§ 26. Rechts- und Verfassungsgeschichte bis 911

(M. Lintzel)

In die Frühzeit der deutschen rechtsgeschichtlichen Wissenschaft führt die Veröffentlichung von 34 Briefen des Freiherrn Joseph von Lassberg an Jakob Grimm aus den Jahren 1818 bis 1848 durch A. Leitzmann ( 1221). Der Freiherr von Lassberg ist bekanntlich mit seiner zweiten Ehe ein Schwager Annettes von Droste-Hülshoff geworden, und er ist bekannt vor allem durch seine Ausgaben altdeutscher Dichtungen. Die Beziehungen zwischen ihm und Jakob Grimm rühren aus der Zeit des Wiener Kongresses her, auf dem sich die beiden Männer kennengelernt haben. Wenn auch die Bedeutung von Lassbergs Briefen in erster Linie auf literatur- und geistesgeschichtlichem Gebiet liegen dürfte, so sind die Bemerkungen des feinsinnigen Dilettanten doch auch für die Geschichte der deutschen Rechtsgeschichte von hohem Interesse.

Eine Sammlung der Aufsätze von H. Brunner hat K. Rauch in zwei schönen Bänden herausgegeben ( 1218). Bekanntlich hat Brunner selbst 1894 einen Teil seiner Abhandlungen als »Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechts« gesammelt und ediert. In Rauchs Publikation erscheinen jetzt alle Aufsätze, die in den Forschungen fehlen, dazu die akademischen Reden, die Nachrufe und Besprechungen. Man wird sagen dürfen, daß in den beiden Bänden (trotz der Rechtsgeschichte) die reifsten und reichsten Früchte von Brunners Gelehrtenarbeit vorliegen. Am meisten dürfte es den Zwecken dieses Berichts entsprechen, wenn ich wenigstens die Titel der hier veröffentlichten Aufsätze anführe, und zwar in der Reihenfolge, in der sie in den beiden Bänden abgedruckt sind: Das gerichtliche Exemtionsrecht der Babenberger (1864); Schwurgericht (1876); Sippe und Wergeld nach niederdeutschen Rechten (1882); Mithio und Sperantes (1885); die Freilassung durch Schatzwurf (1886); Nobiles und Gemeinfreie der karolingischen Volksrechte (1898); Ständerechtliche Probleme (1902); Luft macht frei (1910); Das Gerichtszeugnis und die fränkische Königsurkunde (1873); Carta und Notitia (1877); Das französische Inhaberpapier des MA. und sein Verhältnis zur Anwaltschaft, zur Zession und zum Orderpapier (1879); Über das Alter der Lex Alemannorum (1885); Über ein verschollenes merowingisches Königsgesetz des 7. Jhds. (1901); Über das Alter der Lex Salica und des Pactus pro tenore pacis (1908); Das Constitutum Constantini (1888); Das Registrum Farfense (1881); Das anglo-normannische Erbfolgesystem (1869); zu Lex Sal. tit. 44: De reipus (1894); Die fränkisch-romanische dos (1894); Die Geburt eines lebenden Kindes und das eheliche Vermögensrecht (1895); Die uneheliche Vaterschaft in den älteren germanischen


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Rechten ( 1896); Kritische Bemerkungen zur Geschichte des germanischen Weibererbrechts (1900); Beiträge zur Geschichte des germanischen Wartrechts (1900); Zur Geschichte der ältesten deutschen Erbschaftssteuer (1911); Das Totenteil in germanischen Rechten (1898); Über die Strafe des Pfählens im älteren deutschen Recht (1905); Die Klage mit dem toten Mann und die Klage mit der toten Hand (1910); Das rechtliche Fortleben der Toten bei den Germanen (1907); Jurare ad Dei iudicia (1873); Volksrecht und Amtsrecht (1872); Die Coutumiers der Hamiltonversammlung (1883); Aus römischen Inschriften (1884); Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker (1905); Eine bisher unbekannte indogermanische Sprache (1908).

