§ 30. Reichsverfassung bis 1806

(Hans Erich Feine)

Ein für allemal muß auf die Berichte in Abschnitt B. hingewiesen werden. Für die Reichsverfassungsgeschichte so bedeutsame Werke der letzten Jahre wie die von H. Hantsch (1929, 874, S. 240) und E. E. Stengel (1930, 140 S. 173; 743 S. 175) konnten nur in den Berichten über allgemeine deutsche Geschichte besprochen werden.

Ob die Goldene Bulle auch auf die Wahl eines Römischen Königs anwendbar sei, war immer umstritten. Auffällig ist, daß Karl IV., als er seinen Sohn noch bei seinen Lebzeiten wählen ließ, die GB., sicher nicht absichtslos, überhaupt nicht erwähnt hat. Wie weit er ihre Bestimmungen dennoch beobachtet hat, untersucht die Arbeit von Lies ( 762), mit dem Ergebnis, daß zwar Wahlort, Wahlzeremoniell und Abstimmungsordnung eingehalten, im übrigen aber die meisten Einzelbestimmungen der GB. nicht beobachtet worden sind. In den offiziellen Akten hat man das dann zu vertuschen gesucht. Das alles trifft zu, nur zieht L. nicht die volle Konsequenz: die GB. sollte gar nicht wie etwa ein modernes Wahlgesetz jede Wahl erschöpfend regeln; an eine Röm. Königswahl hat man bei ihrem Erlaß nicht gedacht, sie war durch sie aber deshalb nicht ausgeschlossen und nur um eine entsprechende Anwendung einzelner Teile konnte es sich handeln, wie auch die Reichspraxis von jeher verfahren ist. -- Die Arbeit Feines ( 1311) untersucht Recht und Praxis der Ersten Bitten der Deutschen Könige und Kaiser seit dem 15. Jhd., die allmählich aus einem reinen Königsrecht zu einer nur im Einverständnis mit der Kurie ausgeübten und durch ein jeweiliges päpstliches Indult gutgeheißenen Befugnis des Kaisers geworden waren, und kommt dabei für den kaiserlichen Regierungsantritt zu dem Ergebnis, daß die mittelalterlichen Formen der päpstlichen Konfirmation sich in gewissem Sinne bis ans Reichsende erhalten haben. Bis zuletzt nämlich hielt die Kurie den Schein aufrecht, daß das Haupt der Christenheit durch eine Obedienzgesandtschaft um die päpstliche Konfirmation


S.275

nachsuche. Und der Kaiser bequemte sich noch im 18. Jhd. bei dieser Gelegenheit zu dem Versprechen, er werde leisten, quae obedientissimum Sacrae Rom. Ecclesiae filium strenuumque eiusdem advocatum et defensorem decent. Darauf stellte die Kurie eine feierliche Konfirmationsbulle aus, welche die Wahl bestätigte und den König für würdig zum Empfang der Reichskrone erklärte, freilich alsbald, weil vom kaiserlichen Gesandten zurückgewiesen, ins Archiv der Engelsburg wanderte. -- Das von Loserth ( 809) eingeleitete und herausgegebene Tagebuch des steiermärkischen Landschaftssekretärs Johann Speidl, das dieser bei der innerösterreichischen Reichshilfsgesandtschaft am Regensburger Reichstage von 1594 geführt hat, ist für die Reichsverfassung deshalb interessant, weil es das ganze Getriebe eines Reichstages mit kaiserlicher Eröffnung und Verkündung des Reichsabschiedes in bunten Bildern anschaulich vor Augen führt.

Der Aufsatz von Olga Joelson ( 1312) beleuchtet den Stand der bekannten Streitfrage über den angeblich burgundischen Ursprung der Verwaltungsreformen Maximilians in seinen Erblanden und erklärt diese wesentlich als eine Ausbildung schon vorhandener Ansätze nach praktischen Gesichtspunkten des stets geldbedürftigen Königs unter Berücksichtigung der ständischen Verhältnisse des einzelnen Landes. Sie stützt sich dabei auf die Forschungen von Th. Mayer ( 1920) und zieht die neuere territorialgeschichtliche Literatur zu Parallelen heran.

