1. Allgemeine Wirtschaftsgeschichte.

Cunow bringt seine »Allgemeine Wirtschaftsgeschichte« mit dem vorliegenden vierten Bande zum Abschluß ( 1378). Er behandelt darin die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands vom 30jährigen Kriege bis auf Wilhelm II. in 8 Kapiteln, die Rußlands seit Peter dem Großen in einem, Frankreich seit 1789 in 2, England seit 1688 in 4 und Nordamerika von der Kolonialzeit an in 3 Kapiteln. Es kann als berechtigt angesehen werden, daß nur die wichtigsten Wirtschaftsmächte behandelt und daß die zeitlichen Abgrenzungen ungleichartig gewählt sind. Doch lassen sich Bedenken nicht unterdrücken. Vor allem ist der wichtigste und für das behandelte Zeitalter ausschlaggebende Vorgang, die Entstehung einer die Erde umspannenden »Weltwirtschaft«, unberücksichtigt geblieben. Die gewaltigen Umwälzungen in der Technik und im Verkehrswesen, im Kredit- und Bankwesen, in der Intensität und den Formen des Austausches, die Verdichtung und Umschichtung der Menschenmassen, die wirtschaftliche und kolonisatorische Aufschließung der Erde, der Siegeslauf der abendländischen Zivilisation und Wirtschaft -- das alles sind doch Erscheinungen, die der neuen Zeit ein einzigartiges, nur ihr eigentümliches Gepräge gegeben haben und die sich nicht im Rahmen einzelner, wenn auch besonders wichtiger Volkswirtschaften darstellen lassen. Das Namen- und Sachregister, das der IV. Band für das ganze Werk bringt, ist recht knapp und, wie auch an Stichproben festzustellen ist, nicht vollständig.

Mit größerem Rechte als dem Cunowschen könnte dem umfangreicheren Buche von Sartorius v. Waltershausen ( 1414) die Bezeichnung einer


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Allgemeinen Wirtschaftsgeschichte für etwa den gleichen Zeitraum zukommen. Denn wenn es auch darin wesentlich auf den internationalen Austausch abgesehen ist, und auf die Einzelheiten der gewerblichen, agrarischen oder gar sozialen Entwicklung nicht eingegangen wird, so sind doch neben den zwischenstaatlichen Beziehungen die Veränderungen innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften und ihre Ergebnisse eingehend berücksichtigt. Es ergibt sich ein wirklich umfassendes und großartiges Bild des wirtschaftlichen Geschehens der neueren Zeit bis zum Weltkriege, zumal da hier nicht bloß eine Auswahl der wichtigsten Volkswirtschaften getroffen ist, da eine gewaltige Fülle von Tatsachen beigebracht und durch sehr zahlreiche im Text eingestreute statistische Nachweise ausgezeichnet illustriert wird. Wenn demnach die Aufgabe einer »allgemeinen« Wirtschaftsgeschichte m.E. hier besser erfüllt wird als in dem danach betitelten Cunowschen Buche, so ist immerhin zu bedenken, daß dies nicht der eigentliche Gegenstand des Werkes sein sollte. In bezug auf diesen aber bringt Jens Jessen als Wirtschaftstheoretiker einige nicht ganz unberechtigte Einwände vor. Vor allem vermißt er, daß ein ganz klarer und eindeutiger Begriff vom Wesen der Weltwirtschaft aufgestellt und als leitender Gedanke durchgehends verwendet worden ist, wobei er auch an einzelnen Formulierungen Kritik übt; ferner seien die geistigen Grundlagen und die Verbindung mit den Wirtschaftstheorien nicht hinreichend berücksichtigt und endlich einige Erscheinungen der neueren Literatur nicht herangezogen. Vom Standpunkt des Historikers könnte eingewendet werden, daß in einem Buche, das ausdrücklich die »Entstehung« der Weltwirtschaft zum Gegenstande hat, auch auf ältere internationale Wirtschaftsbeziehungen, wie sie namentlich im Handel mit exotischen Erzeugnissen, Gewürzen und Spezereien bestanden, hätte eingegangen werden sollen. Sonst ist der Zeitpunkt des Beginns der Untersuchung glücklich gewählt und durch drei zusammenfallende Tatsachen begründet: das Eintreten des Liberalismus in die Geschichte, auch theoretisch mit A. Smith; der Beginn des Entstehens einer selbständigen Neuen Welt mit der Unabhängigkeitserklärung der USA.; die Anfänge des Maschinenzeitalters mit den Umwälzungen in der Produktions- und Transporttechnik. Das der Einleitung folgende Kapitel über das zwischenstaatliche Wirtschaftsleben nach der Mitte des 18. Jhds., das knappe Ausführungen über die Wirtschaft der einzelnen Staaten unter dem Merkantilismus bringt, hätte straffer auf den Gegenstand der Untersuchung hingearbeitet werden können. Es läßt sich beispielsweise zahlenmäßig nachweisen, wie bedeutend selbst für einen so energisch nach Autarkie strebenden Staate wie Preußen die zwischenstaatlichen Beziehungen in Aus- und Einfuhr waren. In den folgenden 5 Kapiteln erscheint mir die zeitliche Gliederung etwas zu weitgehend und teilweise gekünstelt (so 5. Erholung und Übergang, 1815--30, 6. Wirtsch. Aufschwung, 1830--48); zweckmäßiger wäre dieser ganze Zeitraum wohl in 2 Perioden: 1775--1815 und 1815--1880, geschieden worden, denen sich, wie auch hier, der Ausbau der Weltwirtschaft bis zum Weltkriege anzuschließen hätte. Recht glücklich wird schließlich der Zusammenhang von Weltpolitik und Weltwirtschaft, im wesentlichen also der wirtschaftlich orientierte Imperialismus, betrachtet; bemerkenswert ist, daß Verf. den Gedanken der Autarkie großer Wirtschaftsgebiete als nicht haltbar, ja phantastisch ablehnt, da keines ganz ohne Einfuhr und noch weniger ohne Ausfuhr bestehen könnte.

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Keßler macht in seiner gehaltvollen und anregenden Abhandlung ( 1382) auf die Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Familiengeschichte aufmerksam, die sich daraus ergeben, daß letztere immer Gesellschafts- (Klassen-, Standes-) Geschichte, Berufs- und Vermögensgeschichte ist. Daher kann Wirtschaftsgeschichte in mannigfacher Weise aus der Genealogie befruchtet werden, und Verfasser gibt dafür nicht nur reiche literarische Hinweise, sondern auch Ergebnisse eigener Untersuchungen, so über Herkunft und Schicksale Königsberger Handwerker und Kaufleute, über frühkapitalistische Kaufmannsvermögen, Ausführungen über die drei Berufsgattungen: Beharrungsberufe, Aufstiegsberufe und, als Sammelbecken der Abgesunkenen und Gestürzten, die ungelernte Handlangerarbeit. K. betont insbesondere, daß die 74 Bände des Deutschen Geschlechterbuchs (vgl. Nr. 254) für die Auswertung nach wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten noch mancherlei Möglichkeiten bieten.


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