§ 4. Neuere deutsche Geschichtsschreibung

(P. Sattler)

Das Buch von E. Keyser: Die Geschichtswissenschaft. Aufbau und Aufgaben ( 70a) verdient unsere besondere Beachtung; beansprucht es doch nichts weniger als die heutigen Strömungen in der deutschen Geschichtschreibung und Forschung programmatisch zusammenzufassen. Es enthält eine Sammlung von verschiedenen, zum Teil lose aneinandergereihten Aufsätzen, die aber alle von einem einheitlichen Grundgedanken getragen sind. K. geht von der Landschaft und ihrer Bevölkerung aus; Raum, Natur und Rasse bilden die Grundlagen der geschichtlichen Welt. Die durch Natur und Vergangenheit geschaffenen Denkmäler treten der schriftlichen Überlieferung als Quellen der geschichtlichen Erkenntnis vollwertig zur Seite; die anschauliche Geschichtskarte z. B. ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern sie vermittelt die Erkenntnis unmittelbarer als die Abstraktion einer bloßen Beschreibung. Diese Geschichtsbetrachtung kennt keinen Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, oder zwischen politischer und Kulturgeschichte. Sie ist bestrebt, die Schlagworte des Tages und der inneren Politik nicht auf die Vergangenheit zu übertragen; sie will betrachten und anschauen. Ihr Denken aber kreist um den Kampf des deutschen Volkes um seine Lebensstellung und seinen Lebensraum; aus ihm schöpft sie das Pathos ihrer Erkenntnis und die Richtung ihrer Forschung. Es weht ein frischer Geisteszug durch das ganze Buch; doch dürfen wir nicht darüber verkennen, daß K. zwar nicht die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft, wohl aber eine ihrer beachtenswertesten Richtungen umreißt. Von diesen Grundanschauungen sind eingehende und scharfsinnige, methodologische und terminologische Erörterungen abgeleitet, die auch auf die Stoffverteilung und Einteilungsgrundsätze der umfassenden Sammelwerke, darunter auch unserer Jahresberichte, Bezug nehmen. Ich glaube, daß man die Forderung nach gleichförmiger Gliederung der großen Sammelwerke nicht allzu eng mit methodologischen Erwägungen verquicken sollte. Diese Werke sind immer traditionsgebunden, und Zweckmäßigkeitsgründe bedingen oft ihren Aufbau. Eine Gleichförmigkeit aller in ihren Zielen doch recht verschiedenen Werke erscheint weder praktisch durchführbar noch überhaupt wünschenswert. -- F. Schnabel hat es sich zur Aufgabe gestellt, den »Wattenbach der neueren Geschichte« zu schreiben und er kann im Berichtsjahr den ersten Teil, der das Zeitalter der Reformation (1500--1550) umfaßt, bereits vorlegen ( 71). Dies Buch ist nicht als ein mit Material überladenes Nachschlagewerk, sondern als einführendes Lesebuch gedacht. Das ist sehr zu begrüßen; denn es besteht ein oft empfundener Mangel an neueren Büchern, die die richtige Mitte zwischen dem populären Lehrbuch und dem enzyklopädischen Handbuch halten. Man muß dabei den Mut haben, Bekanntes zu wiederholen und läuft Gefahr, daß die einzelnen Abschnitte ungleich ausfallen. Es ist deshalb solchen Werken gegenüber kleinlich, wenn Einzelheiten zum Gegenstand der Kritik herausgesucht werden; zweifellos wird eine ganze Studiengeneration aus diesem Werk ihre Kenntnisse über die Quellen der Reformationsgeschichte schöpfen. Schn. hat übrigens den Plan, den Wattenbach für die ma.liche Geschichte ausgeführt hat, insoweit überschritten, als er auch eine weitausholende Historiographie dieses Zeitraums von Sleidan bis


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Troeltsch und G. Ritter, ohne Rücksicht auf die zwischen Kirchen- und Profangeschichte errichtete Scheidewand, geboten hat. --

