I. Gesamtgebiet und Territorien.

Zu begrüßen ist der Erscheinungsbeginn einer allgemeinen, laufenden »Westfälischen Bibliographie« ( 30); bearbeitet in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, sucht sie das gesamte westfälische Schrifttum, einschließlich Natur und Technik, zu erfassen, wobei besonderer Wert auf die Ausschöpfung der periodischen Veröffentlichungen Westfalens, darunter auch der Tageszeitungen und der Heimatblätter, gelegt ist. Die Erscheinungsweise als ständige Beilage einer in kurzen Abständen herauskommenden Zeitschrift ist zwar der Übersichtlichkeit abträglich, beschleunigt andererseits aber die Berichterstattung. -- Des zweiten Bandes der »Westfälischen Lebensbilder« ( 44) ist hier nur summarisch zu gedenken; in der Reihe der darin enthaltenen 29 Biographien sind vertreten Abt Sturm von Fulda ( 1573), der Minorit Dietrich Coelde, auch Dietrich von Münster genannt ( 1617), der Humanist Murmellius, der Ordensmeister und erste Herzog von Kurland Gotthard Kettler, dann aus der Zeit der Fremdherrschaft und der Erhebung Blücher, Stein, der Oberpräsident Vincke ( 901) und die Fürstregentin von Lippe, Pauline von Anhalt-Bernburg, denen sich weiterhin Bischof Ketteler von Mainz ( 1682), der Straßburger Oberpräsident von Möller ( 1323) und die Historiker Ficker ( 87) und Scheffer-Boichorst ( 90) anreihen.

Im Rahmen des von der westfälischen Provinzialverwaltung im Zusammenhang mit den Bestrebungen zur Neugliederung des Reiches herausgegebenen Werkes »Der Raum Westfalen« hat es Aubin unternommen, die Entwicklung des Begriffes »Westfalen« vorzuführen ( 172), die Wandlungen dieser Raumvorstellung zu untersuchen und deren Abhängigkeiten klarzulegen, in ganz ähnlicher Weise, wie er für die Rheinlande es 1926 in dem Werke »Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden« durchgeführt hatte. Er unterscheidet vier Hauptetappen in dieser Metamorphose: Ausgangsstellung ist das westfälische Stammesdrittel des Sachsenvolkes, ein Gebilde, in dem A. eine militärische Organisationsform aus der Zeit der Kämpfe mit den Franken sehen möchte, die nur von kurzer Lebensdauer war. Weder bei der politischen Neuordnung des Landes noch bei seiner kirchlichen Gliederung haben die Franken daran angeknüpft. Trotzdem ist der Name und der Begriff Westfalen nicht in Vergessenheit geraten und untergegangen, wie es mit Engern geschah; vielmehr dehnte er sich auf des letzteren Kosten im 12. Jhd. aus, so daß seitdem die Weser als seine Ostgrenze empfunden wurde. Eine bestimmte politisch-institutionelle Ausprägung hat dieser neue Westfalenbegriff nicht erfahren; seine Geltungsperiode fällt mit dem Zeitalter der Territorien zusammen. Wohl aber zeigen sich überterritoriale, gesamt-westfälische Gemeinsamkeiten, namentlich auf kulturellem Gebiete, und Äußerungen eines Zusammengehörigkeitsgefühls, die Westfalen in diesem Umfang als einen einigermaßen abgeschlossenen Kulturraum erscheinen lassen. Durch die Bildung des Niederrheinisch-westfälischen Reichskreises ist eine weitere Konsolidierung und stellenweise sogar Erweiterung dieses jüngeren Westfalenbegriffs, der selbst die Abgrenzung des Kreises, namentlich gegen Osten, mitbestimmt hatte, eingetreten. Der Einschnitt war aber kaum so tiefgehend, daß man von einem »dritten Westfalen« sprechen sollte, wie es Aubin tut. Einschneidender war der Abschluß, den die territorialpolitischen


