§ 40. Neuere Staatsanschauungen

(G. Masur)

(Die Zahlen beziehen sich auf die Bibliographien von 1930/31.)

Wir stellen billig an die Spitze dieser Übersicht die ausgezeichnete Markierung des gegenwärtigen Standes der Ideen- und Parteigeschichte, ihres Spannungs- und Befruchtungsverhältnisses, die Hans Rothfels in einem Forschungsbericht gegeben hat (1930, Nr. 1827). Es handelt sich dabei weniger um eine quantitativ vollständige als um eine qualitativ auswählende Überschau der Parteigeschichte, ihrer realpolitischen wie ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Situation, die an den wichtigsten Beiträgen demonstriert wird. Rothfels' Referat umspannt die letzten zehn Jahre, also die Lage, in der ausgehend vom Parteienstaat die Parteigeschichte einen starken Auftrieb erhalten hat. Während uns hier gleichsam im Längsschnitt die Entwicklung ideengeschichtlicher Betrachtung vor Augen geführt wurde, tritt uns in der Festschrift für Julius Binder »Rechtsidee und Staatsgedanke« (1930, Nr. 1828) eine Vielheit staatstheoretischer Problemkreise im Querschnitt gegenüber. Die Festschrift umfaßt zweierlei Beiträge: die einen zur Rechtsphilosophie und ihrer Geschichte, die anderen zur Geschichte des Staatsgedankens. Wir heben an erster Stelle die knappen aber gehaltvollen Seiten hervor, die Paul Hensel dem Problem von Recht und Macht gewidmet hat. Hensel stellt die Antithese beider Gewalten als sinnlos hin und will erst aus dem In- und Miteinander des Naturfaktors der


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Macht und des Vernunftfaktors des Rechts das Wesen des Staates und das Leben sozial geeinter Gemeinschaft verstehen.

Einen Beitrag zu den Soziallehren des Luthertums, die Paul Joachimsen kürzlich behandelt hat, bietet Hellmut Mayer in einem Aufsatz über die Strafrechtstheorien bei Luther und Melanchthon. Indirekt handelt es sich, angesichts der besonderen Bedeutung der Kriminalistik für den Staat, auch um einen Beitrag zu Luthers Staatsauffassung. Der Verf. steht im schärfsten Gegensatz zu den Thesen von Troeltsch. Für ihn gründet das Luthertum die weltliche Gewalt auf das Liebesgebot und ist damit zu einer durchaus einheitlichen Auffassung der Ethik gelangt, in die die Strafrechtstheorien Luthers und Melanchthons eingegliedert sind. Eine sehr wichtige Arbeit zur Geschichte der Rechtsphilosophie stellt der Aufsatz Walter Schönfelds »Puchta und Hegel« dar. Das größere Problem, das dabei im Hintergrunde steht, ist die Abgrenzung Hegels und der historischen Schule gegeneinander. Puchta als eines der führenden Glieder setzt Schönfeld mitten inne zwischen Savigny und Hegel. Man bedauert es, daß Schönfeld zum Vergleich nicht auch Stahl herangezogen hat, bei dem sich das Problem auf der Ebene der Rechtsphilosophie in genau der gleichen Weise stellt und löst. Aus dem zweiten Teil der Festschrift heben wir noch die umfangreiche universalhistorisch angelegte Abhandlung Ernst Mayers über Staatsziele im Wandel der Geschichte hervor und den Versuch von Karl Larenz, das Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel zu klären. Der Verf. formuliert es, wie uns scheint, durchaus treffend dahin, daß der Staat für Hegel nicht die Verwirklichung der Religion ist, weil die Religion als reines Bei-sich-sein des Geistes nicht in der Welt verwirklicht werden kann; wohl aber ist er für Hegel die Wirklichkeit des sittlichen Geistes, der aus der Religion hervorgeht. Die befruchtende Kraft der Hegelschen Gedanken, für die Julius Binder und sein Kreis Zeugnis ablegen, hat in anderer Weise auch die italienische Staatsphilosophie erfahren. Auf Benedetto Croce geht die ideengeschichtliche Studie zurück, die Antonello Gerbi über La politica del settecento verfaßt hat (1930, Nr. 1829). Der Verf. geht von der These aus, daß die politische Ideenwelt der Gegenwart einem gemeinsamen Wurzelgrund entstammt, den er als »Romantizismus« bezeichnet und dem er soeben eine zweite Untersuchung: »Die Politik des Romantizismus« widmet. Die höchsten Repräsentanten dieser mit dem Schlagwort »Romantizismus« nicht sehr glücklich benannten geistigen Welt sind Hegel und Goethe. Die vorliegende Studie ist nun eigentlich nur eine Folie für den »Romantizismus«. Sie will den Hintergrund politischen Unverständnisses zeichnen, auf dem allein die neue Konzeption des Romantizismus möglich war. Gerbis Auffassung geht dahin, daß die Aufklärungsbewegung das noch im 17. Jhd. lebendige politische Verständnis zermürbt und verdrängt hat. Unter dieser Belichtung und Perspektive werden die Denker vor allem der französischen Aufklärung Voltaire, Montesquien und Rousseau vorgeführt und zensiert. Friedrich Meinecke, auf den die Ideenwelt des Buches von vielen Wegen führt, hat in einer wohlwollenden kritischen Würdigung die auf der Hand liegenden Einseitigkeiten hervorgehoben, aber gleichzeitig auch die Vorzüge gekennzeichnet, die diesen Versuch für den deutschen Forscher so anziehend machen. Sie bestehen vor allem in einer Fülle von Einzelapercus, die sehr oft in ihren Konsequenzen über das Grundschema des Verf. hinausführen und Stoff und Anreiz zur Lösung jener


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großen geistesgeschichtlichen Aufgabe bieten können, die noch immer unerfüllt ist: die Darstellung der großen geistigen Revolution um die Wende des 18. und 19. Jhds.

Ebenfalls von den Voraussetzungen Benedetto Croces ausgehend, jedenfalls in Übereinstimmung mit ihm, vertritt Guido de Ruggiero in seiner Geschichte des Liberalismus in Europa (1930, Nr. 1832) eine Auffassung, die im Resultat von der Gerbis allerdings in entscheidenden Punkten abweicht. Hier ist von Croce nämlich nicht mehr der Hegelianismus sondern nur der Liberalismus erhalten geblieben. Mit Croce lebt Ruggiero in diesem Werke der Hoffnung auf ein Wiedererwachen des Liberalismus in Italien, und aus diesem Geiste ist das Buch entworfen. Es gliedert sich in einen geschichtlichen Teil und in einen systematischen. Der historische Abschnitt gibt als Einleitung den Durchbruch des Liberalismus im 18. Jhd., die geistigen, ökonomischen, juristischen und politischen Formen, die er findet, und skizziert sodann in vier großen Abschnitten die entscheidenden Ausgestaltungen: den englischen, den französischen, den deutschen und den italienischen Liberalismus. Die drei ersten, obschon kenntnisreich und nicht ohne Gediegenheit gearbeitet, bieten nur selten etwas Neues. Mit wirklicher Belehrung liest man hingegen die Darstellung des italienischen Liberalismus. Auch sie setzt mit der Aufklärungszeit, mit Filangieri und Alfieri, ein und führt dann zur ersten Aufgipfelung des italienischen Freiheitswillens unter der französischen Revolution und Napoleon, deren großartigster Repräsentant Foscolo ist. Über die Restauration läuft die Entwicklung weiter in den Liberalismus des Risorgimento zu der europäischen Figur Cavours, für den der Verf. eine begreifliche Liebe hegt, und dem berühmten Terzett Gioberti, Balbo und d'Azeglio. Auch die Auseinandersetzung mit dem Demokratismus Mazzinis wirft manches neue Licht auf diesen für die italienische Entwicklung so bedeutungsvollen Geist. Den Ausklang mit dem schwächlichen Hinweis auf ein Wiederaufleben des Liberalismus in Italien empfindet man freilich wenig befriedigend. Der systematische Teil sucht, den Liberalismus in seiner europäischen Bedeutung zu erfassen, und bemüht sich um eine Destillation der geistigen Essenz dessen, was Liberalismus ist. Negative und positive Freiheit wird gegeneinander abgegrenzt, Rechtsstaat und Machtstaat schroff gegenübergestellt, aber auch die demokratische Staatsvergötterung und der sozialistische Klassenkampfgedanke verworfen. Wenn Ruggiero sein Werk mit der Überzeugung beschließt, daß der liberale Staat zwar erschöpft aber siegreich aus den Kämpfen mit den entgegenstehenden Gewalten hervorgegangen sei und seine lebendige Zukunft für gewiß hält, so wird man so viel Selbstillusionismus in dieser Stunde nur noch komisch nennen dürfen. Der Wert des Buches ruht nicht in dieser Prophetie sondern in dem Versuch, den Liberalismus als eine der großen geistigen Potenzen Europas im 19. und 20. Jhd. synthetisch und vergleichend darzustellen.

Das auch von Ruggiero angeschnittene Problem des Verhältnisses von Liberalismus und Nationalismus hat von einem anderen Ende her Otto Brandt in einer Rede über das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Nationalitätenprinzip aufgerollt (1930, Nr. 1831). Brandt sucht vorab die viel verhandelten Begriffe Volk und Nation zu klären. Das Nationalitätsprinzip stellt sich ihm als die Anwendung eines naturrechtlichen Selbstbestimmungsrechtes der Völker dar, verengt freilich, insofern es nur eine Einzelanwendung ist, aber durch


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die Anwendung bei Plebiszit und Abstimmung geradezu verschmolzen. Neben diese im wesentlichen von der französischen Revolution ausgehende Linie ordnet Brandt die deutsche Auffassung des Problems der Nation, deren ungeheure Befruchtung für das Erwachen der Nationalitäten des europäischen Ostens Hermann Oncken besonders eindrücklich betont hat. Im Rahmen einer kurzen historischen Überschau schildert Brandt die Rolle, die das Nationalitätsprinzip in den Verfassungskämpfen der verschiedensten Länder Europas gespielt hat. Den Beschluß der Rede bildet die Skizzierung der durch den Versailler Vertrag grundsätzlich veränderten Problematik von Selbstbestimmungsrecht und Nationalitätenprinzip. Die durch den Anlaß und die Form gegebene Begrenzung hat es wohl verhindert, daß Brandt seinem Versuch noch eine Analyse der gegenwärtigen rechtlichen und politischen Lage des Nationalitätenprinzips angegliedert hat, die durch den Willen zum totalen Staat auf der einen Seite, durch internationale Schiedsgerichtsbarkeit und Staatenbund auf der andern Seite in ein neues Stadium getreten ist.