Hashagen ( 72) verfolgt in seiner Skizze die Bestrebungen nach Versachlichung und Überparteilichkeit als Reaktion gegen die zeitgebundenen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft; er sieht in der französischen Historiographie des 17. Jhds. die erste Stufe zur rein wissenschaftlichen Behandlung der Geschichte. --Kappners Dissertation ( 75) über die Geschichtswissenschaft an der Universität Jena ist in erster Linie wertvoll als Beitrag zur Geschichte der Universität Jena im 17. Jhd. Die Besetzung eines Lehrstuhls und die Pflege der geschichtlichen Studien an einer Universität gibt nur selten ein fruchtbares Thema historiographischer Forschung ab. Aus der Arbeit von K. lernen wir auch keine in sich einheitliche Linie geschichtlicher Bemühungen, auch kaum eine Gestalt, die über das Typische des 17. Jhds. hinausragte, kennen. Nur die eingehende Würdigung von Johann Andreas Bose (1626--1674) ist hervorzuheben. -- Sehr bemerkenswert ist aber der Ertrag für unser Gebiet aus dem Buch von E. Schirmer ( 719), auf das wir an dieser Stelle nur hinweisen können. -- Die Studien von W. Kirchner ( 80) enthalten verschiedene Beiträge zur Biographie, zur Bildungswelt und Geschichtsschreibung des jungen Johannes v. Müller. Die Arbeit schließt mit dem Ende der Kasseler Jahre (c. 1783); eine Erweiterung dieser Studien, die sich in Beurteilung und Stilisierung an Gundolfs Interpretation von Müller als Schriftsteller und Sprachformer anschließen, wird in Aussicht gestellt. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß jüngst diese Überschätzung von U. Pretzel sehr mit Recht bestritten ist. (Hist. Z. 146, 519 ff.) -- In einer Arbeit über Christoph Meiners und die Völkerkunde werden wir nicht gerade einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Historiographie vermuten. A. Ihle ( 79) hat es auch peinlich vermieden, den Göttinger Popularphilosophen von einem andern Standpunkt als dem der heutigen völkerkundlichen Fachwissenschaft zu beurteilen. Es ist zwar I. durchaus bekannt, daß die ethnographischen Bemühungen von Meiners nur einen kleinen Ausschnitt aus seinem weitreichenden Forschungsgebiet bedeuteten; I. verschweigt auch nicht, daß Meiners den Begriff »Völkerkunde« als einer Wissenschaft von der Kunde des Primitiven nicht gekannt hat. Sein Ausgangspunkt war vielmehr die allgemeine Menschheitsgeschichte, und eben deshalb, weil für Meiners die Völkerkunde ein Glied im Rahmen der Kulturgeschichte bedeutete, können wir an der sauberen Arbeit von I. nicht vorübergehen. Man sieht, wie bedeutsam am Ende des 18. Jhds. die Ansätze zu einer induktiven, entwicklungsgeschichtlichen Gesellschaftslehre waren. Man muß es bedauern, daß der Geist der Romantik und die Zielstrebigkeit des Liberalismus diese Ansätze verschütten ließ, bis die Wiederaufnahme der Gesellschaftswissenschaft nur noch in Form der positivistischen Soziologie möglich war. --

Der Gedenktag an Niebuhrs Tod († 2. 1. 1831) hat eine Anzahl von Würdigungen veranlaßt. In erster Linie ist die Rede von F. Schnabel ( 81) zu nennen; sie ist äußerlich am umfangreichsten und behandelt ihren Gegenstand universal. Schn. hebt die Bedeutung Niebuhrs im deutschen Geistesleben hervor und legt dabei den Nachdruck auf Niebuhrs Wirken als Gelehrter und als Schriftsteller, weniger auf seine staatsmännische Leistung. Die einzelnen Züge dieser widerspruchreichen Persönlichkeit, die zu einem sorgsam abgetönten Bild zusammengetragen werden, sind bereits von andern Forschern herausgearbeitet


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worden; doch hat es Schn. verstanden, die Leistung Niebuhrs durch einen Vergleich mit seinen Vorgängern, Mitforschern und Nachfolgern innerhalb der Bewegung des deutschen Geistes hervortreten zu lassen. Bedeutsam ist die von Schn. versuchte geistesgeschichtliche Begründung der kritischen Geschichtsforschung; doch soll nicht übersehen werden, daß die zeitgenössischen Historiker eigentlich durchweg mit Niebuhrs Augen gesehen und beurteilt werden. Der Aufsatz von E. Kornemann (N. und der Aufbau der altrömischen Geschichte. Hist. Z. 145, 277 ff.) erörtert im wesentlichen den heutigen Stand der Forschung über die älteste Zeit der römischen Geschichte. Mit U. Wilcken (Eine Gedächtnisrede auf B. G. Niebuhr. Bonn: Scheur 1931) kommt ebenfalls ein Althistoriker zum Wort, das für uns um so gewichtiger ist, als W. sich nicht in die von N. aufgeworfenen speziellen Fragen der altrömischen Geschichte verliert, sondern N's. Methode darlegt und seine Wirkung auf die Wissenschaft vom Altertum, besonders auf Mommsen und E. Meyer, hervorhebt. Nicht nur die »Römische Geschichte«, sondern auch Niebuhrs Auffassung von der Einheit des Altertums als historische Epoche hat sich als fruchtbar erwiesen. --

