§ 5. Allgemeines zur deutschen Geschichte und Gesamtdarstellungen

(P. Sattler)

»Eine deutsche Geschichte«, die von den altgermanischen Zeiten bis auf unsere Tage reicht, legt ein bekannter Schriftsteller, Wolfgang Goetz, vor. Die betont unakademische und ungelehrte Einstellung, die ausgesprochen personalistische Auffassung, manch sachlicher Fehler und noch häufiger, schiefe, ja geradezu bizarre Darstellungen erinnern an »historische Belletristik«. G. unterstreicht ausdrücklich seine bewußt subjektive Haltung, die nicht dadurch zum Ausdruck kommt, daß er die deutsche Geschichte unter einem bestimmten politischen oder religiösen Gesichtswinkel betrachtet, sondern die in der Beurteilung jeder einzelnen Begebenheit, in einer fast launischen Stoffauswahl zum Ausdruck kommt. Eine grundsätzliche Einstellung zum Thema fehlt durchaus; diese deutsche Geschichte ist nicht getragen von beherrschenden Leitideen, sie ist stellenweise mehr Chronik als Geschichte, sie löst den Gang der Entwicklung auf in ein Kommen und Gehen, in ein Hin- und Herwogen von großen und kleinen Dingen. Einzelne Charakteristiken sind auch gut gelungen, aber


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es sind nur wenige, die wirklich treffend sind und diese entschädigen nicht für eine Unmenge völlig verfehlter Darstellungen ( 154). -- »Wege deutscher Kultur« (Hanseatische Verlagsanstalt) nennt A. Weise sein gut ausgestattetes Buch; seine Darstellung setzt ein mit den Forschungsergebnissen von H. Wirth und endigt mit einem Zitat aus Moeller van den Brucks Drittem Reich. Titel und Vorwort deuten an, daß es dem Verf. nicht darauf ankam, eine deutsche Kulturgeschichte zu schreiben; W. will vielmehr den Leser an die ursprünglichen Quellen deutschen Volkstums führen und diese geschichtlich erläutern. In bunter Fülle läßt er verschiedene Quellenproben über die geistige, wirtschaftliche und materielle Kultur an uns vorüberziehen und verbindet diese zu einer Darstellung unseres politischen Schicksals im Wechsel der Jahrhunderte. Die Gliederung des Stoffes ist nicht eben einheitlich, die Erzählung springt häufig etwas unvermittelt von einem Gegenstand zu einem ganz entfernten. Doch als Lese- und Quellenbuch für weitere Kreise wird dieses in seiner Tendenz begrüßenswerte Buch seinen Zweck erfüllen. -- Der zweite und abschließende Band von Gebhardts Handbuch ist bereits im vorigen Jahresbericht besprochen worden ( 153). Es sei aber noch einmal darauf hingewiesen, daß dieser Band den Anforderungen der heutigen Wissenschaft mehr Rechnung trägt als der erste Teil. Die deutsche Geschichte von 1740--1815 ist von M. Braubach völlig neubearbeitet, G. Schuster hat die Abschnitte über die neuere und neueste Geschichte sorgfältig betreut. --

Steinacker ( 155) nimmt in einem sehr gehaltvollen Vortrag die von Srbik erhobene Forderung nach einer gesamtdeutschen Geschichtsbetrachtung noch einmal auf. St. erneuert den Gedanken einer politischen Historie, die die Vergangenheit nach den Wünschen und Erwartungen, die sie an die Zukunft stellt, beurteilt. Er verbindet damit bewußt die Formung seines geschichtlichen Bildes und Urteils mit einer Schau in die Zukunft. Mir scheint diese Begründung einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung in der Tat die einzig richtige zu sein; denn es läßt sich nicht wegdisputieren, daß es eine gesamtdeutsche Geschichte in der Neuzeit nur als Aufgabe, aber nicht als Wirklichkeit gegeben hat. Srbik hatte die Frage offen gelassen, welche historische Einheit denn der Träger der von ihm geschauten Entwicklung gewesen sei. Steinacker gibt darauf eine eindeutige Antwort, indem er die staatliche Betrachtung der Vergangenheit aufheben will durch eine Geschichtsauffassung, die vom Volk und Volkstum ausgeht. -- Die sichtbare Pflege von historischen Erinnerungen gehört zu den Aufgaben, die die Geschichtswissenschaft eng mit dem Leben der Nation verbindet, und es war deshalb sehr begrüßenswert, daß P. Herre ( 156) zum 100. Gedenktag der Gründung von Walhalla durch Ludwig I. eine eigene Schrift herausgegeben hat, in der er unter Achtung der Beweggründe des königlichen Erbauers eine den heutigen Verhältnissen und dem Fortgang der geschichtlichen Forschung entsprechenden Umgestaltung dieser Weihestätte fordert. Geldner ( 156) bespricht diese Anregungen Herres; auch er kann die vornehmlich durch Ludwig I. getroffene Auswahl nicht billigen; doch tritt er sehr mit Recht dafür ein, daß es nicht an der Zeit sei, eine grundsätzliche Änderung in dem Augenblick, in dem mit der völligen Umgestaltung unseres staatlichen Lebens auch das Verhältnis der Nation zu ihrer Vergangenheit schwankend geworden sei, vorzunehmen.