Das Nationalitätenprinzip, das Brandt in einer durch Zweck und Form gebundenen, spezifisch deutschen Beleuchtung aufweist, stellt sich anders dar, wenn man es in seiner allgemeinen Bedeutung zur Anschauung bringen will. Dies ist der Vorsatz des Buches von R. Redslob: Le Principe des Nationalitées (1930, Nr. 1833). Das Buch des ganz unter den Voraussetzungen der westlichen Rechtsanschauungen stehenden Verf. liest man am zweckmäßigsten von hinten nach vorn. In der Conclusion, mit der er es beschließt, findet sich nämlich die Position des Verf. am schärfsten gekennzeichnet, seine Methoden am saubersten charakterisiert, seine Ziele aufs sichtbarste vorgelegt. Eine politische Philosophie über das Thema der Nationalitäten stellt für ihn den Ausgleich dar zwischen zwei primären Kräften: der Freiheit und der Staatsräson. Der Kampf dieser beiden ist für Redslob nur eine der unzähligen Antagonismen, die das politische Leben durchziehen. In diesem Kampf weist er der Gerechtigkeit die Rolle eines moralischen Gleichgewichtssinnes zu, der eine Übereinstimmung oder wenigstens Annäherung der kämpfenden Kräfte herbeiführen soll. Diese vorzubereiten ist der Sinn der Wissenschaft von den Nationalitäten. Das Buch beruht auf der Konzeption, daß sich das Leben der Völker auf der Diagonale zwischen den Ideen der Gerechtigkeit und den Gewalten der Leidenschaft bewegt. Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, beginnt er die Untersuchung mit dem Aufweis der Ursprünge des Nationalitätenprinzips, die er einmal in der rationalistischen Philosophie des 17. und 18. Jhds., zum andern in der Emanzipationsbewegung der Massen sieht, die von Renaissance und Reformation ausgehend über die Kirche bis an die Tore des Staates flutete. In der französischen Revolution begegnen sich beide das erstemal. Den Gang des Nationalitätenprinzips im 19. Jhd. skizziert Redslob mit einer Reihe treffender Beobachtungen, von denen besonders die über Napoleon III. gelungen ist. Mehr noch durch seine Niederlagen als durch seine Siege ist er für ihn der Vertreter des Nationalitätenprinzips. Von den Ursprüngen wendet sich der Verfasser zu den psychologischen Grundlagen der Nation. Ein gemeinsamer Geist, der einen politischen Willen aus sich hervorgehen läßt, ist ihm das Wesen der Nation. Drei Hauptquellen nennt er, aus denen sich dies Bewußtsein speist, die Vergangenheit, die Sprache, die Religion. Die Überordnung eines dieser Faktoren über die andern, etwa der Sprache, weist er ab; ebenso scheinen ihm geographische


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und rassische Grundlagen weitgehend untergeordnet. Der anziehendste Teil des Werkes ist nun der, in dem die der Nation entgegenstehenden Kräfte des politischen Lebens betrachtet werden: der Staat als autonomer Wert, das Gleichgewicht, ökonomische Probleme, Probleme des Verkehrs, die alle einer reinen Auswirkung des Nationalitätenprinzips entgegenwirken. Von hier aus dringt Redslob zu den möglichen Lösungen von Nationalitätenfragen vor: Annexion, Abtretung, Ausweisung von Bevölkerungen, freiwilliger Auswanderung, neben die er die friedlichen der regionalen Dezentralisation und der Autonomie stellt. Eine eigentliche Patentlösung des schwierigen Gegenstandes trägt das behutsame und auf großer Kenntnis der politischen und rechtlichen Materie aufgebaute Buch nicht vor. So unverkennbar sein westeuropäischer Ausgang ist, bleibt es doch auch für den deutschen Betrachter vonnutzen, sich mit dieser gedankenreichen Studie auseinanderzusetzen.

Aus dem gleichen Problemkreis stammt die wesentlich geschichtlicher angelegte Schrift des amerikanischen Historikers Carlton I. H. Hayes über die Entwicklung des modernen Nationalismus (1931, Nr. 1892). Hayes gliedert die Entwicklung nach großen Typen, deren erster der humanitäre Nationalismus ist, repräsentiert durch Bolingbroke, Rousseau und Herder, den er sehr einseitig nach der Aufklärungstendenz hinüber interpretiert. Die zweite Stufe erreicht die Entwicklung des modernen Nationalismus für Hayes in dem jakobinischen Nationalismus, worunter die Entfaltung der französischen Revolution bis zum Massenheer und zum demokratischen Cäsaren verstanden wird. Sehr viel problematischer als diese beiden Stufen scheint uns die Zusammenfassung aller konservativ-reaktionären und romantisch-revolutionären Kräfte unter dem Stichwort des traditionalistischen Nationalismus. Hier ist das Neuartige der nationalen Romantik nicht gesehen worden. Das Kapitel liberaler Nationalismus, das mit Bentham beginnt, umfaßt die bourgeoisen Kräfte, die im 19. Jhd. den Nationalismus bestimmt haben, in buntem Durcheinander und nicht immer richtig: Guizot, Welcker, den Freiherrn vom Stein, Mazzini. Das interessanteste Kapitel des Werkes ist zweifellos das, das dem modernen Nationalismus der Gegenwart gewidmet ist, wofür der Verf. den von den Franzosen geprägten Namen: integraler Nationalismus adaptiert hat. Hierunter fallen von Maurras bis zu Barrès, Mussolini und Hitler, alle Formen der intensiven und machtvollen Nationalstaatsschöpfung. In einem Sonderkapitel, das die Typologie des Nationalismus durchbricht, wird der Einfluß der ökonomischen Faktoren auf die Entstehung des Nationalismus untersucht. Eine sehr vorsichtig abwägende Schlußbetrachtung versucht die Stellung des Nationalismus im Rahmen der modernen Zivilisation zu umreißen, zwischen Diagnose und Prognose die Mitte haltend. Um das nützliche Buch gerecht zu würdigen, wird man berücksichtigen müssen, daß es den speziellen Zweck verfolgt, der amerikanischen Intelligenz die Vielfalt des Problems des modernen Nationalismus zu erschließen. Doch wird auch die europäische Geschichtsbetrachtung trotz mancher Einwände im einzelnen sich der knappen Zusammenfassung gerne bedienen.

Nimmt man nach den Werken Redslobs und Hayes' das umfangreiche Buch von Heinz O. Ziegler über die moderne Nation (1931, Nr. 1893) zur Hand, so hat man drei verschiedene Typen der Betrachtung modernen Staatslebens repräsentiert. Ist das Buch Redslobs auf eine spezifisch französische Weise am


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juristischen Denken orientiert, breitet Hayes in der Art des angelsächsischen Positivismus gleichsam nur das Material aus, so untersucht Ziegler, aus der Schule des deutschen Soziologismus hervorgegangen, die, wie uns scheint, für die deutsche Wissenschaft kennzeichnende Frage: wieso erwuchs innerhalb der Vielfalt sozialer Gruppierungen gerade der nationalen Gruppenform eine so überragende soziale Verbindlichkeit? Oder wie er es an anderer Stelle formuliert: Warum wurde die Nation zum politischen Schicksal? Die moderne Nation wird in diesem Werk untersucht als eine, ja als die Legitimitätsidee der gegenwärtigen Staatlichkeit. Ziegler löst diese ebenso umfängliche wie schwierige Aufgabe zunächst mit einer Darstellung des Begriffs der Nation und seiner Genesis. Dem Zeitalter der modernen Nation vorauf ging das Zeitalter der Vorherrschaft des Staates, das abgelöst wird durch die vollständige Inbesitznahme des Herrschaftsapparates durch die Nationen: sie bedeutet Machtkonzentration und Machtmobilisierung des sozialen Körpers unter der Fahne der nationalen Souveränität. Weniger als dieser historische Aufriß befriedigt uns der ideengeschichtliche Teil, der die Voraussetzung für die Geltung der modernen »Nation-vorstellung« untersucht. Und zwar scheint uns hier die vorwaltende Beschränkung auf die deutsche Geistesgeschichte eine allzu große Verengung der angeschnittenen Problematik mit sich zu bringen, wofür die Gegenüberstellung von deutscher und französischer Nationalidee immer nur ein Ersatz bleibt. Das ist eine Lücke, der man in fast allen Büchern über das Nationalproblem begegnet, daß die englische und französische, aber auch die spanische und italienische, ja die polnische und russische Geschichte der Nationalideen im Vergleich zur deutschen nicht genügende Berücksichtigung finden. Das Schlußkapitel des vorzüglichen Werkes handelt dann zusammenfassend und synthetisch von der Bedeutung der Nation für die moderne Politik. Als das entscheidende Phänomen beim Eintritt der Nation in die Politik bezeichnet es mit einer sehr glücklichen Formulierung den Prozeß der Herrschaftskollektivierung. Zur gegenwärtigen Krise des Staatslebens bemerkt er ganz richtig, daß es sich dabei nur um einen Prozeß handelt, der die nationaldemokratische Idee gefährdet, nicht die nationale Idee überhaupt. Die nationale Idee ist über den Ausdruck von 1789 hinweggeschritten zu neuen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Organisationsformen, deren Lösung Aufgabe der jungen Völker ist.

Als eine der möglichen Lösungen des Nationalitätenproblems wird immer die föderalistische zu gelten haben. Ihr hat Sobei Mogi eine höchst umfangreiche Erforschung angedeihen lassen in seinem zweibändigen Werk: The problem of federalism, das er als einen Beitrag zur Geschichte der politischen Theorie bezeichnet (1931, Nr. 1891). Harold J. Laski hat in einem Vorwort, das er dem Buche Mogis vorangestellt hat, auf die außerordentliche Tatsache aufmerksam gemacht, daß ein Angehöriger der östlichen Zivilisation den Weg zu einem so eminent abendländischen Problem gefunden hat, wie es der Föderalismus ist. Dem politischen Pluralismus Laskis ist dies Werk durchgängig verpflichtet. Ein Motto von Proudhon und eines von Laski stehen ihm voran, beide getragen von dem Bewußtsein, daß die welthistorische Stunde der Selbstverwaltung und des Föderalismus im Kommen sei. Man kann diese Überzeugung des Verf. von der Notwendigkeit der Schaffung pluralistischer Organisationen durchaus dahingestellt sein lassen und trotzdem von der umfänglichen


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Analyse reichen Gewinn ziehen. Besonders der deutsche Historiker hat Grund, sich mit dem Werk eingehend zu beschäftigen. Denn einmal sind uns aus unserer Geschichte die Probleme Gesamtstaat und Einzelstaat, das Problem der Souveränität und das bündische Problem, die Frage der Dezentralisation der Gesetzgebung und Verwaltung nah und vertraut genug. Zum andern aber hat der Verf. selber, obwohl er die Entwicklung der föderalistischen Idee in sieben verschiedenen Staaten übersehen will, sich doch vor allem auf die Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland konzentriert. Fast die Hälfte des ersten und der gesamte zweite Band sind der Entwicklung des Föderalismus in Deutschland gewidmet. Man kann das Lob Harold Laskis nur wiederholen, daß diese Arbeit als gelehrte Leistung von besonderem Range ist. Wir besitzen in diesem Buch eine Geschichte der deutschen föderalistischen Ideen, die von Althusius bis zu Hugo Preuß und seinen Gegnern reicht. Auch wenn es manchmal nicht ohne Verwechslung und Irrtümer abgegangen ist, ist es eine außerordentliche Bereicherung unserer Kenntnis dieser Entwicklungslinie des deutschen Staatsrechts. Dabei kommt es auch zu sehr interessanten Markierungen der Punkte, an denen der rationale und sozialistische Föderalismus Laskis und seines Schülers von dem organisch romantischen Gierkes abweicht. Denn zu dem Zielgedanken eines weltumspannenden sozialistischen common wealth kehrt das Buch am Ende zurück. Sein wissenschaftlicher Wert aber wird durch diese weltanschauliche Festlegung nicht endgültig beeinträchtigt. Und man kann nur wünschen, daß ihm von deutscher Seite bald eine gleichwertige Geschichte des föderalistischen Gedankens im deutschen Staatsrecht gegenübertritt. Bisher liegen dazu nur Fragmente vor.

