II. Die Reformzeit und das 19. Jahrhundert.

Die Literatur zur Geschichte der Reformzeit ist im Berichtsjahr, in welchem des Freiherrn vom Stein Todestag zum hundertsten Male wiederkehrte, aufs tiefste bereichert worden. Zwei neue Steinbiographien, zwei große Publikationen, welche der Erforschung der Persönlichkeit Steins, seiner Mitarbeiter und der Reformära ganz neue Grundlagen bieten, dazu eine Fülle von zum Teil sehr wertvollen Gelegenheitsschriften und Vorträgen, die hier im einzelnen nicht berücksichtigt werden können: eine Literatur,


S.365

die selbst wiederum nicht ohne politisch-historische Bedeutung und Symptomatik ist für die geistige Verfassung des bürgerlichen Zeitalters in seiner tiefen Krisenzeit -- wie denn auch auf mancher dieser Erscheinungen etwas vom Abendlichte eines sich neigenden Zeitalters liegt.

Für die wertvollen und bleibenden Erscheinungen des Gedenkjahres ist der hundertste Todestag Steins gewiß nur ein sehr äußerlicher und in manchen Fällen vielleicht nur mit Mühe eingehaltener Termin gewesen, die wirklichen Antriebe zu diesen Werken entstammen tieferen Forderungen der Zeit, die wie so vieles auch Stein neu zu sehen und zu deuten zwingt. Damit sei allerdings nicht jene Art von Stein-Gedenkliteratur gemeint, die sich bemühte, dem Staat von Weimar am Vorabend seines Untergangs ein historisches Unterfutter zu verschaffen, Parlamentsdemokratie und Erfüllungspolitik durch die Beschwörung von Steins großer Gestalt zu legitimieren. -- An der Spitze der neuen Steinliteratur steht Gerhard Ritters große zweibändige Biographie ( 893). »Eine politische Biographie«, wie Ritter seine Darstellung im Untertitel benennt, erwächst nicht im luftleeren Raum, sie hat ihren geistigen Standort, sofern sie lebendige Geschichtsschreibung und als solche selbst Teil und wirkende Kraft der lebendigen Geschichte ist. Das Werk Lehmanns ist aus einer solchen großen geschichtlichen Bewegung, dem deutschen Liberalismus, erwachsen und gespeist: von welchen Kräften ist das Buch Ritters getragen, welche treibt es selbst voran? Es konnte nicht unter dem großen Anhauch einer Epoche entstehen, es muß in der kalten, überklaren Luft eines Zwischenreiches leben, fast möchte man sagen auf dem toten Punkt zwischen zwei Zeiten. Ritter schildert immer wieder, »wie es eigentlich nicht gewesen«, er zerstört das Bild des liberalen Stein von Grund auf, aber sein neuer Stein hinterläßt dem Leser das Gefühl einer höchsten Problematik seines Wesens und seiner Wirkung. Der Anlauf zu dem Buche ist nicht die Begeisterung, sondern die Kritik, hier, im Kritisch-Wissenschaftlichen liegt seine Bedeutung, und diese ist nicht leicht hoch genug zu veranschlagen. Der erste Band schildert den »Reformer«, den großen moralisch-pädagogisch orientierten Verwaltungsmann mit dem horror vor der Diplomatie, der ganz der Pflicht lebt, »das Leben zu gemeinnützigen Zwecken zu verwenden und die hierzu erforderliche Tüchtigkeit durch Fleiß und Anstrengung zu erwerben«. Stärker als bei Lehmann tritt auf Grund neuen Materials die geistig-politische Grundprägung durch reichsritterschaftliche Tradition und protestantisch-pietistische Ethik vom Elternhaus her hervor, deutlicher wird das Bild der Einflüsse und ihrer Verarbeitung während der Göttinger Studienzeit: Schlözers aufgeklärte Kathederpolitik, Pütters Reichsgeschichte und endlich als Wichtigstes der Kreis um Rehberg und Brandes. Mit dem Eintritt Steins in den preußischen Verwaltungsdienst setzt dann recht eigentlich die Revision des Lehmannschen Steinbildes durch Ritter ein. Da ist zunächst die Entzauberung des Bildes der Selbstverwaltung Westfalens, das bei Lehmann den legendarischen Glanz einer Urheimat freiheitlicher Institutionen hatte; demgegenüber sodann die mehr oder weniger weitgehende Wiederherstellung der Gerechtigkeit gegenüber dem altpreußischen Staate, der bei Lehmann die Rolle einer düsteren Folie zu dem Glanz der Reformen spielen mußte; hierhin gehört auch die historische Rehabilitierung des Kabinettsrats Beyme. Endlich die eigentliche Epoche der Reformen, das kritischanalytische Kernstück des Buches, das zu einer minutiösen Abgrenzung des Anteils der einzelnen Reformer an dem agrarpolitischen und administrativen Reformwerk