An dieser Stelle müssen wir noch zwei Werke besprechen, die an sich


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nicht der deutschen Geschichte gewidmet sind, die aber deutsche Verhältnisse weitgehend berühren. Das Sammelwerk, das P. R. Rohden ( 149) gemeinsam mit G. Ostrogorsky herausgegeben hat, enthält gut zu einem Fünftel biographische Würdigungen von Gestalten aus der deutschen Geschichte. Das gesamte Werk enthält Schilderungen von ungefähr 170 Persönlichkeiten, von Herrschern und Staatsmännern, von Staatsdenkern und Religionsstiftern, aus den entferntesten Zeiten, in denen Sage und Mythos sich um eine historische Gestalt rankt, bis auf unsere Tage, die noch den Ereignissen viel zu nahe stehen, um den richtigen Abstand gegenüber einer selbsterlebten Persönlichkeit zu haben. Alle Kulturvölker, mit Ausnahme der Chinesen und Inder, sind vertreten; auffällig viele Slaven und Orientalen finden wir behandelt. Nach einem leitenden Einteilungsgrund oder Auswahlprinzip suchen wir vergebens; die Einleitung: Persönlichkeit und geschichtliche Welt, ist ein auszugsweiser Abdruck einer bereits vor 15 Jahren veröffentlichten Abhandlung. Die einzelnen Beiträge sind naturgemäß ungleichwertig und in der Beurteilung der Persönlichkeit ungleichartig; doch sind fast durchweg erste Sachkenner gewonnen worden -- darunter ein Drittel Ausländer. Der Hauptwert einer solchen Sammlung besteht in der Verbreitung historischer Kenntnisse; wie gut der Geschmack des lesenden Publikums getroffen ist, zeigt die Tatsache, daß nach Jahresfrist bereits eine vermehrte und verbesserte Auflage erscheinen konnte. In dieser 2. Auflage ist das personale Prinzip gegenüber dem welthistorischen eingeschränkt, indem Abschnitte über die Geschichte einzelner Zeiträume den Biographien vorangestellt sind. --

Rosenstocks gedankenreiches Buch ( 151) mag gerade im Gegensatz zu dem eben besprochenen als ein Beispiel einer universalhistorischen Gesamtüberschau über die letzten 1000 Jahre abendländischer Geschichte angeführt werden. Das Werk enthält so viele originelle Gedanken, daß es mir geboten scheint, diese in ihren Grundzügen kurz wiederzugeben, wenn auch die deutsche Geschichte keineswegs im Mittelpunkt der Betrachtungen steht. Jedes der 6 führenden europäischen Völker hat einmal eine Totalrevolution erlebt, die seine Wesensart geformt hat. Diese Revolutionen sind einmalig und folgen rhythmisch aufeinander. Sie richten sich jedesmal gegen die Idee und die soziale Schicht, die in der vorhergehenden Umwälzung zum Siege gelangt ist. Italien erlebte als erstes Land unter der Führung der Päpste und Kirchenfürsten im Investiturkampf eine solche Umwälzung. Gegen die Papstkirche wandte sich die deutsche Reformation, in deren politischen Auswirkungen die weltliche Obrigkeit (der hohe Adel), zur Macht kam. In der englischen Revolution des 17. Jhds. erlangte die Gentry, der niedere Adel, den Sieg über die Obrigkeiten, eben der Stand, der in der französischen Revolution durch den »Tiers Etat« entthront wird. Der Gegenstoß gegen die Bourgeoisie ist die Machtergreifung der proletarischen Bauern und Arbeiter in Sowjetrußland im J. 1917. Diese Grundgedanken werden nach vielen Richtungen vergleichender Geschichtsbetrachtungen, hauptsächlich in bezug auf Sozial- und Ideengeschichte, entwikkelt. In der Kühnheit der Vergleiche, oft auch in Schematisierung der Tatsachen wird man an Spengler erinnert; aber gegenüber jeder Kritik bleibt ein imponierender Wurf des Ganzen bestehen, der wohl durch eine wesentlich knappere, und weniger abschweifende Führung des Gedankengangs sehr viel plastischer herausgearbeitet wäre. -- Aus der reichen Literatur über die Grenzlandsfragen


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sei nur der Vortrag von Aubin ( 158) erwähnt, der durch die Jahrhunderte das Wider- und Zusammenspiel von Sprache und Kultur einerseits und Staat und Macht anderseits an der deutschen Westgrenze, und zwar vom Meere bis zu den Alpen, verfolgt. Die staatliche Macht hat nie ihre Ziele nach den Forderungen der Nationalitätsgrenze gerichtet; für Frankreich war die Sehnsucht nach der Rheingrenze, für Deutschland die Sicherheit der bestimmende Beweggrund seiner Politik. Auf das durchweg duldsame Gewährenlassen gegenüber Sprachminderheiten im MA. bis in die Neuzeit folgte erst mit dem französischen Absolutismus und Zentralismus die bewußte Anwendung staatlicher Gewalt zur Erreichung einer sprachlichen Einheit im französischen Reich. Obwohl A. grundsätzlich nichts Unbekanntes sagt, verdienen seine Ausführungen wegen der klaren Gedankenführung und der politischen Folgerungen besondere Aufmerksamkeit.


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