So unternimmt es Wilhelm Samuel, die Ideen des Föderalismus bis zur Wende des 18. Jhds. zu skizzieren (1930, 1834). Es handelt sich dabei allerdings weniger um eine staatstheoretische als um eine soziologische Arbeit, deren Anregung auf Franz Oppenheimer zurückgeht. Das Wesensmoment der föderalistischen Idee sieht der Verf. in der Freiheit. Die föderalistische Organisation stellt mithin ein System der Freiheit dar. Der Verf. beginnt mit den Vorläufern der föderalistischen Ideen im Mittelalter, um dann auf den Föderalismus auf außenpolitischer Grundlage überzugehen, für den er Sully, Campanella, William Penn und den Abbé de Saint Pierre anführt. Der Gedanke der Freiheit ist hier mehr ein Gedanke der Toleranz in Fragen der Religion. An diese erste Gruppe reiht Samuel eine zweite, die er unter der Marke Föderalismus auf innerpolitischer Grundlage zusammenfaßt. Hierzu rechnet er den Marquis d'Argençon, Mirabeau, Althusius, Rousseau und schließlich auch Jefferson. Sie postulierten Freiheit vom Staat und im Staat, um dem idealen Staatsziel näherzukommen; also nur »mehr Freiheit«, nicht Freiheit überhaupt. Hierin sieht der Verf. den entscheidenden Unterschied zum Föderalismus des 19. Jhds., an dessen Schwelle er abbricht. Mehr als eine Skizze kann man die vorliegende Arbeit, die sich mit einer ziemlich schematischen Inhaltsaneinanderreihung begnügt, kaum nennen.

Dem Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen, die der Föderalismus auf seine Weise verstehen will, hat auch Theodor Creizenach den Stoff zu seiner Arbeit: Deutsches Reich und deutscher Staat in den Anschauungen der Franzosen entnommen (1930, Nr. 1835). Es ist ein Beitrag zur Theorie und Praxis der französischen Staatslehre im 17. und 18. Jhd. Der Vorsatz des Verf.


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ging dahin, zu zeigen, wie sich die Auffassung der französischen Staatslehre von Deutschland ausschließlich an den Absichten der französischen Politik orientiert, wie sie diese wieder durch ideologische Zielsetzungen zu fördern sucht, indem sie das machtstaatliche Vakuum der europäischen Mitte zu einem politischen Ideal verklärt. Es ist natürlich, daß der Verf. dabei vieles Bekannte vortragen muß, und daß es mehr um eine neue Belichtung des oft verhandelten deutsch-französischen Verhältnisses im 17. und 18. Jhd. geht als um die Darlegung eines neuen Befundes. Nur für den Ausgang des ancien régime und die Revolution bringt er manches Unbekannte. Man möchte doch denken, daß der fruchtbare Ansatz sich noch stärker ausgewirkt hätte, wenn der Verf. an die originalen Quellen der französischen Publizistik und der politischen und historischen Literatur seines Zeitalters herangetreten wäre.

Wenn die bisher betrachteten Arbeiten im wesentlichen um die Fragen der zwischenstaatlichen Beziehungen kreisten, so liegen zu den verschiedensten Problemen des inneren Staatslebens und ihrer Spiegelung in der Staatsanschauung eine Reihe gewichtiger Untersuchungen vor. Zur Geschichte der lutherischen Staatsanschauung erhalten wir einen wertvollen Beitrag in dem Aufsatz von Werner Ehlert zur Terminologie der Staatslehre Melanchthons und seiner Schüler (1931, Nr. 1895). Im Vergleich der Terminologie Melanchthons mit der Luthers offenbart sich der entscheidende Unterschied, daß Melanchthon in den Bahnen der antiken Staatslehre bewußt das Wort res publica verwendet, wenn Luther von weltlichem Schwert, weltlichem Regiment, Obrigkeit oder was immer spricht. Es ist bei Melanchthon also nicht nur eine Obrigkeitslehre sondern auch eine Staatsauffassung vorhanden, die Ehlert geradezu als die antike schlechthin bezeichnet. Es ist mehr eine römischstoische als eine griechische Antike, deren wichtigster Begriff die societas humana ist. In doppelter Beziehung weist die Staatsauffassung Melanchthons vorwärts. Es gelingt ihm einmal, aus der Idee der societas humana das evangelische Landeskirchentum zu deduzieren, zugleich aber wird er damit zum Vater der naturrechtlichen Staatsauffassung im Gesamtgebiet des Protestantismus. Ein recht interessanter Ausblick auf die Herkunft des Wortes Staat in Deutschland beschließt die gehaltvolle Abhandlung, an der eine zukünftige Geschichte der lutherischen Staatsauffassung im 16. und 17. Jhd. nicht vorübergehen kann.

Aus der Auseinandersetzung von Religion und Staat sind in Frankreich während der Hugenottenkriege die Versuche zur Beschränkung der Monarchie hervorgegangen. Mit ihnen beschäftigt sich die Studie von B. Reynolds: Proponents of limited Monarchy in 16. Century France (1931, Nr. 1896). Die Verf. behandelt unter diesem umfänglichen Titel nur zwei Gestalten der politischen Ideengeschichte Frankreichs im 16. Jhd.: Francis Hotman und Jean Bodin. Hotman, der Theoretiker der calvinistischen Opposition, der Verfasser der Franco gallia, reinster Vertreter der Aufsaugung der Monarchie durch den Ständestaat, und Bodin, der von den gleichen politischen und sozialen Voraussetzungen zur Ausprägung der Souveränitätslehre durchstieß. Die Gegenüberstellung beider wird in dem Schlußkapitel des Buches nicht ohne schriftstellerische und gedankliche Feinheit durchgeführt, die verschiedene Grundstruktur herausgearbeitet, die doch eine Übereinstimmung in dem ethischen Prinzip der Auffassung des Staatszweckes nicht ausschließt. Wir vermissen an der in vieler


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Hinsicht vortrefflichen Arbeit die Einbeziehung der publizistischen Literatur der Hugenottenzeit. Die Abstellung nur auf zwei große geistige Vorkämpfer gibt kein ausreichendes Bild von den Tendenzen, die in der zweiten Hälfte des 16 Jhds. in Frankreich daran waren, der Ausbreitung des absoluten Staates einen Damm zu setzen.

Hotman und Bodin sind beide, jeder in seiner Art, Ausdruck einer der schwersten Krisen des französischen Staatslebens. Als den Niederschlag sozialpolitischer und wirtschaftlicher Krisen will Katharina Weber auch die Staatsromane ansehen. In einer Abhandlung über die Staats- und Bildungsideale in den Utopien des 16. und 17. Jhds. (1931, Nr. 1897) stellt sie die vier größten Vertreter dieser Gattung: Thomas Morus, Campanella, Valentin Andreae und Francis Bacon einander gegenüber. Gemeinsam sieht die Verf. allen die unhistorische Denkungsart, den naiven Glauben an den Kulturfortschritt, den herbeizuführen die Aufgabe der Wissenschaft im Staate sei. Dieser Glaube an das Wissen als den Weg zum besten Staat ist das verbindende Element der Moderne, das den englischen Staatsmann mit dem schwäbischen Pfarrer und den Philosophen des Empirismus mit dem italienischen Dominikaner verbindet. Die Rolle der Wissenschaft ist dabei freilich sehr verschieden. Sie ist für Morus die Führerin zu einem humanistisch geformten Leben, für Campanella der Weg, auf dem der Mensch die Harmonie mit dem Weltall findet, für Andreae die Bahn zu Gott, die die orthodoxe Theologie des Protestantismus ihm versperrte, und für den modernsten unter ihnen, für Bacon, nur noch Machtmittel, Dienerin der menschlichen Nützlichkeit. Worin sie sich bei so großer Verschiedenheit wieder treffen, ist das Ziel: die Sinngebung des Staates von der menschlichen Glückseligkeit her.

Die Utopie des Valentin Andreae hat in Deutschland niemals die gleiche Resonanz gefunden wie die Werke seiner Weggenossen im europäischen Westen. In Deutschland ist die Staatslehre nach den Niederungen der protestantischen Orthodoxie sehr rasch auf den festeren Boden nüchterner Betrachtung getreten, wie sie Pufendorf repräsentiert. Seine Lehre vom Fürsten untersucht J. Funke (1930, Nr. 1837). Auch aus dieser Arbeit geht hervor, daß die deutsche rationalistische Philosophie die großen naturrechtlichen Gedanken des Westens in recht eigenständiger Weise ausgeformt hat. Es handelt sich bei Pufendorf keineswegs um eine einfache Übernahme des Souveränitätsbegriffes von Bodin oder des Begriffes der absoluten Monarchie des Hobbes. Pufendorf setzt über sie den Begriff des Staatswohls, aus dem sowohl Befugnis wie Schranke des Fürsten abgeleitet werden. Wie sich von dieser Norm aus die Stellung des Fürsten im Staate abzeichnet, das verfolgt der Verf. an der Stellungnahme zum positiven Gesetz, zu den Rechten des Herrschers an das Individuum, an dem Verhältnis von Fürst und Völkerrecht und am Widerstandsrecht. Aus dem neuen Begriff der fürstlichen Pflicht sind die religiösen Elemente weitgehend eliminiert, was für das Verhältnis zur Kirche von großer Bedeutung werden sollte. Der geistige Raum, für den diese Auffassung vom Fürsten begründet wird, ist, wie der Verf. ganz richtig sieht, nicht der absolutistische Großstaat des Westens sondern der deutsche Territorialstaat, allerdings jener, der damals um seinen Durchbruch zum Mittel- und Großstaat kämpfte, Preußen.

