d. Zur inneren und Wirtschaftsgeschichte während des Weltkrieges.

Gegenüber der überströmenden Fülle der Kriegsliteratur im eigentlichen Sinne ist der Ertrag des Berichtjahres für die soziale und wirtschaftsgeschichtliche Seite des Krieges wie bisher regelmäßig fast befremdend spärlich. Von deutscher Seite liegt ein brauchbarer Aufsatz von Miksch ( 1208) über die soziale Arbeit des Generalgouvernements in Belgien vor, der die auch von belgischer Seite nicht ganz bestrittenen Leistungen der deutschen Kriegsverwaltung für den Ausbau der sozialen Gesetzgebung in Belgien hervorhebt, von österreichischer Seite ein Teil des Carnegiewerkes, der die Entwicklung der Eisenbahnen in ihrem Zusammenhang mit Kriegführung und innerer Entwicklung des Wirtschaftslebens ( 1210) behandelt.

Eine größere Gruppe wertvoller Arbeiten ist in den französischen Beiträgen des Carnegiewerkes enthalten, die grundlegende Probleme der französischen Kriegführung in breitem Rahmen behandeln. M. Hubers Buch über die Auswirkung des Krieges auf die Bevölkerungsfrage in Frankreich ( 1211) behandelt sehr eingehend und vielseitig die Folgen der Kriegsverluste für Struktur und Gesamtzahl der französischen Bevölkerung, die durch die Menschenverluste des Weltkrieges trotz des Gewinnes der Reichslande um 30 Jahre zurückgeworfen ist. Da das Werk hierfür auch die Zusammensetzung und Eigenart der Verluste


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der Armee eingehend analysiert, beleuchtet sie auch eine wichtige Seite der militärischen Kriegführung Frankreichs in oft recht aufschlußreicher Weise. -- Enthüllt schon diese Studie den engen Zusammenhang des Fragengebietes mit der Problematik der französischen Gegenwartslage, so ist der gleiche Zusammenhang das Grundthema des historisch wie politisch instruktiven Buches, das in derselben Serie Ch. Gide und W. Ouald herausgegeben haben. Sie haben nach dem Muster der belgischen Serie des Unternehmens versucht, eine Gesamtbilanz der über Frankreichs Entwicklung im Weltkrieg in der Carnegiereihe bisher vorliegenden Arbeiten zu ziehen ( 1212). Wird auch hier der tiefe Schatten der Bevölkerungsfrage trotz der starken Assimilationskraft Frankreichs gegenüber der Nachkriegseinwanderung sichtbar, so ist doch vor allem das Gegenbild bedeutsam, das sie gegenüber dieser Verlustseite für die wirtschaftliche Lage Frankreichs nach dem Weltkriege entwerfen können. Die ganze positive Bedeutung der Eroberung Elsaß-Lothringens für den Ausbau der wirtschaftlichen Machtposition Frankreichs, eine Bedeutung, die nach dem Geständnis dieser französischen Beurteiler das Schwergewicht der amerikanischen Schuldenfrage weit übersteigt, wird hier in vollem Umfange erkenntlich und macht die Arbeit zu einem eindrucksvollen Kommentar über die sachliche Wichtigkeit der französischen Kriegsziele und ihrer Erreichung. Ist das Werk so in erster Linie bedeutsam als Aufklärung über die Grundlagen der gegenwärtigen Machtstellung Frankreichs seit 1919, so wird es durch den eingehenden Vergleich der Wirtschaftsstruktur Frankreichs vor und nach dem Kriege doch auch für den Historiker des Weltkrieges zu einer lehrreichen Hilfe für die Erkenntnis der Wandlungen, die der Weltkrieg als umfassende innere Krise der an ihm beteiligten Staaten heraufgeführt hat, und dadurch zu einem der anregungsreichsten Teilbeträge des Carnegiewerkes, der sehr schmerzlich das Fehlen einer ähnlichen Generalbilanz für Deutschland und England empfinden läßt.

Auch zum Verlauf des Wirtschaftskrieges im engeren Sinne bringt die französische Carnegierreihe einen wichtigen Beitrag in der Darstellung E. Clémentels ( 1213) über Frankreichs Anteil an der wirtschaftspolitischen Kriegführung der Entente. Aus der Feder eines der führenden, aktiven Wirtschaftspolitiker der Kriegs- und Nachkriegszeit herrührend, der selbst stärksten Anteil an den behandelten Ereignissen nahm, enthält der Band eine Darstellung der handelspolitischen Verflechtungen der Ententestaaten in den Kriegsjahren, die weit über den engeren Bereich der französischen Politik hinaus das Gesamtproblem der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erst mit England, dann auch mit Amerika behandelt. Der Blick des Verfs. ist weit genug, um damit einen Umriß der Generallinie des Wirtschaftskrieges, von der Ententeseite her gesehen, zu geben, der den weitgehenden Parallelismus zwischen der freilich an schärfer beschränkende Voraussetzungen gebundenen deutschen Kriegszwangswirtschaft und der ähnlichen Ergebnissen der Suprematie des Staates über die Wirtschaft zustrebenden Wirtschaftspolitik der großen Ententestaaten beleuchtet. Vor allem ist die englische Entwicklung in stetem Vergleich zu der französischen Lage stets berücksichtigt, von dem Hinweis auf die paradoxe Tatsache, daß England, der Staat des Freihandels, als erste kriegführende Macht ein großes Wirtschaftsgebiet, die Zuckerversorgung, restlos unter staatliche Leitung stellen mußte, bis zu den immer größeren Schwierigkeiten, die seit 1916 die Zusammenarbeit mit Frankreich bot. Denn hier trat nicht nur als Belastung auf, daß der Druck des


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U-Bootkampfes auf beide Länder in sehr verschiedener Weise wirksam wurde, sondern auch, daß England im Weltkrieg bereits in langsamer Abwendung von seiner Tradition protektionistischen Strömungen, auch gegen den französischen Verbündeten, Raum zu geben begann, um die Unterstützung und enge Verbindung mit den großen Dominien auch für die Friedenszeit sicherzustellen. Zur Geschichte der Friedensverhandlungen weist Clémentel schließlich auf die Bedeutung der Tatsache hin, daß die Vereinigten Staaten von Amerika sich bereits im Augenblick der Waffenstillstandsverhandlungen entschieden den französischen Wünschen entzogen, die die Fortsetzung des Wirtschaftskrieges nach dem Kriege anstrebten. Der Verf. hebt scharf hervor, daß diese für Frankreich tief enttäuschende Wendung bereits den Auftakt zu dem Rückfall in spezifisch amerikanische Politik einleitete, der nach der kurzen Frist der Waffengemeinschaft durch die Ablehnung des Vertrages von Versailles zur Abkehr Amerikas von seinen einstigen Freunden führte. Es war ein Abfall, der nach der epigrammatisch scharfen Formulierung des französischen Ministers den Bruch der wirtschaftlichen Solidarität zwischen den Verbündeten und damit nach seiner Auffassung die Ursünde des Friedensvertrages bedeutete.


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