S.366

wird, wobei die Gestalt Steins manchmal für ganze Strecken aus der Darstellung verschwindet, um ausgezeichneten Porträts seiner Zeitgenossen und Mitarbeiter: Schön, Altenstein, Frey Platz zu machen. »Der Vorkämpfer nationaler Freiheit und Einheit« ist der Untertitel des zweiten Bandes, der Steins Emporwachsen vom preußischen Verwaltungsmann zum deutschen und europäischen Staatsmann schildern will. Es gibt hier ganze Partien, die in ihrer kühlen, fast möchte man sagen schonungslosen Art der Schilderung nahe bis an die Desillusionierung des Helden überhaupt heranführen. So wird »die Schwäche des politischen Vermögens« Steins erwiesen an der Fehlrechnung sowohl seiner Erfüllungspolitik im Winter 1807/08 wie seiner Wendung zur Politik des nationalen Aufstandes im Sommer 1808. Dieselbe Unzulänglichkeit im eigentlich Politischen und Diplomatischen ist es, die die bekannte Briefaffäre und damit die Ächtung und Verbannung herbeiführt. Es folgen die Jahre des Exils in Brünn, Troppau und Prag mit ihren geschichtlichen und wirtschaftstheoretischen Studien oberhalb des unterirdischen Weiterschwelens nationalrevolutionärer Pläne. In dieser Zeit erwächst aus vergleichenden Studien vor allem über die Verfassungsgeschichte des alten Reiches Steins nationalstaatliches Programm: der nationale Einheitsstaat mit provinzieller Selbstverwaltung.

Die Berufung Steins an den Zarenhof bringt ihn wieder in die Politik -- diesmal zum ersten Male in die große europäische Politik. Als Mitglied des deutschen Comités und Berater des Zaren versucht er durch diplomatische Einwirkungen die deutsche Erhebung mit Hilfe englischer, schwedischer und russischer Aktionen in Gang zu bringen: Deutschlands und Europas Befreiung werden für ihn eins. Getäuscht und enttäuscht von der kalten Staatsräson der europäischen Staaten und dem Egoismus der deutschen Kleinfürsten sucht der politische Idealist in großen Denkschriften das europäische Interesse sowohl an der Wiederaufrichtung wie an einer neuen Verfassung Deutschlands zu erweisen. Der Prophet des deutschen Nationalstaats, der nach dem Scheitern der Hoffnungen, die er auf Preußen gesetzt hatte, nicht mehr an eine Erhebung und Neuordnung Deutschlands aus eigener Kraft glaubt, wächst in den gefährlichen Gedanken hinein, den auswärtigen Mächten, Österreich, Rußland und England, die Aufgabe der Befreiung und der Neuordnung der Verfassungsverhältnisse Deutschlands in seinem Sinne zuzuweisen. So kommt Stein in unbedingtem Vertrauen auf die Selbstlosigkeit der russischen Politik als russischer Kommissar nach Ostpreußen, und das erklärt die zwiespältige Rolle, die er hier spielen muß. Das heroisch-pathetische Fresko der ostpreußischen Erhebung wird so zu einem Bild des Gegen- und Ineinanders von Spannungen und Reibungen so verschieden bedingter Persönlichkeiten wie Stein, Schön, York, Auerswald und Dohna. Stein hatte sich am Vorabend der deutschen Erhebung so weit von Preußen entfernt, daß er theoretisch die Zerschlagung Preußens zugunsten einer Führung Deutschlands durch Österreich erörtern konnte. Durch den Eintritt Preußens als erster der deutschen Staaten in den Krieg verschob sich sein Programm der Befreiung und Neuordnung Deutschlands von den auswärtigen Mächten her vollkommen: brachten die Deutschen selbst die Kraft zu ihrer Befreiung auf, so sollten sie auch selbständig über die Gestaltung ihres Staates bestimmen können. Trotzdem versucht er auf dem Wege über die Kriegsverwaltung durch den preußisch-russischen Verwaltungsrat auch von oben her die ersten Schritte zu einer praktischen Reichsreform zu tun: an den Mißerfolgen dieses Verwaltungsrats in Sachsen und Mecklenburg


S.367

erweist Ritter wiederum die Schwäche des politischen Instinktes seines Helden.