Der Aufsatz von Opet ( 1314) verfolgt die Vorgeschichte der Appellationssumme, die in der Reichskammergerichtsordnung nicht schon 1495, sondern erst 1521 auftaucht und später mehrfach, zuletzt 1654 auf 400 Goldgulden, erhöht wurde, zurück in das kanonische und romanisch-gemeine Prozeßrecht und seine Literatur. Die Dissertation von Hartz ( 1313) geht den Einflüssen der Reichsgesetzgebung auf die Gesetzgebungen der Territorien auf drei Hauptgebieten nach, dem Gerichtswesen, der inneren Verwaltung (Polizei) und dem Finanzwesen, indem er sieben größere Territorien herausgreift: Österreich, Ober- und Niederbayern, Sachsen, Brandenburg, Jülich-Berg, Kleve-Mark, Hessen und Württemberg, und bei ihnen einen Vergleich zwischen Reichs- und Landesgesetzgebung im einzelnen durchführt. Es zeigt sich, daß das Reich als höchste weltliche Obrigkeit, seine Gesetzgebung als verbindlich für die Territorien durchaus anerkannt war, daß freilich die Bekanntgabe und praktische Durchführung vielfach vom guten Willen der Länder abhing. Dieser war jedoch in jener Zeit noch durchaus vorhanden, zumal auf dem Gebiet der Landfriedens- und Polizeiordnungen und der Strafgesetze. Noch war das Reich ein lebendiger Organismus.

Eine begrüßenswerte Fortsetzung der Arbeiten Fr. Hartungs und R. Festers über Geschichte und Verfassung des fränkischen Kreises bringt für die Zeit von 1648 bis 1672 Wilhelm Schneider ( 828) auf Grund der Kreisakten. Mit Recht sieht er den Wert der Kreise in der Wahrung der Reichsform zu einer Zeit, als diese Form zu zerbrechen drohte, aber die Notwendigkeit und Art einer anderen Lösung noch nicht in das klare Zeitbewußtsein gedrungen war. So ist die Geschichte des fränk. Ks. in den Jahrzehnten nach dem Westfäl. Frieden ausgefüllt vom Gegensatz sich bildender Allianzen der Reichsstände und überkommener Reichsorganisation und Reichspflichten, von vergeblichen Versuchen, die Kreisdefensive zu stärken und die Exekutionsordnung fortzubilden,


S.276

von Streit über die Bewilligung von Türkenhilfen, Kriegssteuern, Moderationsbeschwerden, Neutralitätsversuchen, Aufstellung und Verwendung der Kreistruppen, Stellung des Kreisobersten u. a. m., nachdem die schwersten Lasten des großen Krieges mühevoll beseitigt waren. Insbesondere die Kreistage von 1650, 1651, 1654, 1664 und 1672 finden eingehende Darstellung.

Die im Berichtsjahr vollständig, auch in Buchform, vorliegende Arbeit von Josef Karl Mayr behandelt ( 844) das »Spiel der politischen Kräfte« bei der Emigration der Salzburger Protestanten von 1731/32 und liefert damit einen wertvollen Beitrag zur Geschichte des Reichsrechtes, besonders zur Haltung und Anwendung des Staatskirchenrechtes des Westfälischen Friedens und zur Tätigkeit des Corpus Evangelicorum. Der Landesherr hatte danach (IPO. V §§ 34 ff.) das Recht zur Ausweisung Andersgläubiger, mußte aber eine Abzugsfrist von drei Jahren und während derselben freie Hausandacht gewähren. Als nun am 16. Juni 1731 19 000 Pongauer Protestanten mit einer Bittschrift beim Corpus Evang. in Regensburg vorstellig wurden und eine allgemeine Gärung das Land Salzburg durchflutete, suchte der Erzbischof das als offene Rebellion darzustellen und mit Hilfe kaiserlicher Truppen mit Gewalt die Bewegung zu unterdrücken und die Widerstrebenden durch das Emigrationspatent vom 31. Oktober 1731 sofort des Landes zu verweisen. Über den Verlauf der Verhandlungen zwischen der Salzburgischen Regierung, dem Corpus Evang., dem Reichshofrat in Wien und der Prinzipalkommission in Regensburg, über die reichsrechtlich recht verwickelte Lage, die durch das Hineinspielen der Pragmatischen Sanktion noch weiter kompliziert wurde, über das Eingreifen Preußens erhalten wir erstmalig eine klare Darstellung auf Grund der Akten, die bis zu dem friedensschlußmäßigen Patent des Erzbischofs vom 19. September 1732 geführt ist. Karl VI., der seine Truppen dem Erzbischof zur Verfügung gestellt hatte, konnte als Wahrer der Reichsgesetze nicht umhin, den Erzbischof durch einen Reichshofratsprozeß zu einer Änderung seiner mit dem Religionsfrieden nicht vereinbaren Haltung zu nötigen.