Preußen ist ja auch der Staat gewesen, der den größten Schüler Pufendorfs,


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Thomasius, aufgenommen und ihm Raum für seine Wirksamkeit gewährt hat. Christian Thomasius widmet Max Fleischmann eine Studienreihe, die nicht Biographie sein sondern sich mit Umrissen bescheiden will, wie sie der 200. Wiederkehr des Todestages von Thomasius angemessen sind. Voran steht ein Abriß des Lebensganges, der Menschlichkeit und ihrer Schicksale. Dem folgt eine Betrachtung des wissenschaftlichen Werkes, das bei einem Polyhistor wie Thomasius fast alle Bereiche der geistigen Welt umspannt. Der dritte Teil gilt seiner Wirksamkeit an der Universität, seiner Stellung unter den Kollegen, seiner Einwirkung auf die Studentenschaft und der Begründung einer neuen geistigen Atmosphäre in Halle, die aus der Vermählung pietistischer und rationalistischer Gesinnung hervorging. Kurz wird dann noch Thomasius' Wirken in das öffentliche Leben hinüber gestreift, sein Eingreifen in Hexenprozesse und in die Justizreform. Vielleicht der interessanteste Teil aber ist der, den Fleischmann Hab und Gut überschreibt, und der von der sozialen und ökonomischen Stellung eines deutschen Professors im 18. Jhd. ein sehr anschauliches Bild gibt. Den vortrefflichen Abhandlungen sind allerlei Anhänge dokumentarischer Art beigefügt. Ob nicht doch auf Grund so umfassender Vorarbeiten ein biographisches Gesamtbild zu entwerfen möglich wäre? (1930, Nr. 1836).

Die Rechtfertigung des absoluten Staates, die von der Aufklärungsphilosophie des Thomasius ausgeht, leiten den aufgeklärten Despotismus ein. Mit seinem Ausgang beschäftigt sich die Arbeit von Heinz Holldack, die das Verhältnis von Physiokratismus und absoluter Monarchie untersucht. (1931, Nr. 1898). Die Arbeit berührt eine der Lebensfragen des aufgeklärten Despotismus: seine durch die Aufklärung gefährdete staatstheoretische Situation. Sie zeigt sich vor allem in den Lehren, mit denen die Physiokraten an den Staat des ancien régime herangetreten sind. Das rationalistische Ferment führte zur Aushöhlung der absoluten Monarchie, doch ohne daß diese verfassungsmäßig eingeschränkt wird. Zwar finden sich Elemente von Montesquieu und Rousseau, aber weder schließen sich die Physiokraten an den einen noch an den anderen restlos an. Sie predigen, wie der Verf. treffend formuliert, nicht die Revolution gegen die absolute Monarchie, sondern die Revolution durch die absolute Monarchie, die Revolution von oben. Aber dadurch bereiteten sie die Revolution von unten vor. Und indem sie Zweifel an die Reformwilligkeit und Reformfähigkeit der Monarchen setzten, gehören sie in die Vorgeschichte der Revolution als einer der wichtigsten Gärungsstoffe hinein. Die neue Auffassung vom Staate spiegelt sich fast am deutlichsten in der Beurteilung des Krieges durch die Physiokraten. Sie sind nicht reine Humanitätspolitiker, und nicht reine Machtpolitiker, sondern stehen auf der Grenze zwischen der Interessenpolitik, wie sie Friedrich der Große vertrat, und dem radikalen Pazifismus, der sich im 18. Jhd. ausbildete. Hier greift die Untersuchung Alfred Sterns über den Pazifismus im 18. Jhd. ein (1930, Nr. 1838). Er rollte die Geschichte der pazifistischen Idee auf von der berühmten Abhandlung des Abbé de Saint Pierre, die auf Rousseau den allertiefsten Eindruck gemacht hat; auch Voltaire und Helvetius, Holbach, Laharpe und Gaillard gehören in den Kreis jener Geister, die im vorrevolutionären Frankreich den Gedanken nährten, daß nur ein Verein aller Regierungen mit schiedsrichterlicher Instanz das Problem des Friedens lösen könnte. Sehr viel nüchterner und weniger deklamatorisch stellt sich die Frage den deutschen Cameralisten, etwa dem berühmten Johann


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Heinrich Gottlob von Justi dar. Auch der Schweizer Iselin oder der Grammatiker Adelung stehen dem Problem des Pazifismus mit größerer gedanklicher Reserve gegenüber als die Franzosen. Mit einem Ausblick auf Bentham schließt der instruktive Aufsatz, von dem man wünschen würde, daß er jüngeren Kräften die Anregung gibt, den hier skizzierten Rahmen auszufüllen. Als eine Vorbereitung dazu dürfen wir die holländische Dissertation von S. Rozemond: Kant en de Volkenbond notieren (1931, Nr. 1899). Die Arbeit schildert in herkömmlicher Weise den Aufbau des kantischen Lebenswerkes und die Position der Rechtsphilosophie darin, Kants Stellung zu Rousseau und zur französischen Revolution und begründet auf dieser breiten Basis den Völkerbundsgedanken im System der Kantischen Rechtsphilosophie. Der zweite Teil führt von Kant zu Wilson und zeigt die Übereinstimmung und Abweichung des Wilsonschen Planes von Kant, den Aufbau der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, der internationalen Kooperation bei der Sozialgesetzgebung und Sozialorganisation, den Kelloggpakt und schließt mit dem Bekenntnis Kants über die Zukunft des Völkerbundes. Man kann nicht sagen, daß unsere Kenntnis der Kantschen Rechtsphilosophie und ihrer Lösungsversuche internationaler Probleme durch diese Arbeit sehr bereichert wird.

Wirkliche Vertiefung eines für die deutsche Staatsanschauung sehr bedeutungsvollen Problemes gibt hingegen die Arbeit von Erich Förster über den Organismusbegriff bei Kant und Schleiermacher und seine Anwendung auf den Staat (1931, Nr. 1900). Es handelt sich um nichts weniger als um die Frage des Ursprungs des Organismusgedankens in der deutschen Staatslehre. Nach der Schrift von Erich Kaufmann hat vor allem Günther Holstein in seinem Schleiermacherbuch den Nachweis geführt, daß Schleiermacher der erste gewesen ist, der den Organismusbegriff auf den Staat angewandt hat. Diese Feststellung Holsteins wird von Förster weitgehend bestätigt. Die Gegenüberstellung von organisch und mechanisch in abwertendem Sinn ist Kant ganz fremd. Für ihn heißt es: nicht nur Mechanismus sondern auch Organismus. Von einer Anwendung des Organismusbegriffs auf den Staat darf bei Kant noch nicht die Rede sein. Das ist für Förster freilich keine Kritik an Kant, denn er steht der Anwendung des Organismusgedankens auf den Staat ablehnend gegenüber. Für ihn ist alle Geschichte im Kern Staatengeschichte, darum nicht organische Entwicklung sondern Neuschöpfung, Tat und Entscheidung. Und die Anwendung des Organismusgedankens auf den Staat durch Schleiermacher hat, wie Förster meint, gerade diesen Sachverhalt verdunkelt und eine Naturalisierung dieses Werkes der Vernunft heraufbeschworen, dessen eigentliche Sphäre immer die Entscheidung bleibt.

Die Reaktion Kants auf die Vorgänge der französischen Revolution ist oft behandelt worden. Im Gefolge der Arbeiten von Gooch, Stern und Hashagen über die Wirkung der französischen Revolution in Deutschland werden nun auch die kleineren Geister allmählich erfaßt. So untersucht Karl Spengler in einer von Max Braubach angeregten Dissertation die publizistische Tätigkeit Adolf von Knigges während der Französischen Revolution (1931, Nr. 1901). Knigge war ein erklärter Feind aller despotischen Regierungen. Er setzte sich das Ziel, den Abgrund zwischen Fürst und Volk zu schließen und eine »durch weise Gesetze in gewissen Schranken gehaltene monarchische Verfassung« heraufzuführen. Er versuchte eine Reform erst über den Illuminatenorden; sein


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Mißerfolg in dieser Laufbahn leitete ihn auf das Gebiet der freiheitlichen Publizistik. So trifft ihn die französische Revolution. Sie scheint ihm die Bestätigung seiner Ansichten zu bieten. Er verurteilt das Eingreifen der deutschen Fürsten in die französischen Verhältnisse, verachtet die Emigranten und warnt vor unnötigen Kriegen. Ins Positive gewendet, verneint er die Gefahr einer deutschen Revolution, wenn aus den französischen Verhältnissen rechtzeitig die Lehre freiwilliger Reform gezogen wird. Die ganze Publizistik Knigges ist nur ein Tröpfchen in dem breiten Ideenstrom, der damals zwischen Deutschland und Frankreich hin und her flutete.

Nicht viel mehr ist der Mainzer Daniel Dumont gewesen, dem Adam Jäger eine von breitester Kenntnis der Zeit und der Zeitverhältnisse getragene, sehr ansprechende Dissertation gewidmet hat (1930, Nr. 1843). Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste zeichnet ein Bild der religiösen, sozialen und politischen Tendenzen, die Mainz am Ausgang des ancien régime bewegten. Wir sehen, wie das Wirken der letzten Kurfürsten die Keime der Auflösung in den Staat selbst hineintrug. Ein Mikrokosmos des aufgeklärten Deutschland, spiegelt Mainz die großen Bewegungen Febronianismus, Josefinismus, Säkularisations- und Reformbestrebungen in Kirche und Reich. In diesen weiten Rahmen stellt der Verf. die Figur seines Helden, der als Führer des Handelsstandes Custine jenen Verfassungsentwurf überreichte, den man nicht unrichtig als das erste Dokument des rheinischen Liberalismus bezeichnet hat. Zwischen der kurfürstlichen Reaktion und dem Radikalismus der Mainzer Klubisten ringt Dumont um eine Mittelposition, die den liberalen Programmen Südwestdeutschlands aufs merkwürdigste vorarbeitet. Besonders wichtig ist das strenge Festhalten Dumonts am Reich und sein Hang, alte rheinländische Traditionen in diese Verfassungsarbeit einzuflechten. Die leider noch ungedruckte Arbeit verdiente durchaus, veröffentlicht zu werden als wichtiger Beitrag zur Vorgeschichte des rheinischen Liberalismus.