Einen Überblick über die Geschichte des deutschen Rechts gibt P. Rehme in dem Beitrag, den er dem ersten Band von R. Stammlers Gesamtem deutschem Recht beigegeben hat ( 1222). Er behandelt darin in fünf Abschnitten die Urzeit, die fränkische Zeit, das Mittelalter, die Neuzeit und das Privatrecht. Man wird diesem recht ausführlichen, klar und übersichtlich geschriebenen Abriß den Vorzug vor mancher selbständigen und größeren Rechtsgeschichte geben dürfen. -- Beziehungen der deutschen Rechtsgeschichte zur deutschen Literaturgeschichte behandelt H. Fehr. Nachdem er in einem ersten Bande seines Werkes »Kunst und Recht« 1923 »Das Recht im Bilde« besprochen hat, legt er jetzt einen zweiten Band über »Das Recht in der Dichtung« vor ( 1219). In einem einleitenden Überblick erörtert er zunächst die rechtlichen Gesichtspunkte und Fragestellungen, unter denen und auf die hin die Dichtungen behandelt werden sollen. In dem Hauptteil des Buches untersucht er sodann die wesentlicheren Werke der deutschen, teilweise auch der germanischen Literatur von der althochdeutschen Zeit und der Zeit des Heliand bis zur jüngsten Gegenwart auf ihre Einstellung zu jenen rechtlichen Problemen, um schließlich einen kurzen Überblick über seine Resultate zu geben. Es versteht sich von selbst, daß bei dem ungeheuren Umfang und bei der Neuheit des Themas nicht alles ganz gleichmäßig gearbeitet sein kann; aber Fehrs umfassendes Werk, dem H. Borchling freundliche Anerkennung zollt ( 1219), ist sowohl für die Geschichte der Themen und Probleme der Dichtung wie für die Geschichte des Rechtsbewußtseins in Volk und Kultur bedeutungsvoll und aufschlußreich.

Eine Reihe von Abhandlungen, die zum Teil sehr interessante und wichtige Grenzgebiete der deutschen Rechtsgeschichte berühren, muß ich, mich dem Zwang des beschränkten Raumes fügend, im folgenden sehr summarisch behandeln. Einen Überblick über die Geschichte des Gottesurteils gibt im Handbuch des deutschen Aberglaubens W. Müller-Bergström ( 1236), in dem er unter sehr gründlichen Literaturhinweisen die verschiedenen Entwicklungen und Formen des Ordalwesens von der heidnischen Zeit bis in seine jüngsten Ausläufer verfolgt. -- Eine methodisch lehrreiche Verbindung von vorgeschichtlicher Archäologie und Rechtsgeschichte vollzieht H. von Voltelini, indem er an dem Material der Grabfunde die Frage nach der Fortdauer des Sondereigentums über den Tod hinaus im ältesten germanischen Recht untersucht ( 1237); er kommt zu dem Resultat, daß eine solche Fortdauer, insbesondere an der Fahrnis, nur in der ältesten Zeit bestanden hat, daß dagegen schon die Broncezeit das Erbrecht am Sondereigentum kannte. -- Die Wandlungen, die das staatsrechtliche Denken von der Römerzeit bis zur Karolingerzeit durchgemacht


