§ 28. Städtewesen des Mittelalters

(R. Koebner)

Wenn unter den Städten, die zuerst als Träger der bürgerlichen Verfassungsentwicklung in Deutschland hervortreten, Köln immer aufs neue eine Behandlung für sich fordert, so dankt es diese Sonderstellung nicht zuletzt dem starken Eigenleben seiner Bezirksverbände, seiner »Parochien«, deren Schreinskarten ein einzigartiges Dokument gemeinbürgerlicher Selbstverwaltung im 12. Jhd. darstellen. K. Beyerle, dessen Hingang wir in diesem Jahre zu beklagen haben, hat diesen Gebilden eine seiner letzten Arbeiten gewidmet ( 1281). Seine Untersuchung teilt ihr Interesse zwischen einer neuen Erforschung der Struktur und der Funktionen jener Verbände und zwischen einer Würdigung der Entwicklung, die das Recht der Grundbesitz-Übereignung im parochialen Schreinswesen Kölns durchlaufen hat. Stärker, als es bisher geschehen ist, zieht B. hierbei die Amtleutebücher des späteren MA. zur Kennzeichnung der älteren Verhältnisse heran; zugleich bahnt er sich den Weg zur Annahme einer in das frühe MA. zurückreichenden Entstehung der Institution, indem er die Kölner parochiale Genossendisziplin mit den im »Gilden«-Edikt Hinkmars von Reims regulierten religiösen Brüderschaften in Beziehung bringt. Von beiden Seiten


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her tritt das bisher noch kaum beachtete Rügerecht der Parochialbehörden ans Licht; als sehr alt erscheint auch ihr Gericht um Geldschuld. Über die Entstehung der bestbekannten Parochial-Institution, des Schreinswesens, spricht B. eine völlig neuartige Meinung aus. Daß Verfügungen über Grundbesitz unter Parochialzeugnis auf der Schreinskarte verzeichnet werden, dieser in der direkten Überlieferung fast allein sichtbare Vorgang stelle für die älteste Zeit gar nicht das Hauptmoment des parochialen Zeugniswesens dar. Das Weistum des Bezirks Niederich repräsentierte ein älteres, schriftloses Verfahren; das Urkundenwesen der Schreine aber beginne mit einer amtlichen Hinterlegung von Einzel-Urkunden, neben der die Verzeichnung auf der Karte zunächst nur eine Registerführung bedeute. Wenn auch die Kölner Überlieferung diesen Zustand nicht direkt bezeuge, so lasse ihn doch das Edikt Bischof Bertrams von Metz von 1197 als sein Vorbild erschließen; B. geht so weit, ein verlorenes Statut Erzbischof Brunos II. als Grundlage des Kölner Schreinswesens anzusetzen. Die weiteren Ausführungen B.s gelten der Klarstellung der Formen und der Rechtsnatur der Auflassungsakte nach dem Rechte des Schreinswesens; ausgehend von einer exakten terminologischen Klärung der Einträge verfolgen sie den Weg von dem durch Zeugengabe erwirkten Parochialgenossen-Zeugnis zum behördlichen Akt, der den dringlichen Rechtserwerb in amtlicher Währschaft verankert und die Prinzipien der Grundbuchführung zur Entfaltung bringt.

Die Fragen der ältesten Entwicklung der Gesamtgemeinde Köln werden von B. nur im Vorübergehen, dann aber freilich mit großer Entschiedenheit beantwortet; auf die kritische Stellungnahme H. von Loesch's zu seinen Thesen -- auch hinsichtlich der Deutung der Schreins-Anfänge -- sei schon jetzt hingewiesen (Z. der Sav.-Stiftg., Germ. Abt., Bd. 52, S. 322 ff., Bd. 53, S. 190 ff.).

Ein wichtiges Sonderproblem, an dem das Bürgertum in der Zeit seines Aufstiegs seine Ansprüche auf eine eigenständige Verwaltung zu betätigen hatte, erfaßt H. Fischer ( 1822) in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen den städtischen Gemeinwesen und den von ihnen umschlossenen Judenschaften. Er ist insbesondere bestrebt, die Eigenart des bürgerlichen Judenschutzes gegenüber dem regalrechtlichen herauszustellen. Die Arbeit hat nach den oben in der Bibliographie genannten Rezensionen neuerdings auch durch G. Espinas in den »Annales d'hist. économique et sociale«, Jahrg. 5 eine eingehende Würdigung erfahren, -- wie dieser Forscher überhaupt in seinen Forschungsberichten zum Thema »Histoire urbaine« die deutsche städtegeschichtliche Forschung aufs aufmerksamste begleitet (vgl. Nr. 1256; die Bemerkungen des Berichtsjahres gelten u. a. den hier im Jg. 1930, S. 267 f besprochenen Arbeiten von F. Beyerle und H. Reichard).