Zu den Einwirkungen der französischen Revolution und Napoleons muß man nicht nur die Annahme der Gedankenwelt des Liberalismus rechnen, sondern ebenso das Aufflammen des deutschen Nationalgedankens. Während W. E. Brown Heinrich Luden als einen der Pioniere des erwachenden deutschen Nationalbewußtseins betrachtet (1931, Nr. 1903), untersucht G. Ipsen das deutsche Volkstum im Zeitalter Napoleons (1931, Nr. 1905). Der nicht ganz durchsichtig geschriebene Aufsatz Ipsens geht aus von Arndts Begriff des Volkes als einer brüderlichen Gemeinschaft. Er untersucht Gemeinsinn und Führertum in dem Volkstumsbegriff der deutschen Freiheitsbewegung. Das Gefüge des Volkstums gliedert Ipsen nach drei tragenden Begriffen: Sprache, Vaterland und Freiheit, von denen ihm die Sprache im deutschen Denken am tiefsten durchdacht und am reichsten ausgebildet zu sein scheint. Die Volkheit, so formuliert er, war im Zeitalter Napoleons die Fluchtburg der deutschen Nation, da der Staat, die Herrschaft, die Bildung und die Gesellschaft versagten. Die Fragestellung der lebhaft anregenden Abhandlung ist stark bestimmt von den politischen Zielsetzungen der Gegenwart. Ihr bleibt das meiste und beste des deutschen Volkstums im Zeitalter Napoleons Wunsch und Aufgabe, nicht Leistung und Vollbringen.

Nähe und Vertrautheit mit den Voraussetzungen des Volkstums ist einer der größten Vorzüge der Gedankenwelt Ludwig von der Marwitz, der in steigendem


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Maße die Teilnahme der Forschung an sich zieht. Nach den Arbeiten von Walter Kayser, Willi Andreas und Rudolf Krämer legt jetzt Gerhard Ramlow eine sehr ansprechende Studie über Ludwig von der Marwitz und die Anfänge konservativer Politik und Staatsanschauung in Preußen vor. Ramlow fundiert seine Arbeit mit einer Betrachtung über die Wurzeln der konservativen Staatsanschauung, die von einigen kleinen Irrtümern abgesehen, eine nicht unebene Schilderung der verschiedenen Quellströme gibt, aus denen sich die konservative Bewegung speist. Historische Richtung, Romantik und preußische Stände sind ihm die entscheidenden Momente in dieser Entwicklung. Auf diesen Hintergrund zeichnet er die geistige Physiognomie Marwitz' mit vielen treffenden Einzelzügen und einer, wie uns scheint, sehr gebotenen Zurückhaltung gegenüber den allzu weitgehenden Modernisierungen, mit denen man neuerdings Marwitz den Problemen unserer Zeit zuzuordnen versucht hat. Er ist für Ramlow vor allem der große Herr des ancien régime, der höflichste Mann der Welt, wie ihn Moltke genannt hat; ganz ein Sohn des alten Preußen, dessen Kraft und Schwäche in der Unbeirrbarkeit liegt, mit der er dieses Wesen als Maßstab an alles heranträgt. Auch der Vergleich Marwitz' mit den Konservativen vor ihm, um ihn und nach ihm, den Ramlow zieht, ist weithin ergiebig. Das Instinktartige und die einfache Genialität seines Wesens, von der Wahl einmal gesprochen hat, hebt ihn von den doktrinären Nachfolgern, aber letztlich doch auch von Bismarck ab, in dessen komplexerer Struktur dieses Preußentum nur eine Komponente darstellt (1930, Nr. 1840).

Der literarische und rhetorische Wortführer der preußischen Frondeure, Adam Müller, hat nun, nachdem er fast zwei Jahrzehnte die Forschung mit den biographischen und ideengeschichtlichen Problemen seines Lebens und Wirkens in Atem gehalten hat, eine umfassende Biographie gefunden. Jakob Baxa hat aus jahrelanger Beschäftigung mit dem Stoff und als Schüler und Freund Ottmar Spanns, vertraut mit der romantischen Vorstellungswelt diese schwierige Aufgabe in Angriff genommen (1930. Nr. 1841). Die umfangreiche, so zustande gekommene Arbeit ist ein sehr zwiespältiges Produkt. Sie bietet in allem Stofflichen, etwa in der Aufklärung des Eheromans Adam Müllers, der gemeinsamen Arbeit am Phöbus, der Teilnahme Müllers an den Kämpfen um Tirol, vor allem aber für die Spätjahre von 1815 bis 1829 so erstaunlich viel Neues, daß man diesen Beitrag zur Geschichte der Befreiungskriege und der Restaurationszeit nur mit größtem Dank aufnehmen kann. Auf der andern Seite breitet sie, auf Akten gestützt, diese überall in einer Vollständigkeit, Planlosigkeit und Auswahllosigkeit vor dem Betrachter aus, das sich aus der stupenden Stoffkenntnis nicht ein Lebensbild, sondern nur das Material dafür ergibt. Einer der Kritiker Baxas hat von der »halbgewollten Kritiklosigkeit« seiner Methodik gesprochen und trifft, wie uns scheint, damit die Schwäche des Buches ins Mark. Begreiflicherweise ist diese Methode da am unzulänglichsten, wo die Aufgabe die Erhellung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge, die Bewertung Müllers im Fluß der allgemeinen Entwicklung erfordert. So sind gerade die Abschnitte, die sich mit den Werken Müllers befassen, also letzthin mit dem, was ihm seinen geschichtlichen Rang verbürgt, die mangelhaftesten. Hier wird das Spannsche Schema von Individualismus und Universalismus mit einer Primitivität der deutschen Geistesgeschichte aufgezwängt, die allerwichtigste Zusammenhänge zerreißt; hier werden Vorläufer, Zeitgenossen


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und Nachfolger zugunsten des einen Adam Müller unaufhörlich unterschätzt und unterwertet, nur um den Heros des Buches in die bengalische Beleuchtung eines posthumen Ruhmes zu setzen. Wir sind die letzten, die der Gestalt Adam Müllers eine gerechte Würdigung versagen wollen. Aber auf dem Wege und mit den Mitteln Baxas wird sie nicht zu erlangen sein. Dieses kann unmöglich das Schlußwort sein, das in der Verhandlung um die Gestalt Adam Müllers zu sprechen ist.

Man spürt den ganzen Unterschied, der die erste Generation der Marwitz und Adam Müller von ihren konservativen Nachfolgern trennt, wenn man danach die Abhandlung Alfred von Martins über Autorität und Freiheit in der Gedankenwelt Ludwig von Gerlachs zur Hand nimmt (1930, Nr. 1845). Martin beschließt mit diesem Beitrag zur Geschichte der religiös-kirchlichen und politischen Anschauungen des Altkonservatismus eine Studienreihe, die die weltanschaulichen Voraussetzungen des deutschen Konservatismus aufzuweisen sich vorgesetzt hatte. Sie geht von dem Problem aus, daß im Konservatismus Autorität und Freiheit auf eine besondere Weise zusammenkommen: die autoritäre Festigkeit der Welt von oben und die Freiheit im eigenen Kreise von unten. Zur Demonstration dieser Doppelpoligkeit konservativer Weltanschauung scheint Martin der charakterfeste Ludwig von Gerlach besonders geeignet, bei dem die gedankliche Konsequenz des Konservatismus mit schroffer Härte heraustritt. Als Zentrum der Gedankenwelt Ludwig von Gerlachs gilt Martin der Reich-Gottes-Gedanke, genauer gesagt, der Gedanke des Königreichs Gottes auf Erden, eine augustinisch katholische Idee, die ihn den Protestanten zwingt, in beiden Kirchen Wahrheit zu suchen und zu finden. In diesem Gottesreich stehen Staat und Kirche im Verhältnis von Altem und Neuem Testament, von Gesetz und Glauben, und finden ihre Vereinigung in dem Gedanken des christlichen Staates. Hier nun stellt sich das Problem von Autorität und Freiheit, das Gerlach nicht in roh absolutistischer Weise lösen kann. Die religiösen und natürlichen Wurzeln seines Freiheitsgedankens führen ihn innerpolitisch auf den Weg des Ständestaates, außenpolitisch gipfelt diese Gedankenwelt in dem Ziel eines christlichen Staatensystems, deren Leitstern es ist, die Staaten zu einem Gottesreiche zu verbinden. Es ist diese Idee, die Idee der Heiligen Allianz, die Werner Näf bei Leopold von Gerlach betrachtet (1931, Nr. 1904). Näf, dem wir eine vorzügliche Abhandlung über die Entstehung der Heiligen Allianz verdanken, arbeitet vor allem heraus, wie Gerlach dieses Bündnis als ein neues, dem 18. Jhd. entgegengesetztes empfindet; wie nicht mehr die Staateninteressen, sondern die inneren Gegensätze den Ausschlag geben. Es ist der Versuch, die Außenpolitik auf den Satz zu gründen: Recht muß doch Recht bleiben.

Auch der geistige Patron der beiden Gerlachs, Karl Ludwig von Haller hat in Anton Hagemann einen neuen Interpreten gefunden (1931, Nr. 1908). Die Arbeit Hagemanns, eine juristische Dissertation, die die Staatsauffassung Hallers traktiert, führt in der Darstellung nicht über das hinaus, was W. H. von Sonntag in seinem trefflichen Buche dazu gesagt hat (vgl. auch 1930, Nr 1842). Dagegen liest man nicht ohne Gewinn den Versuch einer Kritik der Staatsauffassung Hallers, der mit den Mitteln der systematischen Rechtswissenschaft und der systematischen Staatslehre an Haller herantritt und ihn auf seine Abweichung oder Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Stande der Staatslehre


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befragt. Dabei wird Hallers Stellung zum Naturrecht und zum Naturgesetz, seine Auffassung vom Staatszweck und von den Staatselementen, sein Begriff der Souveränität schärfer beleuchtet, als es durch die schematischen Excerpte zu geschehen pflegt. Der Verf. findet den Wert der Restauration der Staatswissenschaften darin, daß sie über die Entstehung des Urstaates treffliche und anschauliche Darlegungen enthält, die auch heute Beachtung verdienen. Und er findet ihren Kardinalfehler darin, daß sie nicht erkennt, welche große Entwicklung der Staat von seinen ersten Anfängen bis zur Ausbildung des modernen Staates durchlaufen hat, und daß sie den Versuch macht, den entwickelten Staat auf den Urstaat zurückzuschrauben. Mit dieser Kritik scheint uns in der Tat eine der wichtigsten Schwächen der Restauration der Staatswissenschaften gekennzeichnet.