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hat, versucht A. Dumas in seiner Untersuchung über Treueid und Machtgedanken zu verfolgen ( 1231); insbesondere legt er dar, wie sich das Staatsbewußtsein der Römerzeit bei den Germanen zu einem System persönlicher Bindungen umschichtet. -- Die etwas fragwürdigen Ausführungen, die L. Konopczynski in seinem Buch: Le Liberum Veto über die Ausbildung des Majoritätsprinzips in den europäischen Staaten gegeben hat, unterzieht H. Mitteis einer Kritik, der man nur zustimmen kann ( 1224). -- Mit den Problemen der Unfreiheit und der Sklaverei in alter und neuer Zeit, ihren geistigen und rechtlichen Voraussetzungen, sowie den Veränderungen, die sie im Laufe der Zeit durch staatliche und kirchliche Einflüsse erfahren haben, befaßt sich A. d'Amia ( 1238). Der Hauptteil des Buches gibt Studien über das Wesen der Unfreiheit und die Verhältnisse der Unfreien im MA. an Hand von Urkunden, die der Verfasser im Pisanischen Staatsarchiv gefunden hat. -- Dem höchst problematischen »Ligurischen Recht«, das Meijers in den Alpenländern und anderswo als Überbleibsel einer verschollenen Rasse entdeckt haben wollte (vgl. Jberr. 5. S. 317), ohne damit im allgemeinen Anklang zu finden, kommt G. Cornaggia Medici mit einigen Argumenten aus italienischen Quellen des frühen MA. zu Hilfe ( 1239), ohne daß dadurch die ganze Angelegenheit plausibler werden dürfte. -- In seiner Féodalité, Vasalité, Seigneurie überschriebenen Studie gibt B. Bloch ( 1232) einen kritischen Überblick über Neuerscheinungen auf diesen Gebieten. -- Den Begriff und die rechtliche Bedeutung des Regnum Italicum in seinen Beziehungen und in seinem Gegensatz zum Imperium Romanum behandelt V. Franchini ( 1230), dessen Buch mir nicht zugänglich war. -- Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die kurzen Veröffentlichungen von H. Boone über die Verwaltungsbezirke der Merowingerzeit ( 1233) und von C. de Clercq über die fränkischen Kapitularien in Italien zur Zeit Karls des Großen ( 1234).

Eine kleine Studie über den gesellschaftlichen Aufbau des deutschen Volkes im MA. gibt K. Weimann ( 1223), indem er die sozialgeschichtlichen Verhältnisse von Freien und Unfreien, von Sippe, Grundherrschaft, Städtewesen und Landesherrschaft verfolgt. -- Die Bedeutung einzelner Landschaften für die deutsche Rechtsgeschichte des MA. tritt vor allem in zwei Publikationen von U. Stutz hervor. In einem reichen und anregenden Vortrag zur Feier des 50 jährigen Bestehens der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde behandelt er den Rhein und die deutsche Rechtsgeschichte, d. h. die Bedeutung der Rheingebiete für die Entwicklung des deutschen Rechts und der deutschen Verfassung im MA. ( 1220). Er verfolgt die Rheinlande in diesen Beziehungen von der Römerzeit über die Zeit der Lex Ribuaria bis zur Bildung der geistlichen und weltlichen Territorien, um zum Schluß zur Arbeit an einer rheinischen Rechtsgeschichte aufzufordern. In einer großen Sammelbesprechung werden sodann von Stutz nahezu 20 verschiedene Abhandlungen, die sich mit der Rechts- und Verfassungsgeschichte der Schweiz, von Schweizer Städten und Kantonen befassen, angezeigt ( 1217). Auf die teilweise sehr eindringlichen und gehaltvollen Rezensionen kann hier leider nicht näher eingegangen werden.

In den letzten Jahren sind auf dem Gebiete der älteren deutschen Rechtsgeschichte bekanntlich vor allem zwei große Problemkreise heiß umstritten gewesen: einmal die Frage nach der Entstehung der oberdeutschen Volksrechte und nach dem Wert der jüngsten Edition der Lex Baiuvariorum; sodann aber


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die Frage nach dem Wesen der Stände der karolingischen Volksrechte. Auf das Kapitel der oberdeutschen Volksrechte gehen diesmal nur zwei Rezensionen ein. W. Merk ( 1227, wo es aber nicht Histor. Jb., sondern Histor. Z. heißen muß) stimmt den Ergebnissen, die E. Mayer über die Entstehung der bayrischen und der alemannischen Lex gewonnen hat (vgl. Jberr. 5. S. 319 f.), im wesentlichen zu, wenn auch vorsichtig und mit Vorbehalt. W. Stach dagegen tritt in seinem sehr ausführlichen Literaturbericht, der in diesem Berichtsjahr einstweilen nur die »Probleme der handschriftlichen Überlieferung der bayerischen Lex« behandelt ( 1226), restlos auf die Seite von Kruschs Erörterungen über eben diese Probleme, wobei er vor allem K. A. Eckhardts Einwände gegen Krusch zurückweist. Wenn er freilich schließlich zu dem Resultat kommt (Histor. Vjschr. 27 S. 492): »Ceterum censeo legem Baiuvariorum iterum esse edendam«, so wird man dem doch wohl widersprechen müssen. Mag Kruschs Angriff gegen von Schwinds Edition noch so berechtigt und ergebnisreich sein, die Rechtsgeschichte hat heute wirklich -- auch auf editorischem Gebiete -- andere Aufgaben, als den Ausgaben der bayrischen Lex von Merkel und von Schwind noch eine dritte hinzuzufügen, zumal da sich eine über jeden Zweifel erhabene Edition niemals wird herstellen lassen.