Die letzten Partien des Buches beginnen dann immer mehr den Charakter eines Epilogs auf die nationalen Prophetien Steins anzunehmen. Schon die große neue Verfassungsdenkschrift vom August 1813 war der Ausdruck einer tiefen Resignation gegenüber den tatsächlichen innen- und außenpolitischen Machtverhältnissen gewesen; uralt-barocke Reichstradition hatte sich in ihr mit Modern-Liberalem gemischt. Immer neue Verhandlungen über die deutsche Verfassungsfrage, neue Denkschriften und neue Enttäuschungen folgen sich bis zum Abschluß der Bundesakte, die das Ende aller nationalen Verfassungsideen Steins besiegelte. »Tief resigniert, aber willig trat er in den Schatten eines rein privaten Daseins zurück.« Die eigentliche Altersbiographie ist Ritter uns schuldig geblieben. Ein ganz knappes Kapitel schildert den Abend dieses großen Lebens, dessen sich kurz vor dem Ende noch ein ganz großer politischer Eindruck bemächtigt: die Julirevolution, die dem politischen Denker, der sein Leben lang um die Deutung der von ihm erlebten Weltwende gerungen hatte, die Zeit ankündigte, »wo man weniger vom Despotismus der Fürsten als der aufständischen Proletarier zu fürchten hat«.

Die zweite kleinere Biographie des Reichsfreiherrn, die das Gedenkjahr hervorgebracht hat, das Buch von Franz Schnabel ( 894), steht trotz aller Berücksichtigung der Ergebnisse der neuen Steinforschung in manchem noch im Schatten des Lehmannschen Werkes. Es dient der Tendenz des Staates von 1918, sich eine »freiheitliche« antiborussische und antibismarckische Tradition zu verschaffen, die von Stein und der Reformzeit über 1848 zur Weimarer Verfassung führen sollte, wie man ja auch an der Paulskirche ein Reliefbildnis des Freiherrn vom Stein anbrachte. Da es aber für einen gewissenhaften Historiker wie Schnabel doch nur sehr schwer möglich ist, Stein zum Vater des Freiheitsideals einer Imitation französischer Parlamentsdemokratie zu machen, wirkt diese Tendenz oft nur äußerlich aufgeklebt, so daß nach deren Fortfall eine sehr lesbare Biographie übrigbleiben würde, die vor dem Ritterschen Buch den Vorzug der Warmherzigkeit und Plastik hätte. So bleibt es zu bedauern, daß Tendenzpartien wie die rücksichtslose Schwarzfärbung des alten Preußen und des Adels ein Buch, das ein so ausgezeichnetes Kapitel wie das über die Grundgedanken der Reform enthält, der dauernden Wirkung auch über das Gedenkjahr hinaus beraubt haben.

Von den beiden großen Publikationen des Steinjahres findet die von G. Winter bearbeitete Publikation der Preußischen Archivverwaltung über die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg in anderem Zusammenhang ihre Würdigung. An dieser Stelle ist dagegen die Edition des Briefwechsels, der Denkschriften und der Aufzeichnungen des Freiherrn vom Stein von E. Botzenhart ( 895) zu berücksichtigen. Der Herausgeber, dem wir gleichzeitig eine knappe, auf Grund seiner profunden Kenntnis des Stoffes souverän geschriebene biographische Skizze über Stein ( 896) verdanken, hat zum Gedenkjahr den ersten seiner auf sechs Bände berechneten Publikation herausgebracht, der bis zur Ernennung Steins zum Staatsminister reicht. Die auch im Äußerlichen monumentale Quellenausgabe will eine Sammlung aller schriftlichen Äußerungen Steins darstellen, soweit sie nicht ganz unwichtig und bedeutungslos sind. Dabei sind jedoch auch für solche biographische Strecken, für die sein persönlicher Briefwechsel und seine Denkschriften nicht ausreichen, d. h. besonders für die