Neben diese einzelne Figuren behandelnden Betrachtungen setzt Siegmund Neumann in seiner Schrift über die Stufen des preußischen Konservatismus eine zusammenfassende, historisch-soziologische Darstellung, die wir als einen der wertvollsten Beiträge zur deutschen Parteigeschichte verbuchen dürfen (1930, Nr. 1839). Das Ziel des Verf. ist nicht nur, die Entwicklung des preußischen Konservatismus aufzuzeigen, sondern damit einen Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jhd. zu geben, also nach der Stellung des preußischen Adels und der an ihn angeschlossenen Schichten in Staat und Gesellschaft zu fragen. Der erste Teil, der dem Wesen des Adels und seiner inneren Entwicklung in Preußen gewidmet ist, zeichnet sich durch eine starke soziale und ökonomische Fundierung der Betrachtung aus. Die Stufen des Konservatismus bestimmt der Verf. nach Generationen, deren frühste der romantische Konservatismus darstellt. Eine gewisse Schematisierung ist bei dieser Stufung nicht vermieden worden. Denn es ist doch sehr fraglich, ob man gut tut, Haller und Ranke, Stahl und Hegel unter dem Schema der romantischen Schule abzuhandeln. Auch das Zeitalter der Reaktion bezieht Neumann, wenn schon als selbständigen Abschnitt, noch in diese Periodisierung ein. Die zweite Stufe stellt der liberale Konservatismus dar mit Stein beginnend und über Radowitz zu Bethmann-Hollweg und der Wochenblattpartei führend. Hierbei wird die Bedeutung der Bürokratie, deren Wirksamkeit gerade unter dem Anstoß Steins und der Reform eine wesentlich liberal konservative war, nach unserer Ansicht übersehen oder jedenfalls unterschätzt. Die dritte Stufe ist für den Verf. mit Bismarck erreicht, der den realen Konservatismus begründet. Die Umschichtung der konservativen Partei durch Bismarck ist nur noch knapp angedeutet; ausgeführt sind in der vortrefflichen Arbeit eigentlich nur die erste und zweite Stufe. An wievielen Einzelheiten man auch Bedenken äußern könnte, so wird man die Kritik doch zurückstellen hinter dem Dank für die Energie, mit der die Fülle parteigeschichtlicher Spezialuntersuchungen hier zu einem Gesamtbild zusammengeschlossen worden ist.

Den Widerpart des Konservatismus, den Liberalismus, und zwar den vormärzlichen Vulgärliberalismus, untersucht Hans Rosenberg auf seine Zusammenhänge mit dem theologischen Rationalismus (1930, Nr. 1844). Dieser theologische Rationalismus, die letzte und platteste Ausformung der Aufklärungstheologie, schlägt an einem bestimmten Punkte in politische Aktivität und politische Bewegung um. Grade seine gedankliche Mittelmäßigkeit, seine Flachheit und Trivialität hat ihn dazu geeignet gemacht, von den breiten Massen,


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dem bürgerlichen Mittelstand und dem reiferen Kleinbürgertum, im Kampf gegen das Bündnis von Thron und Altar gebraucht zu werden. Die einzelnen Phasen dieser allmählichen Umsetzung geistigen Gutes in politische Energie schildert Rosenberg aus breitester Kenntnis des Schrifttums des vormärzlichen liberalen Deutschland. In den gleichen Bezirk gehört auch die Studie Hugenschmidts, in der liberale und radikale Theoretiker des vormärzlichen Deutschland auf ihre Stellung zu Staat und Kirche befragt werden (1931, Nr. 1910).

Auf der Grenze von konservativem und liberalem Denken bewegt sich die Dissertation, in der Annemarie Neumeister romantische Elemente im Denken der liberalen Führer des Vormärz nachzuweisen versucht (1931, Nr. 1909). Dies ist ein Beitrag zur Ideengeschichte der Parteien, der, möchte man sagen, längst fällig gewesen ist. Denn seit langem weiß die deutsche Parteigeschichte, daß die Grenzen zwischen den weltanschaulich so schroff geschiedenen Gegnern verfließend waren, und daß sich beide Teile, nicht aus ideologisch propagandistischen, sondern aus tief idealistischen Motiven heraus bemühten, die positiven Antriebe des Gegners dem eigenen System anzugliedern. Wie man umgekehrt von liberalen Elementen im konservativen Denken sprechen kann, so ist es ein glücklicher Griff der Verf. gewesen, die romantisch traditionalistischen Elemente im Liberalismus aufzuspüren. Sie hat zu diesem Behuf eine etwas breit geratene Darlegung des politischen Denkens in Deutschland von der französischen Revolution bis zur Entstehung der deutschen Parlamente geben zu müssen geglaubt, die über die Staatsanschauung der Romantiker zu Humboldt und Stein führt. Hier ist kaum etwas Neues gesagt. Aber so erhält sie die Möglichkeit, mit den von ihr hier aufgewiesenen Kategorien bei Rotteck und Welcker, bei Murhard und Dahlmann die verschiedensten Anleihen aus dem geistigen Guthaben der konservativen Gegner klarzulegen. Vor allem der Organismusgedanke, die romantisch konservative Einstellung zur Geschichte und der Entwicklungsgedanke waren es, die Eingang im liberalen Denken gefunden haben. Ohne dies geschichtliche Element hätte der Liberalismus nie herüberfinden können zu Staat und Nation und seine eigentliche Aufgabe als National-Liberalismus nicht lösen können. So hat die Verf. den Finger auf ein wichtiges Problem gelegt, das vielleicht noch einmal in einem weiteren Rahmen, der die gesamte Parteigruppierung berücksichtigt, eine neue Behandlung verdient.

Heinrich von Sybel ist einer jener deutschen Liberalen, die mit geschichtlicher Anschauung gesättigt waren, und die Brücke zu schlagen suchten zwischen einem doktrinären Rationalismus und einem traditionalistischen Historismus. Über seine Stellung zum Staatsgedanken handelt auf Grund publizistischer Dokumente aus der Kölnischen Zeitung in den Jahren von 1844 bis 1851 Karl Buchheim (1931, Nr. 1911). Sybel gehörte von Haus aus zu den rheinischen Liberalen, bei denen er seine besondere Note, ein betont politisches Denken und die Anerkennung des preußischen Staatsgedankens durchzusetzen wünschte. Dafür warb er in Artikeln und Artikelserien in der Kölnischen Zeitung. Er mißbilligte das System der vormärzlichen Regierung, korrigierte die romantische Geschichtsvorstellung, aber auch eine rein nationale Gefühlspolitik und trat im kleinen wie im großen für den Primat des Staatsgedankens als das letztlich Entscheidende ein. Das Jahr 1851 bezeichnet die tragische Grenze dieser


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publizistischen Wirksamkeit. Mit der Anweisung der Zeitung an die Korrespondenten »sich soviel wie möglich auf genaue Angaben der Tatsachen zu beschränken und sich alles Räsonnements, das mißliebig werden könnte, zu enthalten« mußte die journalistische Tätigkeit für einen Geist wie Sybel jeden Reiz verlieren. Aber kann man das bedauern? Es ist schließlich diese Wendung gewesen, die ihn in die Arme der Wissenschaft zurückgetrieben hat, und der die deutsche Historie das große Buch über die französische Revolution verdankt.

Für die Erforschung des Liberalismus würde man sich viel von der Arbeit von Gerhard Neumann erwarten, die die Geschichte der konstitutionellen Theorie in der deutschen Publizistik von 1815--48 geben will und damit gleichzeitig einen Grundriß zum politischen Ideengehalt des vormärzlichen Liberalismus zu zeichnen sich vorsetzt (1931, Nr. 1907). Wie weit die genannte Arbeit diesem großen Ziel gerecht wird, ist nach dem vorliegenden Teildruck kaum zu beurteilen, da hier nur das dritte Kapitel: der Begriff »konstitutionell« vorgelegt wird. Ganz ohne Frage ist die konstitutionelle Theorie ein entscheidendes Moment in der liberalen Bewegung, und ganz ohne Frage ist ihre allmähliche Ausbildung und Abklärung eine der wichtigsten Stufen in der Parteiwerdung. Der Verf. unterscheidet zwischen monarchisch konstitutionell, liberal konstitutionell und demokratisch konstitutionell. Die Betrachtung der Bedeutung des Wortes konstitutionell in den verschiedenen publizistischen und programmatischen Äußerungen ist aber wenig klar und wenig geordnet. Doch wird man ein endgültiges Urteil aussetzen müssen, bis die Studie im ganzen vorliegt.

Als einen Beitrag zur liberalen Ideengeschichte gibt sich auch die Arbeit Reinhold Backmanns, die unter dem Titel Grillparzer als Revolutionär den politischen Gehalt des Lebenswerkes Grillparzers zu umreißen versucht (1931, Nr. 1913). Nach der Meinung des Verf. geht der revolutionäre Grundzug wie die josefinische Einstellung durch das ganze Leben Grillparzers. Er wächst, so meint Backmann, mit Notwendigkeit aus der Konstellation der europäischen Verhältnisse hervor, wird durch die Aera Metternich gestärkt und bricht mit der Julirevolution gewaltig auf. Von einer Abschwächung des revolutionären Elans in Grillparzer will der Verf. nichts wissen. Er glaubt nur, daß der wachsende Nationalitätenhader den Dichter vorsichtiger gemacht hat, da ihm der Zeitpunkt für eine gewaltsame Änderung verpaßt schien. Auch im Jahre 1848 rechnet ihn Backmann zu den Revolutionären mit der Einschränkung, daß er einer der reinsten und edelsten Revolutionäre aller Zeiten gewesen sei. Uns scheint die ganze Einstellung zu diesem Problem, das ja ein Kapitel der politischen Literaturgeschichte ist, verfehlt. Um Grillparzer als politischen Dichter zu würdigen, hätte man die politische Grundstruktur seiner Dichtung, ihre innere Bezogenheit auf den Lebensraum der Donaumonarchie erweisen müssen. Erst von dieser Voraussetzung aus kann man die einzelnen Urteile Grillparzers zu den politischen Vorgängen ordnen und katalogisieren, wobei es uns ein müßiges Beginnen scheint, einen souveränen Menschen danach abstempeln zu wollen, ob er rechts oder links gestanden hat. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob er die politischen Kräfte bejaht hat, in denen seine eigene geistige Ergiebigkeit verwurzelt war.

In der geistigen Welt des deutschen Bürgertums, der Grillparzer angehörte,


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stehen Politik und Kultur, Staat und Moral auf einer Ebene. Das gilt auch für Georg Gottfried Gervinus, dessen geschichtlich politisches System die Studie von Erich Wolf vorführt (1931, Nr. 1912). Wolf sieht in Gervinus einen der leidenschaftlichsten und wirkungsvollsten politischen Erzieher des deutschen Bürgertums, ohne seine Schwächen zu verkennen, die in dem Mangel schöpferischer Kraft und politischer Begabung bestanden. Philosophischer und ethischer Rationalismus treffen sich in Gervinus mit der neuen Gesinnung des 19. Jhds., in der die Betonung des Willens und die Anerkennung der empirischen Macht sich durchsetzt. Die Mischung, in der diese verschiedenen Bestandteile sich verschmolzen haben, ergab einen harten Dogmatismus der Politik, ein merkwürdiges Ineinander von Machtwillen, ethischem Rigorismus und theoretischer Begabung, das dem lebendigen Spiel der politischen Kräfte nicht gewachsen war. Der Verf. weiß diese eigentümliche Physiognomie recht gut zu kennzeichnen, sowohl in ihren menschlichen Grundlagen wie in ihrer Bedeutung für das System der politischen Wissenschaften. Gervinus' Begriff der Nation kennzeichnet er als »Kulturnation mit kriegerischem Charakter«. Dabei geht er für unser Gefühl in der Kritik zuweilen sogar über die Grenze des Notwendigen hinaus, wenn er Gervinus' Literaturgeschichte mit einem Worte abtun will. Es muß doch nachdenklich stimmen, daß ein so großer Kenner wie Rudolph Borchardt stets dankbar zu diesem Werk gestanden hat. Daß Wolf die unglückselige Phase der politischen Einstellung Gervinus' nach dem Scheitern der Frankfurter Revolution und zu Bismarck, Gervinus' aus der Opposition geborenen Föderalismus nicht in so verklärter Beleuchtung vorführt, wie man dies kürzlich versuchte, scheint uns verdienstlich und richtig. Und für richtig halten wir auch die Kennzeichnung Gervinus' als Repräsentanten einer Zeit, die noch unentschieden war zwischen politischer Theorie und politischer Praxis. Es war seine Tragik, daß er diese Zeit überlebte, ohne sich der veränderten politischen Situation anpassen zu können.

