erreichte, nicht ohne eine noch unaufgeklärte Mitwirkung Buchanans vor sich gegangen sein kann.

Die Rolle Ungarns im Jahre 1914 behandelt eine Arbeit von Eug. Horváth ( 1122), die die Bedeutung der Schuldanklage gegen Ungarn als Grundlage seiner Verstümmelung im Friedensschluß zum Ausgangspunkt hat. Das letzte Ziel der wissenschaftlichen Revisionsforderung ist hier offen ausgesprochen: das Verlangen nach einer Nachprüfung der Grenzziehung von 1919 auf Grund von Artikel XIX der Völkerbundssatzung. Historisch wirkt sich das in dem Versuch aus, den Anteil Ungarns an der österreichischen Außenpolitik der letzten Vorkriegsjahre so gering wie möglich erscheinen zu lassen. Die Schrift untersucht daher eingehend das Verhältnis von Ballplatz und Budapester Regierung auf der Basis des Ausgleichsdualismus, um das Maß des ungarischen Einflusses auf die Außenpolitik der Donaumonarchie in nicht immer unbedenklicher Weise als recht gering erscheinen zu lassen. Für die Julikrise des Jahres 1914 kann der Verfasser auf Grund der Tiszadokumente dagegen mit vollem Recht herausarbeiten, daß der ausschlaggebende Vertreter Ungarns mit aller Energie versucht hat, die Gefahr einer Katastrophe zu beschwören und selbst bei seiner Zustimmung zu dem Ultimatum an Serbien ganz zweifellos die Hoffnung festhielt, daß dies nicht unbedingt zum Kriege zu führen brauche.


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