II. Historische Geographie und Siedlungskunde.

Die Vorarbeiten zum Historischen Atlas von Hessen und Nassau haben wieder eine wesentliche Förderung erfahren. Außer der jetzt vollständig erschienenen Arbeit von Bruchmann ( 392) liegen noch Teildrucke verschiedener Dissertationen vor. In dem von Br. behandelten Gebiet haben schon früh nachweisbare territoriale Bildungen, wie überhaupt die große Zersplitterung und die verhältnismäßig bedeutende Selbständigkeit des Adels Einfluß auf die Ämterentwicklung gehabt. Die Feststellung der Grenzen ist durch den Mangel an Grenzbeschreibungen sehr erschwert. Auch Schroeder-Petersen ( 395) macht die Beobachtung, daß die auffällige Verschiedenheit der Entwicklung des Amtes Schartenberg von der des früh zu einem Ganzen zusammengefaßten Amtes Wolfhagen im letzten Grunde auf die größere Unabhängigkeit des Adels zurückzuführen ist. Interessant ist ihre Feststellung, daß die Verwaltungsorganisationen im ersten Drittel des 19. Jhds. »den Zusammenhang mit der unmittelbar vorhergehenden historischen Entwicklung zerrissen«, aber »um so auffälliger eine Ähnlichkeit mit den Verhältnissen des 12. u. 13. Jhds. haben hervortreten lassen«. -- M. Eisenträger ( 394) weist nach, daß für den Kern Hessens, das Gudensberger Tal und das Kasseler Becken, der Kontinuität der Besiedlung durch ein Volk, das sich von der Steinzeit an dort nachweisen läßt, auch die verfassungsmäßige Einheit entspricht. Die Bezirke der beiden Hundertschaftsgerichte Maden und Ditmold, in die das Gebiet zerfällt, lassen sich aus den


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Archipresbyteraten Fritzlar und Ditmold erschließen. Die Einheit der Grafschaft Hessen, deren Umfang sich mit dem Archidiakonat Fritzlar deckt, blieb auch im 11. Jhd. dank dem Einflusse der wernerischen Grafen auf die Immunitäten gewahrt. --Lotzenius ( 393) gibt unter Heranziehung der vorgeschichtlichen Spuren, der Ortsnamen und urkundlichen Belege eine sorgfältige Darstellung der Besiedlung der Landschaften an der Wettschaft und oberen Eder, wobei die erstere als sehr alter geschlossener Siedlungsraum erscheint. Besonders hinzuweisen ist auf seine Beachtung der Marken und die Erklärung der im Edergebiet häufig auftretenden mit Personennamen zusammengesetzten Ortsnamen auf --hausen, die er mit dem »großen sächsischen Vorstoß nach Süden, der durch die Dynastie der Ottonen auf der gesamten Stammesgrenze vom 10. Jhd. ab ausgelöst wurde«, in Zusammenhang bringt. Weiter kommt er zu dem Ergebnis, daß die Grenze zwischen Lahn- und Hessengau durch die Wasserscheide von Lahn und Eder gebildet wurde. Zent und Sedes haben sich hier nirgends gedeckt. Für die Ermittelung der Zenten zieht er die geographischen Verhältnisse heran und glaubt für beide Landschaften nur je eine Urzent, die übrigen nachweisbaren Zenten als spätere Bildungen feststellen zu können. Seine Ausführungen über die in der Zeit der Kämpfe der Staufer und Welfen gebildete Territorialgrafschaft Stiffe und ihre Besitzer, die Grafen von Witgenstein und Battenberg, über deren genealogischen Zusammenhang mit einer Reihe Adelsgeschlechter vermutlich sächsischen Ursprungs, und ihr Verhältnis zum Reich, zu Mainz und den Landgrafen von Hessen verdienen Beachtung. --

Müller ( 389) erkennt die Richtigkeit der von Buxbaum (Jberr. 1929, Nr. 414) festgestellten Grenzen der Marken Michelstadt und Heppenheim an. Sein Verdienst ist es, weiter die Folgerungen für den Verlauf der Grenze der hier zusammenstoßenden Gaue (Lobdengau, Oberrheingau und Wingerteiba) gezogen zu haben. -- G. Bernhard ( 390) hat sich für ihre Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Landschaft in Rheinhessen ein für diesen Zweck wegen seines durchaus einheitlichen Charakters sehr geeignetes Gebiet ausgesucht. Die Begrenzung auf den nördlichen Teil ermöglicht ihr die Heranziehung eines vielseitigen Materials. Die auf vorsichtiger Benutzung von Flurnamen beruhende Rekonstruktion der ursprünglichen Waldbedeckung läßt eine für die Besiedlung bedeutungsvolle Waldarmut erkennen. Die Siedlungsentwicklung ist, bei der Unmöglichkeit weiteren Landausbaus im MA., schon um 1200 abgeschlossen. Die Sonderstellung dieser alten Kulturlandschaft erblickt die Verfasserin darin, daß sie »in ihrer Totalität urbanisiert« erscheint, d. h. daß »das Leben auf dem flachen Lande in weitgehendem Maße dem städtischen angeglichen« ist. Außer ausgezeichnetem kartographischen Material enthalten die Anlagen dieser sorgfältigen Arbeit u. a. einen Katalog der prähistorischen Funde, Tabellen zur Ortsgeschichte, Verzeichnisse von Wüstungen und Dorfbefestigungen. --Regel ( 391) zeigt, daß bei der Entwicklung der Städte Wetzlar und Herborn, die in einem Raume entstanden sind, der alle natürlichen Bedingungen als Siedlungsgebiet aufzuweisen hatte, auch in geschichtlicher Zeit geographische Momente (Ortslage, Marktlage, Fernverkehrslage) am stärksten fördernd gewirkt haben, während Dillenburg, das seine Gründung hauptsächlich militärisch-politischen Gründen verdankt, seinen Aufstieg erst erlebte, als »ein neuer Machtfaktor: der Fürstenwille« wirksam wurde. An Einzelheiten seien vermerkt die Verwendung der Wortgeographie


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bei der Feststellung des Marktbereichs der Städte, die Untersuchung über die Straßen des Gebiets und die Behandlung der Wüstungsfrage im Zusammenhang mit dem Wachstumsvorgang der Städte. -- Um die Vielgestaltigkeit des deutschen Städtewesens begreifen zu lehren, vergleicht Aubin ( 171) von hoher Warte aus zwei Städte, die bei gleichen Lebensbedingungen doch eine vollkommen verschiedene Entwicklung zu verzeichnen haben. Als Römer- und Bischofstadt behauptete Mainz bis ins hohe MA. den Vorrang vor Frankfurt a. M. Der dann einsetzende Umschwung zu Gunsten Frankfurts hat seine Gründe in dem »Unterschied der politischen oder Rechtsstellung« beider Städte, in der »Ostbewegung unserer Geschichte« und nicht zuletzt in der Last, die Mainz als Festung zur Verteidigung des ganzen deutschen Volkes gegen die Angriffe von Westen seit Jahrhunderten schicksalhaft hat tragen müssen.

Meyer ( 388) gibt rein statistisch ein nach Landkapiteln geordnetes Verzeichnis der Pfarr- und Filialorte mit Angaben über »das Patrozinium, das erste urkundliche Vorkommen der Kirche bzw. Pfarrkirche, die Entwicklung des Patronats der Pfarr- und niederen Pfründen und die Zehntverhältnisse«. Beigegeben ist eine Karte mit Angabe der Orte und der Grenzen der kirchlichen Organisationen bis zum Landkapitel herab.


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