Während Gervinus nach dem Scheitern der Revolution von 1848 in einen unfruchtbaren Doktrinarismus versank, wuchs das liberale Bürgertum unter anderen Führern seiner Aufgabe, der Mitwirkung an der Begründung des nationalen Staates entgegen. Daß es dazu fähig wurde, verdankt es den großen Wegbereitern, vor allem Dahlmann. Die Eigenart der historischen Politik bei Dahlmann und Treitschke untersucht Fritz Walter in einer wenig belangvollen Dissertation (1931, Nr. 1914). Politik als Wissenschaft ist eine zu schwierige Aufgabe, als daß man ihre Behandlung durch zwei der größten Meister, Dahlmann und Treitschke, unerfahrenen Händen überantworten dürfte. So lernen wir hier denn weder über Treitschke noch über Dahlmann noch über Politik als Wissenschaft etwas, das über den Rahmen des schon Ergründeten hinausreicht.

Fruchtbarer, als immer von neuem Einzelfiguren der Parteien zu behandeln, dürfte es werden, nun größere Problemreihen aus der Geschichte des innerstaatlichen Lebens Deutschlands herauszugreifen. Ein sehr gelungenes Beispiel für den Typus solcher Arbeiten, wie sie uns vorschweben, stellt die Untersuchung dar, die Hans G. Wink über die schulpolitischen Kämpfe der Paulskirche im Jahre 1848 veröffentlicht (1931, Nr. 1969). Wir erhalten in knappster Form einen Abriß der Voraussetzungen, aus denen die katholische Erneuerungsbewegung zu ihren programmatischen Forderungen die Schule betreffend


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kam. Die Kirche sah in der Beherrschung der Schule ein Recht, das sie, wie der Erzbischof Geissel sagte, reklamieren, nicht proklamieren müßte. Wie sie diese Forderung in den parlamentarischen Kämpfen der Paulskirche durchzudrücken suchte, ohne freilich die liberale Mehrheit für sich zu gewinnen, ist der engere Gegenstand der instruktiven Untersuchung. Letztlich ist ja auch die katholische Schulpolitik nur ein Glied der katholischen Gesamtpolitik. So fällt nebenher auch auf den korporativen Gedanken im Katholizismus und auf die Gemeindepolitik, wie sie Kettler vertrat, manches wertvolle Streiflicht.

Ein anderer Versuch, der allerdings nicht mehr einzelne Problemreihen, sondern die Problematik des Liberalismus schlechthin in den Mittelpunkt rückt, liegt in dem Buch Hans Georg Schroths (1931, Nr. 1916) über die Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus in der Zeit der Einheits- und Freiheitskämpfe zwischen 1859 und 1866 vor. Der Verf. nennt seine Arbeit einen Beitrag zur Soziologie des deutschen politischen Denkens. Sie liegt damit auf der Bahn, die Karl Mannheim in seiner Untersuchung über das konservative Denken eingeschlagen hat; allerdings hat sie mehr die Unarten als die Fruchtbarkeit dieses Typus. Die übermäßige Belastung der Darstellung mit begrifflichen Kategorien, die nicht aus dem Stoff erwachsen, sondern an ihn herangetragen werden, verunklären die geschichtlichen Sachverhalte anstatt sie zu erhellen. Das erste Kapitel sucht die geistig politische Polarität (ein Lieblingswort des Verf.) des 19. Jhds. zu erfassen, im einzelnen mit mancher feinen Beobachtung, im ganzen nicht neu oder originell. Darauf gründet sich dann das zweite Kapitel, dessen anspruchsvoller Titel die historische und gesellschaftlich zivilisatorische Struktur der neuen Aera zu beleuchten verspricht. Der Verf. bringt die realpolitische Polarität des Jahres 1859 auf den Gegensatz von Legitimismus und Liberalismus, was uns für die wirklichen Probleme der neuen Aera ziemlich fehlgegriffen scheint. Aber auch in der Aufweisung der gesellschaftlich zivilisatorischen Struktur als der eigentlichen Domäne soziologischer Betrachtung bleibt der Verf. das Meiste schuldig oder er stößt mit Elan offene Türen ein. Bedürfen wir wirklich noch einer soziologischen Untersuchung, um zu erfahren, daß die liberale Politik in den 60er Jahren Honoratiorenpolitik war? Es würde zu weit führen, die Auffassung des Verf. von der neuen Aera als der letzten entscheidenden Auseinandersetzung zwischen Legitimismus und Liberalismus zu widerlegen. Aber schon ein Blick auf die Annektionspolitik Bismarcks nach 1866 hätte ihm zeigen können, daß er den Ansatz falsch gewählt hat. Nicht soziologische sondern sozialgeschichtliche Arbeiten tun heute der deutschen Historie und der Parteigeschichte im besonderen not. Das Thema: die Welt- und Staatsideen des deutschen Liberalismus aber hat uns der Verf. nicht tiefer kennen gelehrt, als wir es von Otto Westphals Buch her schon sahen.

Sehr viel glücklicher ist der auch auf eine ähnliche Betrachtung ausgerichtete Versuch Salanders über den Staat im Zeitalter der liberal-kapitalistischen Wirtschaft (1931, Nr. 1915). Ebenso wie für Schroth handelt es sich für Salander um das allgemeine Problem von Staat und Liberalismus, genauer noch von Staat und liberaler Wirtschaft. Aber Voraussetzungen und Schlußfolgerungen werden mit größerer Behutsamkeit dargeboten und sind gerade dadurch fruchtbar. Das Kernproblem ist für Salander die Zurückdrängung des Staates im Zeitalter des Liberalismus und Kapitalismus, die ihren Ausgang von der


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Aufklärung nimmt und durch den Nationalstaat nur eine Stärkung erfährt. Dabei fallen über die Umprägung des Volksbegriffes im 19. Jhd. einige ganz ausgezeichnete Bemerkungen. Die Zurückdrängung des Staates führt schließlich dazu, daß er nicht mehr als innere Gemeinschaft sondern als notwendiges Übel, als der liberale Nachtwächterstaat aufgefaßt wird. Die Gegenströmung hierzu, die auf Omnipotenz des Staates drängt, sieht der Verf. vor allem in Hegel verkörpert, dem man aber noch eine ganze Reihe großer Staatsdenker anreihen könnte. Für die Gegenwart glaubt der Verf., daß sich in steigendem Maße das Grundprinzip des Staates wieder durchsetzen wird, Träger menschlicher Gemeinschaft zu sein.

Aus einem ganz anderen Bereich, als dem, aus dem sich die Opposition des Liberalismus speist, stammen die Kräfte, mit denen sich der einsame Konstantin Frantz dem Gange der deutschen Entwicklung entgegengeworfen hat (1930, Nr. 1846). Eugen Stamm, der vor einem Vierteljahrhundert den ersten Teil einer Biographie Frantz' vorlegte, nimmt nun in einer neuen Arbeit zu Konstantin Frantz Stellung, die den Untertitel führt: Ein Wort zur deutschen Frage. Sie begleitet Frantz durch die Zeit von 1857--66 und ist sehr viel stärker als der erste Teil von den zeitgenössischen Problemen des deutschen Staatslebens bewegt und angeregt, dadurch auch persönlicher in der Bewertung. Frantz wird zu »dem« Antibismarck überhaupt erhöht. Ja, der Verf. sieht in ihm mit Nietzscheschen Worten einen der umfänglicheren und tieferen Menschen des 19. Jhds., der sich zu dem Weitblick menschlich ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele durchgekämpft hat. Man kann diese überstarke Akzentuierung der Leistung Frantz' dahingestellt sein lassen; sie ist nicht das, was das Buch verdienstvoll und kennenswert macht. Vielmehr: daß es Stamm gelungen ist, im Gegensatz zu den meisten der Schriften, die sich mit Frantz beschäftigen, seine große politische Publizistik einzubetten in das konkrete Geschehen und damit ihr irdisches, aber auch ihr überirdisches Teil erst deutlich zu machen. Eine höchst interessante Konstellation zeigen zwei Briefe Frantz' an Bismarck aus dem Jahre 1858. Sie bezeichnen den Moment, in dem der preußische Staatsmann und sein großer Gegner noch zusammengehen konnten. Wie weit es dabei richtig und möglich ist, Bismarcksche Gedanken auf Frantz zurückzuführen, bleibe hier unbeantwortet. Der Verf. hat eine nicht ungefährliche Neigung, den Einfluß Frantz' an zu vielen Orten und auf zu viele Menschen zu suchen. Neben den realen Bezügen des Frantzschen Werkes, die in der Begegnung mit Bismarck sichtbar werden, treten auch die ideengeschichtlichen sehr viel schärfer als bisher hervor. Die Analyse des Frantzschen Föderalismus ergibt die Formel, daß er die Synthese von Imperialismus und Pazifismus sei, die in ihrer widerspruchsvollen Zusammenstellung freilich auch die Grenzen der Auswirkungsmöglichkeit dieses Geistes bezeichnet. Es ist unmöglich, an diesem Orte den ganzen Inhalt anzudeuten, den dies wichtige und reiche Buch umschließt. Man weiß, daß Frantz diese großen Krisenjahre der deutschen Geschichte mit einer Flut von publizistischen Entwürfen begleitete; sie alle finden eine verständnisvolle Würdigung aus umfänglicher Kenntnis der Zeitgeschichte, aber auch aus der bis an die Gegenwart herangeführten Kenntnis der Geschichte des deutschen Staatsgedankens. So haben wir nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsanschauungen, sondern zum Gesamtbild des deutschen Geistes im 19.


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Jhd. mit diesem Buch erhalten. Daneben hat der kurze Lebensabriß K. von Hövels naturgemäß einen schweren Stand. Seinen Zweck, auf wenigen Seiten das Lebensbild der eigenwilligen Persönlichkeit K. Frantz' zu vermitteln, erfüllt er immerhin.