Auf die Bedeutung der außerordentlich tüchtigen Dissertation von Schick ( 872) für die politische Geschichte Deutschlands während der Revolution kann hier nur kurz hingewiesen werden. Sie zeigt die österreichische Kriegspolitik in zähem Ringen mit der preußischen Friedensaktion, die das Reich in die Pazifikation einbeziehen möchte und in der Kriegsmüdigkeit der Reichsstände eine Stütze findet. Die preußische Friedenspolitik, die im Reich durch eine auf kurmainzischen Antrag hin gefaßte »Friedensresolution« vom 22. Dez. 1794 unterstützt wurde, scheiterte nicht nur am Kriegswillen Frankreichs, sondern auch am passiven österreichischen Widerstand und der Kriegspolitik der Tripelallianz. Interessant ist vor allem das Ringen der beiden deutschen Großmächte auf dem Reichstag, das in manchem bereits an den Kampf beider am Frankfurter Bundestag nach 1850 erinnert; nur sind die Rollen Österreichs und Preußens bis zu gewissem Grade vertauscht: Preußen hat zwar die Reichsstände im wesentlichen für sich, wird aber durch Österreich mattgesetzt. Verfassungsgeschichtlich ist die Arbeit deshalb wertvoll, weil sie uns das Verfassungsleben des Reiches im letzten Jahrzehnt seines Bestehens anschaulich vor Augen führt. Über den Gang der Reichstagsverhandlungen und über das Reichskriegswesen erhalten wir erschöpfende, großenteils aktenmäßige Auskunft. Das Heerwesen bietet das Bild trostlosen Verfalles. Wenn auch der


S.277

Reichstag das Quintuplum und je bis zu 100 Römermonaten bewilligte und man noch einmal eine selbständige Reichsarmee aufstellte, so kam diese doch niemals voll zustande; Geldablösung (»Reluition«) und einfache Nichtgestellung ließen sich nicht ausrotten, und der wiederholte Versuch des Kaisers, durch eine Verschärfung der Exekutionsordnung die Säumigen zur Pflichterfüllung zu zwingen, scheiterte am Widerwillen des Reichstages, der auch jetzt jede Stärkung der kaiserlichen Macht beargwöhnte; nicht ohne Grund, denn trotz reichspatriotischer Kundgebungen suchte Franz II. gerade jetzt das Reich seiner Hauspolitik dienstbar zu machen. Über den Reichstag selbst darf für diese Jahre kein ganz ungünstiges Urteil gefällt werden. Der Ernst der Stunde kam den Reichsständen wohl zum Bewußtsein. »Man wird in den Annalen des immerwährenden Reichstags wohl schwerlich eine zweite Periode verzeichnet finden, in der so ernste Arbeit geleistet worden ist, wie in den Jahren 1792 bis 1795.« An der Größe der Aufgabe, an der Wucht der jungen revolutionären Kräfte gemessen, die von Westen über das altersschwache Reich hereinbrachen, war es freilich nur ein letztes Aufflackern der Kräfte einer absterbenden Zeit.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)