Die alte Streitfrage der Beziehungen des Gilderechts und der frühmittelalterlichen Gildeverbände zur Entstehung der Bürgerverbände und der Städtefreiheit wird von Silberschmidt wieder aufgegriffen ( 1259). Seine Erörterung gilt nicht den deutschen, sondern den italienischen Städten; sie zieht aber die deutsche Entwicklung indirekt in Mitleidenschaft, da sie den germanischen Ursprung des Gildewesens als gesicherten Ausgangspunkt festhält. S. greift damit auf die vorlängst von A. Solmi (Le assoziazioni in Italia avanti le orgini del comune, 1898) aufgestellten Thesen zurück und nimmt sie gegen die abweichenden Anschauungen in Schutz, zu denen der gleiche Forscher sich später im Artikel »Comune« der »Enciclopedia giuridica italiana« bekannt hat. In der


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Einzeluntersuchung verteilt sich die Frage dann auf zwei weitgehend verschiedene Phänomene. Der Bürgerverband ist Gildeverband nach seiner rechtlichen Grundstruktur, wo er als pflichtmäßiger Schwurverband in Erscheinung tritt. Der vollkommene Repräsentant dieses Typus ist die Compagna von Genua. Ihr feht ein spezifisch berufsständischer Zug; sie ist keine »Handelsgilde«, -- und für eine solche wäre auch in der Seestadt Genua kein Raum, weil hier gemeinstädtische Interessen und Handelsinteressen von vornherein zusammenfallen. Bei den Binnenstädten Toscanas und der Lombardei ist umgekehrt das Gildeprinzip für die ursprüngliche bürgerliche Verbandsbildung ohne Bedeutung; dagegen ist hier für die weitere Entfaltung der Städtefreiheit von entscheidendem Belang, daß sich die Einzelverbände der Kaufmannschaft in der »mercantia« zu Gesamt-Gilden zusammenschließen und für diese einen führenden Anteil am Stadtregiment erzwingen. Pisa ist die einzige Stadt, in der sich beide Typen verbinden: die coniuratio von 1080 schafft einen Eidverband des Gesamtvolkes; im Laufe des 12. Jhds. aber drängen sich auch hier Gildeorgane der Kaufmannschaft, consoli dei mercanti, schließlich der ordo maris als spezifische Repräsentanten von Handel und Schiffahrt in das Stadtregiment ein. Die Sondergerichtsbarkeit, welche diese Kaufleutegilden entwickeln, kommt zugleich der Ausbildung des Handelsrechts und der Gesellschaftsformen des Handels zugute; diese sind in Italien mit der Entstehung der Städtefreiheit eng verbunden. Richtet sich von hier aus der Blick auf Deutschland, so zeigen sich mehr Gegensätze als Gemeinsamkeiten. Das deutsche Städtewesen hat im ganzen eine gleich intensive Verbindung der städtischen Selbstverwaltung mit der Repräsentation kaufmännischer Gilden nicht aufzuweisen; und seine Freiheitsrechte werden demgemäß auch nicht für eine selbständige Ausbildung der Handelsgerichtsbarkeit und für die Entwicklung der Handelsgesellschaft fruchtbar.

In diesen negativen Feststellungen kommt S. auf eine bereits mehrfach bemerkte Verschiedenheit der italienischen und der deutschen Rechtsentwicklung zurück. Auch Weider gelangt am Schlusse seiner Gesamtdarstellung des Rechtes der deutschen Kaufmannsgilden ( 1260) zu dem Ergebnis, daß die autonome Rechtsbildung dieser Verbände gegenüber der Autorität der Stadt und der Landesobrigkeit stets eine untergeordnete geblieben ist. -- W.s Buch hält sich im übrigen von den entwicklungsgeschichtlichen Problemen, die um die Begriffe »Gilde« und »Stadt« kreisen, fern. Auch die Frage nach den Ursprüngen der städtischen Gilden streift es nur in den einleitenden Betrachtungen, ohne eine eigene Lösung zu erstreben. Seine Hauptabsicht und Hauptleistung liegt darin, daß es historisch-systematisch den Inhalt der ma.lichen Zunftordnungen, soweit sie für Kaufmannsgenossenschaften erlassen sind, zur Übersicht bringt. Es unterrichtet uns auf Grund außerordentlich umfangreicher Mitteilung von Einzelbeispielen über die Formen der Gildeverfassung, die Regeln des Zunftzwangs und der Innungsgerichtsbarkeit, die Regelung der kirchlichen, geselligen und militärischen Genossenpflichten, die Normen für den Handel der Gildemitglieder. Ein Handbuch des deutschen Zunftrechts hat uns bisher gefehlt; wir erhalten es hier für das Recht der Händlerzünfte im besondern.