Man wird immer Lagarde und Frantz als gemeinsame Kämpfer in der Frout gegen den kleindeutschen Staat empfinden, wie verschieden sie auch in Ursprung und Wesen sind. Lagarde ist heute lebendiger denn je; viele seiner Zielsetzungen sind erfüllt, viele harren noch der Erfüllung. So ist es sehr begreiflich, daß sich die Arbeiten über Lagarde häufen. Eine Übersicht über sein Denken legt F. Krog in einer sehr anziehenden Studie: »Lagarde und der deutsche Staat« vor (1930, Nr. 1847). Er ist Krog unter den »Reichsverdrossenen« die wichtigste Gestalt, und er führt seine Reichskritik zurück bis auf das Jahr 1853, den Anfang der politischen Wirksamkeit Lagardes, und bezeichnet mit dieser paradoxen Formulierung treffend die tiefe Verwurzelung Lagardescher Kritik im Gesamtgefüge seiner Weltanschauung. Es ist darum folgerichtig, daß Krog seine Darlegungen mit einer Skizze der allgemeinen weltanschaulichen Grundlagen Lagardes beginnt. Tholuck hat Lagarde einmal eine anima naturaliter pantheistica genannt. Und schärfer, als wir es bisher gewohnt waren, arbeitet Krog diesen pantheistischen, polytheistischen Grundzug heraus. Lagarde trug immer ein »gutes Stück Heidentum« in sich. Sehr eigentümlich ist die Brücke, auf der Lagarde dann herüberfindet zu Christentum und Geschichte. Der Ausgangspunkt ist die Individualität. Sie führt zum Organismusgedanken und von da zur Nation, für die Lagarde nicht die Gemeinsamkeit des Blutes sondern die geschichtliche Aufgabe als Lebenszentrum sieht. Mit der Verherrlichung der Individualität steht er freilich auch gegen die Vergötterung des Staates durch Hegel und seine Nachfolger, in der er etwas Antichristliches, ja Satanisches spürte. Der Hauptteil des Buches führt uns Lagardes Stellung zum neuen Deutschen Reich, die unbedingte Schroffheit seiner Kritik, seine mitteleuropäischen und seine Kolonisationspläne vor, bei denen man nicht weiß, ob man ihren Flug mehr bewundern oder ihre Phantasie mehr anzweifeln muß. Über Lagardes Vorschläge zur inneren Wiedergeburt Deutschlands stößt das Buch zu einer Schlußbetrachtung vor, die Lagardes Stellung zur Gegenwart und den Wert seiner Prophetie behandelt. Es ist nur gerecht, wenn Krog abschließend urteilt, daß ein geringerer als Lagarde sich im Gegenepochalen verfangen hätte, und daß er erst dadurch, daß er Bismarcks Freund und Feind zugleich war, den Raum des Überepochalen erreicht hat.

Aus der Opposition gegen den Bismarckschen Staat ist weitgehend auch Werk und Denken von Hugo Preuß hervorgewachsen, über den zwei sehr verschiedenartige Darlegungen vorliegen (1930, Nr. 1849). In der Sammlung: Meister des Rechts, widmet der ehemalige Reichsgerichtspräsident Walter Simons ihm einen kurzen zwischen Kritik und Anerkennung sorgsam abwägenden Lebensabriß. Preuß' Bedeutung sieht er darin, daß er in einem Augenblick, als Deutschlands politische Form zugleich mit seiner politischen Macht zersprang, der einzige Mann war, der mit einem fertigen, den Umständen der Zeit angepaßten Programm in die Bresche sprang. Auch für Simons ist dies Programm nichts Endgültiges. Er sieht seine Lücken, Schwächen und Mängel, die heute nach dem Hinsturz der Weimarer Verfassung begreiflicherweise noch deutlicher sind als im Moment ihres Verzweiflungskampfes um das Fortleben


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des Parlamentarismus. Der zweite Teil des Buches bringt Abschnitte aus den Werken Preuß', beleuchtet sein Verhältnis zum Freiherrn vom Stein, zu Gneist und Gierke, seine Auffassung vom Wesen des Verfassungs- und Rechtsstaates und seine Arbeit an der Weimarer Verfassung.

Sehr anders stellt sich der Fall Hugo Preuß für einen so dezidiert unliberalen Geist wie Carl Schmitt dar, der in einer erweiterten Reichsgründungsrede Preuß zum Ausgangspunkt einer Betrachtung über die deutsche Staatsrechtswissenschaft macht, einer Betrachtung, deren Ziel es ist, zum konkreten geschichtlichen Bewußtsein der eigenen geistigen Situation vorzustoßen. Für Schmitt verbinden sich in Hugo Preuß die drei maßgebenden Richtungen des deutschen Staatsrechts, die mit den Namen Gneist, Gierke und Laband charakterisiert sind. Es ist nun der eigentümliche Reiz der Rede von Carl Schmitt auf Hugo Preuß, wie er in der organischen Staatslehre von Gierke, in dem Rechtsstaatsdenken von Gneist und im Positivismus Labands jeweils den konkreten politischen Tatbestand aufklärt, der sich hinter ihnen verbirgt und sich in ihnen ausdrückt. Für die von Preuß geformte Weimarer Verfassung hat Schmitt die Formel des neutralen Staates geprägt, der nur noch die Selbstorganisation der Gesellschaft darstellt. Bei aller Kritik anerkennt Schmitt in Preuß den unabhängigen Geist eines Mannes, »dessen Leben und Werk den Zusammenhang von freier bürgerlicher Bildung und Staatsverfassung bewiesen hat«. Die Rede von Schmitt, der ein besonders interessanter Anmerkungsapparat beigegeben ist, ist einer der wichtigsten Versuche, die staatsrechtliche, aber darüber hinaus die gesamtgeistesgeschichtliche Entwicklung in ihrem Zusammenhang mit der politisch sozialen zu verstehen und zu umreißen.

Von ganz anderer Seite her hat Otto Westphal in seinem Buch über Feinde Bismarcks einen gleichen Versuch unternommen (1930, Nr. 1848). Die höchst bemerkenswerte Schrift, deren Untertitel: Geistige Grundlagen der deutschen Opposition von 1848--1918 heißt, umschließt eng verwoben polemische und positiv zielsetzende Partien. Sie beginnt, wie wir finden, ein wenig zufällig mit einer Auseinandersetzung mit Emil Ludwig, dessen historische Belletristik für Westphal nur Symptom und Occasion ist. Denn das eigentliche Herzstück des Buches liegt in einer politischen Literaturgeschichte, deren Ziel es ist, den Primat des Geistes über den Staat als ein Mißverständnis abzuwehren. Daraus will Westphal aber nicht die Folgerung des Primates des Staates über den Geist ziehen, sondern als Ergebnis ein System ebenmäßig geistiger Auswirkungen in Staat, Kunst und Wissenschaft statuieren. Hieraus ergeben sich die beiden Aufgaben des Buches, einmal die einer Kritik der deutschen Entwicklung, die sich zu dem Primat des Geistes vor dem Staat bekannt hat, und dann die zweite einer neuen Zielsetzung der politischen Geschichtsschreibung aus dem von Westphal als maßgeblich betrachteten System. Beide Aufgaben sind in gleicher Weise erregend und wichtig. Und so ist es nicht verwunderlich, daß das Buch in der Wissenschaft ein außerordentlich starkes Echo gefunden hat, ein Echo, in dem sich beipflichtende, aber auch kritische Stimmen mischen, was dem Verf. nur willkommen gewesen sein kann, der sich aus zu vieler Harmonie förmlich nach einem richtigen Gelehrtengezänk sehnt. Zu der Leistung Westphals, zu dem, was von ihr über die Anregung hinaus bleibend sein wird, im Rahmen eines Referates Stellung zu nehmen, ist fast unmöglich. Der Versuch, die geistige Entwicklung Deutschlands unter dem Wertmaßstab


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der politischen und auf ihre Zusammenhänge mit der Politik zu untersuchen, ist gerade im 19. Jhd. sehr fruchtbar und könnte sich auch auf die Literarhistorie selbst berufen, wo Josef Nadler dem vierten Band seines Werkes den Titel gegeben hat: der deutsche Staat. Ob es hingegen möglich ist, so verschiedene Geister wie Herder, Schiller, Hebbel, Wagner, Burckhardt, Nietzsche, Lamprecht, Dilthey, Meinecke und Emil Ludwig nur unter dem Gesichtspunkt ihres negativen Verhältnisses zum Staat in die gemeinsame Schablone einer geistigen Opposition zu pressen, bleibt doch fraglich. Und fraglich ist auch die Art der Methodik des Westphalschen Buches, deren allzu direkte Zurechnung literarischer Leistungen zu politischen Konstellationen uns nicht selten fehlzugehen scheint. Das im einzelnen zu erweisen, im einzelnen aber auch zu erweisen, wo wir der intuitiven und konstruktiven Begabung des Verf. für den Aufweis ganzer Problemreihen in der deutschen politischen Ideengeschichte dankbar verpflichtet sind, verbietet sich hier. Das Westphalsche Buch ist seinem Wesen nach mehr Forderung als Leistung und wirkt im Sinne jeder echt befruchtenden wissenschaftlichen Tat auch durch seine Leistung noch als Forderung.

Eins der wichtigsten Postulate, die uns dies Buch entgegenwirft, dürfte die Ergründung dessen sein, was man mit einer berühmten Formel den »Protestantismus als politisches Prinzip« nennen könnte: den Aufweis jener Linie von Luther über Hegel zu Bismarck durch die ganze neuere deutsche Staats- und Geistesgeschichte. Westphals Buch beruht letztlich auf der Festigkeit dieser Kontinuität: sie als wissenschaftliches Resultat zu erweisen bleibt die Aufgabe. Wie viel in den besten Antrieben der Gegenwart dahin drängte, beweist die Schrift H. Gerbers über die Idee des Staates in der neueren evangelischtheologischen Ethik (1930, Nr. 1830). Ihr geht es darum, von der Weltanschauung -- nicht mehr von der Rechtsphilosophie -- den Weg zu einer Neubegründung der Staatslehre zu finden. Als Basis dafür dient ihm die neuere evangelische Staatsanschauung, repräsentiert durch Althaus, Brunstäd und Hirsch. Er entwickelt ihre Auffassung der Gemeinschaft, ihre Stellung zu Staat und Volk, Stand und Beruf, Staat und Kirche. Gerber findet in den Werken jener Geister eine geschlossene weltanschauliche Staatslehre -- die Fortsetzung der alten evangelischen von Luther bis zu Stahl, die ihm zwar im einzelnen Gegenstand der Kritik, aber doch in allen wichtigen Punkten zum Fundament einer neuen, weltanschaulich gegründeten Rechts- und Staatslehre werden kann. Hier nun berühren sich Historie, Theologie und Rechtslehre. Jede von ihnen wird von den Antrieben der anderen befruchtende Wirkung in ihrem eigenen Bereich zu spüren bekommen.


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