S.368

früheren Jahre, Briefe an und über Stein, sowie die dienstliche Korrespondenz herangezogen worden. Die Ordnung des Stoffes ist chronologisch. Eine Einteilung nach Sachgruppen hätte die Zerstückelung der Briefe Steins, die den Hauptbestandteil der Publikation bilden, notwendig gemacht. Zugleich gewinnt der Leser durch die chronologische Anordnung den Vorteil, das Neben- und Ineinander der Probleme, die Stein jeweils beschäftigen, ungetrennt überblicken zu können. Natürlich muß nach fünfundsiebzig Jahren Steinforschung, die nach dem Erscheinen des Werkes von Pertz vergangen sind, so bedeutend die Nachlese Botzenharts ist, in seiner Publikation doch das schon Bekannte und Benutzte, wenn auch noch nicht Veröffentlichte, überwiegen. Aber auch der Wiederabdruck schon publizierter Stücke ist voll berechtigt: der Charakter der Publikation als eines literarischen Monumentes für den Reichsfreiherrn, als einer abschließenden Gesamtdarstellung Steins in Selbstzeugnissen erfordert die Ganzheit des Stoffes ohne Rücksicht auf frühere Veröffentlichung. Gerade der vorliegende Band enthält besonders viel des gänzlich Neuen. Er wird eröffnet durch die Briefe Steins und seiner Erzieher Salzmann und Christlieb an die Mutter aus Göttingen, die zum ersten Male von Ritter ausgiebiger benutzt wurden, eine Quelle von größter Bedeutung für die Lehrjahre Steins. Von noch größerem Gewicht ist eine Quelle, die auch Ritter noch verschlossen blieb: die Briefe an den Freund Graf von Reden, von denen der Band zunächst diejenigen aus der Zeit von Steins Tätigkeit in der Bergwerks- und Hüttenverwaltung bringt. Sie erschließen nicht nur die Herzensseite des äußerlich gemütskargen jungen Stein, sie enthalten auch ideengeschichtlich wichtige Äußerungen über die Französische Revolution und für die Wirtschaftsgeschichte bedeutendes Material über das Berg- und Hüttenwesen der Zeit. Zwei wichtige bisher noch unbekannte und unveröffentlichte Serien sind endlich die Briefe an den Schwiegervater von Wallmoden von 1792 bis 1796, hauptsächlich außenpolitischen Inhalts, und die Briefe an den Geh. Oberfinanzrat Sack, mit ihren Erörterungen über kommunale Sebstverwaltung, Kirchen-, Schul- und ständische Fragen von grundlegender Bedeutung für die Zeit der Organisation der Entschädigungslande durch Stein.

Von den kleineren Beiträgen zum Steinjahr sei hier vor allem der Aufsatz von F. Hartung ( 896) hervorgehoben, einmal wegen der schlagenden Formulierung des Kerns der politischen Gedankenwelt Steins: Freiheit für den einzelnen, nicht um des Individuums, sondern um der Gesamtheit willen, und Verbindung des einzelnen mit der Gesamtheit durch das Erziehungsmittel der Selbstverwaltung -- zum anderen wegen des entschiedenen Hinweises, daß Stein von dem Geist des Staates von Weimar eine Kluft trenne, ein Hinweis, der dem Sinn der offiziellen Steinfeiern des Jahres 1931 mutig entgegentrat.

Zu den Sternen zweiter Größe der Reformzeit gehört Johann Aug. Sack. Sein von W. Steffens herausgegebener und sorgfältig kommentierter Briefwechsel mit Stein und Gneisenau ( 899) enthält ganz überwiegend Briefe von ihm an jene beiden Helden der Erhebungszeit. Er umfaßt das Jahrzehnt von 1807 bis 1817. Eine ausführliche, lebendig geschriebene Einleitung des Herausgebers deckt die Ursprünge, die Wesenszüge und die Lebensumstände Sacks auf und zieht die Linien nach, die ihn mit Stein und Gneisenau verbinden. Sack war in erster Linie ein Mann der Verwaltung, sein Bild stellt sich zuerst in einer Reihe mit Vincke, Schön und Merckel als einer der vier »großen Oberpräsidenten« dar. In seinen politischen Anschauungen steht er zwischen Stein und Hardenberg; St.


S.369

charakterisiert sie als Synthese »aus überkommenen Gedanken der Aufklärung, modernen französischen Revolutionsideen, englischen Einflüssen und altem deutschen und heimischen Erbgut«. -- Der französische General René Tournès analysiert in seiner kriegsgeschichtlichen Studie über den Frühjahrsfeldzug von 1813 und die Schlacht bei Lützen ( 889) auf über 400 Seiten auf Grund von Akten der Pariser Archive und des Wiener Kriegsarchivs die Operationen vom 17. April bis zum 2. Mai, die zur Schlacht bei Lützen führten, welche Napoleon über die Siege bei Austerlitz, Jena, Friedland und an der Moskwa stellte. Die Darstellung wird unterstützt von 11 großen Plänen.