Der neuen Rechtfertigung, die Heck seinen alten Aufstellungen über die Stände der Karolingerzeit in seinem Buche »Die Standesverfassung der Sachsen im frühen MA.« gegeben hat, tritt F. Beyerle ( 1235) im wesentlichen bei, wenigstens soweit es sich dabei um die Zeit der Lex Saxonum handelt; gegenüber Hecks Erörterungen über die Sachsenspiegelzeit verhält er sich skeptischer, wobei vor allem seine Bemerkungen zum Pfleghaftenproblem hervorzuheben sind. --Heck selbst kommt auf jene Fragen in einem neuen größeren Buche zurück ( 1225). Dem Titel: »Übersetzungsprobleme im frühen MA.« entspricht der Inhalt dieser Schrift freilich nur teilweise. Nur ein Teil des Buches befaßt sich mit dem von Heck schon öfter, wenn auch verstreut, erörterten »Übersetzungsgedanken«. Im wesentlichen gibt das Buch eine neue Zusammenfassung der Ansichten Hecks über die Stände der Karolingerzeit. Eigentlich Neues wird dabei natürlich kaum geboten. Aber, wenn es in diesem kurzen Bericht auch nicht möglich ist, auf die verwickelten Probleme näher einzugehen, um die es sich hier handelt, so möchte ich doch auch hier bemerken, daß mir Heck mit seiner Kritik der herrschenden Lehre im Recht zu sein scheint, wenn ich auch glaube, daß das neue Bild von den karolingischen Ständen, das er an die Stelle des alten setzen möchte, nicht richtig ist.

Über den dunklen und vielerörterten Titel 58 der Lex Salica veröffentlicht E. Goldmann ein Buch »Chrenecruda« ( 1229), in dem er wenigstens einen Teil der Rätsel lösen will, die jener Titel aufgibt. Er sieht in dem Wurf der Erde aus den vier Winkeln des Hauses einen Eidzauber, einen Offenbarungseid des Wergeldschuldners gegenüber seinen Verwandten; und in der sonderbaren Art, wie der Wergeldschuldner dann sein Haus und dessen Umzäunung verläßt, eine Manifestation seiner vorläufigen Friedlosigkeit. Auch wenn sich Goldmanns Ergebnisse nicht in allen Einzelheiten bewähren sollten, so dürfte sein Buch doch wegen des reichen Inhalts, der es trotz seines anscheinend so überspeziellen Gegenstandes auszeichnet, und wegen seiner methodisch bedeutsamen und glücklichen Verknüpfung von Volkskunde und Rechtsgeschichte seinen Wert behalten. Während W. Müller-Bergström ihm fast uneingeschränkt


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zustimmt, erhebt E. Mayer beachtenswerte Einwände, die wenn sie auch nur teilweise stichhaltig sind und selbst keineswegs zu sicheren Ergebnissen zu führen scheinen, doch zeigen, daß die umsichtige Beweisführung Goldmanns durchaus nicht lückenlos und unanfechtbar ist ( 1229). -- F. S. Lear untersucht die Stellungnahme des Cap. 9, 3 der Lex Romana Curiensis zur Gotteslästerung ( 1228), wobei er besonders nach den römischen Vorbildern und Quellen der Lex fragt. Er kommt vor allem zu dem Ergebnis, daß das fragliche Kapitel mit dem Heidentum der Avaren und Slaven oder auch unbekehrter Germanen zu tun hat, und daß in ihm die »laesa religio« an die Stelle der römischen »laesa maiestas« getreten ist.


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