Stadelmann ( 73) verfolgt die verschiedenen, mehr geschichtsphilosophisch als historiographisch bedeutsamen Auffassungen und Wertungen des MA. von Herder bis Ranke. Er weist darauf hin, daß das MA. immer in einem Gegensatz zur jeweiligen Gegenwart, bald in Ablehnung, bald in Zustimmung geschaut ist, und er zeigt damit, daß die MA.-Auffassung sich nicht gründet auf Forschung und Erkenntnis, sondern auf ein oft sogar auf jede wirkliche Kenntnis bewußt verzichtendes Wunschbild aus der Gegenwart heraus. Innerhalb der eigentlichen Romantik unterscheidet St. die antirationale, die antiabsolutistische und die antirevolutionäre Richtung; die dialektische Auffassung wertet das MA. als notwendigen Übergang zur Neuzeit, sie führt über Herder und Schiller bis an Hegel heran. Mit Ranke schließt die inhaltsreiche Abhandlung. -- Es ist A. Stern ( 85) gelungen, aus dem neuerschlossenen Briefwechsel von K. Marx den in der Ranke-Literatur so häufig umstrittenen Verfasser des anonymen Aufsatzes »Berliner Historiker« aus dem Jahre 1841 einwandfrei in dem sonst fast unbekannten Jugendfreund von Marx, Karl Friedrich Köppen, zu ermitteln. -- Die von O. Dammann mitgeteilten Briefe von Schlosser ( 84) an Boisserée beziehen sich auf den Streit um Creuzer und haben nur eine biographische Bedeutung. -- Zum Thema J. Burckhardt nimmt C. Neumann ( 86) als bester Sachkenner und als anhänglicher Schüler das Wort. Im Rahmen einer Besprechung der in unserm letzten Bericht erwähnten Gesamtausgabe beschäftigt er sich eingehend mit dem wichtigsten darin zuerst bekanntgegebenen Burckhardtschen Gut, mit den »historischen Fragmenten«. Er hebt hervor, daß man in diesen zufälligen Randbemerkungen voll von Urteilen persönlicher Neigung und Abneigung keine geschlossene weltgeschichtliche Vorlesung erblicken dürfe. Den fragmentarischen Charakter dieses Werkes erläutert N., indem er Auszüge aus seinen eigenen Nachschriften bekannt gibt, aus denen manches in den »Fragmenten« übergangene Urteil Burckhardts erhellt. -- Als Ergänzung seines im Jahresbericht 4. 1928, S. 94 besprochenen Buches faßt E. Leipprand ( 88) die über H. v. Treitschke in England geäußerten Urteile zusammen. Sie stammen durchweg aus den Kriegsjahren und befassen sich ausschließlich mit Treitschkes Denken über Volk, Staat und Nation. Die Arbeit


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bringt somit weniger einen Beitrag zur Wirkung und Ausbreitung deutscher Ideen in England, als eine Darlegung einer erst mit Ausbruch des großen Krieges anhebenden Anklage gegen deutsches Denken und deutsche Geschichte schlechthin.

Als einen Beitrag zur Historiographie des Wilhelminischen Deutschland, als weitgehend die Nationalökonomie die Stelle an öffentlicher Wirkung einnahm, die die politische Historie im werdenden Bismarckreich ausgefüllt hatte, als zugleich Männer wie Max Weber, Schmoller und Sombart auch die eigentliche Geschichtsschreibung an Methodik und Forschungsrichtung beeinflußten, wird man die Biographie von E. Gothein ( 91) begrüßen. Vielleicht war es doch kein Zufall, daß Gothein, der im Geiste J. Burckhardts Kultur- mit Wirtschaftsgeschichte zu verbinden sich bemühte, das äußere Ideal seines Lebens, die »historische Vollprofessur« nicht erreicht hat. Seine Neigung zur aktiven Didaktik, die Alfred Dove in einem eben veröffentlichten Brief ( 89) an seinem jungen Breslauer Kollegen hervorhob, konnte sich nur innerhalb einer aufstrebenden Wissenschaft damals entfalten. -- Das Büchlein von G. Ohlemüller ( 74) ist ausschließlich historiographischen Fragen unserer Tage gewidmet. Es ist eine Kampfschrift in Abwehr konfessionell-katholischer Geschichtsdarstellungen. Hatte noch Schnabel (siehe oben S. 105) sein Werk in dem Gedanken ausklingen lassen, daß die Geschichtsforschung über ein so umstrittenes Gebiet wie die Reformationsgeschichte in den letzten Jahrzehnten in überkonfessioneller Sachlichkeit bestrebt sei, die Gegensätze auszugleichen, so werden wir mit dieser Schrift daran erinnert, daß die alten Streitpunkte immer wieder in unveränderter Heftigkeit in Frage stehen. O. wendet sich besonders scharf gegen L. v. Pastor, indem er die bekannten Argumente von dessen Kritikern im katholischen Lager zusammenfaßt, und gegen die Lutherforschung der katholischen Wissenschaft. Gewiß ist es Polemik, was O. vorträgt; doch scheint mir diese Polemik, jedenfalls gegenüber den Ansprüchen seiner Gegner, nicht grundlos zu sein.


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