Die Zusammenstellung der Briefe über die Flucht des Prinzen von Preußen nach England im März 1848 durch C. v. d. Ahé ( 930) endet mit dem Ergebnis, daß alle diese zeitgenössischen und späteren Erzählungen sich in kaum aufzulösender Weise widersprechen. -- Eine sehr wichtige Quelle für 1848 hat Karl Schwingel durch die Herausgabe der Briefe des Kaplans J. A. J. Hansen aus der Preußischen Nationalversammlung ( 931) der Forschung zugänglich gemacht. Hansen, der auch persönliche Beziehungen zu Friedrich Wilhelm IV. hatte, war Abgeordneter des Saarländischen Kreises Ottweiler, stand ursprünglich sehr weit auf der Linken und schloß sich dann an Rodbertus an, über den denn auch manches Wichtige von ihm berichtet wird. Die Briefe umfassen die Zeit vom 24. Juli bis 6. Dezember 1848 und stellen eine völlig zusammenhängende Serie von tagebuchartigen Aufzeichnungen über die Parlaments-, Tages- und Parteienereignisse aus Berlin und Brandenburg dar, den Schluß bildet ein großer zusammenfassender Rechenschaftsbericht des Abgeordneten für seine Wähler. Der Herausgeber hat für die Sammlung eine politische, E. Nick eine biographische Einleitung geschrieben.

Christian Friese untersucht auf einer breiten Grundlage deutscher und russischer Quellen, unter denen als besonders wichtig die vom Verfasser aufgefundenen und im Auszuge veröffentlichten Schreiben Gortschakows an die württembergische Kronprinzessin Olga Nikolajewna hervorzuheben sind, die kritische Periode der preußisch-russischen Beziehungen vom Krimkrieg bis zum Polenaufstand von 1863 ( 965). Der Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Schilderung der Neuorientierung der russischen Politik unter Alexander II. am Ausgange des Krimkrieges nach dem Zusammenbruch des Systems Nikolaus I. Preußens schwankende Haltung im Krimkrieg, Gortschakows Tendenzen zu einem russisch-französischen Bündnis -- der Entwicklung seiner politischen Gedankenwelt ist ein besonderer Abschnitt gewidmet --, der italienische Krieg von 1859, bei dem die Annäherung Rußlands an Frankreich tatsächlich zu einer vorübergehenden russisch-preußischen Spannung führt, und die liberale Polenpolitik Rußlands sind die Momente des Auseinandertretens beider Staaten, Bismarcks Gegenwirkung als Gesandter in Petersburg, der polnische Aufstand und die Art, wie Bismarck ihn für Preußen zu benutzen versteht (Alvenslebensche Konvention) und endlich die Politik Napoleons III. im Frühjahr und Sommer 1863 führen dagegen Rußland wieder zur Politik der Solidarität konservativer Interessen zurück. Der große Wert des Buches von Friese beruht neben seiner gründlichen Detailforschung auf dem Nachweis, daß das traditionelle Bild von der Kontinuität der preußisch-russischen Freundschaft seit den Befreiungkriegen aus der Nähe gesehen nicht den Tatsachen entspricht und daß dieses Freundschaftsverhältnis durch Bismarck neu begründet werden mußte.


S.370

Der zweite Band der von Johannes Schultze herausgegebenen Briefe Kaiser Wilhelms I. an Politiker und Staatsmänner ( 954), der die Jahre 1854--1869 umfaßt, unterscheidet sich von dem ersten dadurch, daß in der Adressatenliste die politischen und militärischen Freunde aus der prinzlichen Zeit mehr und mehr zurücktreten und seit der Übernahme der Regierung fast ausschließlich Schreiben amtlichen Charakters übrigbleiben. Dabei ist naturgemäß die neue Ära mit den Briefserien an Rudolf von Auerswald und August v. d. Heydt stärker vertreten als die Konfliktszeit: unveröffentlichte an Bismarck gerichtete Briefe konnte der Herausgeber nur noch drei beibringen, sämtlich von nicht erheblicher Bedeutung. Von einer Reihe von Korrespondenten sind auch Schreiben an den König herangezogen worden, unter diesen sind von Wichtigkeit die Berichte v. d. Heydts am Vorabend des Ministeriums Bismarck, besonders der Bericht vom 19. September 1862 über die Abdankungsfrage. Der Herausgeber hat den Band wiederum mit einer kurzen Einleitung versehen, die für die Briefe den politischen Hintergrund umreißt.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)