Die Städtegründung des 12. und 13. Jhds. ist an zwei verschiedenen Stellen unter durchaus verschiedenen Gesichtspunkten behandelt worden. Timme ( 1296) erprobt an den Anfängen der Stadt Braunschweig die Anschauungen


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Rörigs über die Gründungs-Unternehmerstadt. Wie Rörig für Lübeck, so sucht er auch hier aus späteren Stadtbuch-Nachrichten über die ältesten Eigentumsverhältnisse der Marktgrundstücke und Marktbuden Klarheit zu gewinnen. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß von der älteren »gewachsenen« Kohlmarkt-Siedlung aus die Altstadt Braunschweig als Unternehmergründung im 12. Jhd. ins Leben getreten ist; die Kaufmanns-Familien dieser Altstadt sind dann wiederum bei der Begründung der Hagenstadt Heinrichs des Löwen und der um 1200 geschaffenen Neustadt führend hervorgetreten, ohne sich des Marktes so weitgehend bemächtigen zu können, wie es in der Altstadt gelungen war. -- Spricht diese Untersuchung fast durchweg von kaufmännischer Initiative, so würdigen die Studien Wellers die staufischen Städtegründungen in Schwaben ( 1275) als Erzeugnisse vorausschauender und organisationskräftiger fürstlicher Territorialpolitik. Ganz überwiegend erscheinen diese Städte als dazu berufen, das Reichsgut militärisch zu schützen und seine Nutzung auf feste Grundlagen zu stellen. Friedrich I. baut diese Politik erstmals aus; Heinrich VI. setzt sie fort. Die Epoche des Thronstreits läßt dann nicht nur eine Unterbrechung eintreten, sondern macht auch in den massenhaften Reichsgut-Vergabungen die Früchte der Gründungspolitik großenteils zunichte. Aber die ersten, deutschen Jahre der Regierung Friedrichs II. stehen im Zeichen einer kräftigen Wiederaufnahme der älteren staufischen Tradition; und die Reichsministerialen, die -- wie der Schultheiß Wolfhelm von Hagenau im Elsaß -- als ihre Träger anzunehmen sind, haben diese Politik nach W.s Meinung auch fortzuführen gewußt, nachdem Friedrich Deutschland verlassen hatte; die großen Fürstenprivilegien möchte W. nicht als wirksame Rückschläge gegen die königliche Städtegründungspolitik gelten lassen.

Man muß diese Politik als binnendeutschen Hintergrund im Auge behalten, wenn man an die Städtegründung der ostdeutschen Kolonisation herantritt, die ja eben in der Epoche Friedrichs II. systematisch fortzuschreiten beginnt. Von den Stadtrechtsdokumenten dieser Bewegung hat eines, die Kulmer Handfeste, in ihren beiden Fassungen nebst den alten deutschen Übersetzungen nunmehr durch G. Kisch eine Edition erfahren, die textkritisch aufs beste fundiert ist und wohl als abschließend gelten darf ( 1247). Aus den beigefügten rechtsgeschichtlichen Untersuchungen sind die Erörterungen über die gleichzeitig mit der Handfeste eingeführten deutschen Gewohnheitsrechte und über die unpraktisch gebliebenen Elemente der Handfeste hervorzuheben. Die älteste Gestalt eines zweiten der grundlegenden örtlichen Stadtrechte, des Halle-Neumarkter Rechts ist aufs neue umstritten. Der Lösungsversuch von A. Schaube ( 1302) rekonstruiert als Grundlage des Schöffenbriefs von 1235 eine erste Rechtsmitteilung um 1210 und eine Neumarkter Bearbeitung dieser Mitteilung um 1214. Inzwischen hat E. Sandow (Deutschrechtliche Forschungen, Heft 4, 1932) den Text von 1235 neu ediert und zugleich Vermutungen über eine älteste Mitteilung von 1181 aufgestellt; die Erörterung beider Hypothesen bleibt zweckmäßig dem nächsten Berichtsjahr vorbehalten. --

W. Beckers Untersuchung über das Magdeburger Recht in der Lausitz ( 1301) hat in den Abschnitten, die der Entstehung der Lausitzischen Gründungsstädte gewidmet sind, berechtigte Kritik gefunden. Recht ergiebig sind dagegen ihre Mitteilungen über das Verfahren und die Inhalte der aus Magdeburg


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geholten Rechtsbelehrung, denen namentlich die Magdeburger Schöffensprüche im Görlitzer Ratsarchiv zugrunde liegen. Vor allem ist es anziehend zu sehen, wie oft und in wie wichtigen Fällen sich Görlitz für die Handhabung des Stadtregiments (Polizeistrafen, Geschoß, Innungsfragen) aus Magdeburg authentische Auskunft erteilen läßt.

Unsere Kenntnis über die wirtschaftliche Struktur des Patriziats in den führenden Städten des späteren MAs. wird wesentlich bereichert durch die eingehenden Studien, die L. Sailer den Wiener Ratsbürgern des 14. Jhs. gewidmet hat ( 1261). Die eingreifende Veränderung, welche die wirtschaftliche Lage zahlreicher Familien im Laufe dieses Zeitraumes erfährt, macht verständlich, daß an seinem Ende jener engere Kreis von »Erbbürgern« übrigbleibt, der nach der Verfassungsurkunde von 1396 ein Drittel des Rates besetzt.


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