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Gegensätze auf westfälischem Boden zwischen Preußen, Hannover und den von Köln (= Habsburg) geführten geistlichen Staaten durch die Wiener Kongreßakte fanden: Westfalen wurde unter Preußen, Hannover und Oldenburg geteilt. Der Westfalenbegriff wurde seitdem durch die preußische Provinz Westfalen verkörpert und zunehmend auf sie konzentriert. Das Bewußtsein näherer Zusammengehörigkeit ist jedoch auch in den außerpreußischen Gebietsteilen bis heute nicht erstorben. Bei der Annexion Hannovers im J. 1866 wurde, wie A. Schulte in einem Sonderbeitrag desselben Werkes ausführlicher darlegt, preußischerseits im Einklang mit Wünschen der Bevölkerung die Vereinigung der altwestfälischen Gebiete Hannovers mit der preußischen Provinz Westfalen ernstlich erwogen. Weitere Sonderuntersuchungen, deren Ergebnisse Aubin z. T. bereits hat verwerten können, stehen noch aus; eine kritische Betrachtung der Einzelheiten verbietet sich darum fürs erste noch. In den entscheidenden Zügen ist das von Aubin entworfene Bild, eine an Gedanken und Anregungen reiche Konzeption, gewiß zutreffend. Nur scheint mir durch die Unterscheidung von vier Stufen des Westfalenbegriffs die einheitliche und kontinuierliche Linie, die in dem ganzen Prozeß zu erkennen ist, etwas verdunkelt zu sein. Auch kommen bei der vorwiegend auf das Kulturelle abgestellten Betrachtungsweise weder die natürlichen Bedingungen, noch die volksmäßigen Grundlagen voll zur Geltung neben den institutionellen Schöpfungen. Die Hypothese von dem Ursprung des ältesten »Westfalen« aus einer sächsischen Heeresgruppe vermag das Fortleben z. B. als Rechtsgemeinschaft nicht genügend begreiflich zu machen; eine offene Frage ist, wie es zum Verschwinden von Engern und zur Ausdehnung Westfalens bis zur Weser kam. Die wohl an den rheinischen Verhältnissen gewonnene Anschauung, daß in den Jahrhunderten nach Karl d. Gr. die von ihm eingerichteten Kirchensprengel »die maßgebenden Organisationsräume für die meisten Äußerungen des Volkslebens« waren (so S. 9), bedarf für Westfalen noch näherer Veranschaulichung.

O. Schnettler ( 1289; nicht Edw. Schröder!) wendet sich gegen die Neigung älterer Forscher, die verschiedenen im 11. und 12. Jhd. bezeugten »Grafen von Westfalen« einem einzigen Geschlecht, mit Vorliebe dem der Grafen von Werl, zuzuzählen; sie sind vielmehr auf eine ganze Reihe von Familien zu verteilen, entsprechend der großen Anzahl und der geringen Ausdehnung der Grafschaften, deren Grenzen wahrscheinlich in denen der Freigrafschaften nachwirken. -- Ein Büchlein von Rud. Dolle (Hathemareslo = Ibbenbüren im Jhd. der Kreuzzüge, 96 S.) beschäftigt sich ausgiebig in weitgespannten, meist recht phantasievollen Gedankengängen mit dem Diplom Lothars von Supplinburg für Klarholz (D. Lo. III. 58); dabei fallen ein paar brauchbare Körnchen für die Geschichte der Herren von Ibbenbüren ab. -- Die Erwerbung der Herzogsgewalt in Westfalen beim Sturz Heinrichs des Löwen wurde nach den Studien Wredes, deren Ergebnisse er in einem Vortrag gedrängt zusammengefaßt hat ( 740), der Ausgangspunkt einer neuen Phase der kölnischen Territorialpolitik in Westfalen. Hatte bis dahin Kölns Stellung auf dem Besitz einiger wichtiger Höfe (Soest, Werl u. a.) und weniger Gografschaften beruht, so richtet sich seit Philipp von Heinsberg das Bestreben der Erzbischöfe darauf, sich möglichst viele feste Stützpunkte zu sichern und zu schaffen, wofür das herzogliche Burgbaurecht eine förderliche Hilfe bot. So gelang es, die Fäden der kölnischen Herrschaft bis an die Weser und die untere Diemel zu


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erstrecken; ein dabei zutage tretendes Streben nach Beherrschung wichtiger Straßenzüge mag ebenfalls mit wesentlichen Herzogsrechten (wie Straßenschutz, Zoll und Geleit) in Zusammenhang zu bringen sein. Zur wirklichen Territorialbildung kam es jedoch nur auf viel beschränkterem Raume im südlichen Westfalen in Anlehnung an Gografschaften und an alten Grundbesitz, während die Außenposten nach und nach aufgegeben werden mußten. Auch das so entstandene »Herzogtum Westfalen« wurde durch das Emporkommen der Grafen von Berg und von der Mark und ihren erfolgreichen Kampf gegen das Erzbistum schon seit dem 13. Jhd. in die Rolle eines Nebenlandes herabgedrückt. -- Entscheidend für den Bestand des Bistums Münster als geistliches Fürstentum war die Wahl des Herzogs Ernst von Bayern zum Bischof i. J. 1585, ein Erfolg der katholischen Partei und zugleich Spaniens, für das Münster als Flanke gegen die Niederlande wichtig war, ähnlich wie später, zusammen mit Köln, den Habsburgern als Rückhalt für ihre Stellung in Belgien (vgl. W. Lüdtke in Nr. 870); Heger ( 808) hat die im Meinungsstreit über die raumgeschichtliche Entwicklung Nordwestdeutschlands meist zu niedrig eingeschätzte politische Bedeutung Münsters richtig gesehen und herausgestellt. Mehrjährigen Streites mit dem auf Neutralität bedachten Domkapitel bedurfte es freilich noch, ehe Ernst, seit 1583 bereits Erzbischof von Köln, die Stiftsregierung in eigene Hand nehmen konnte. Während die außenpolitische Abhängigkeit von Spanien das Land in schwere Bedrängnis stürzte, wurde im Innern die kirchliche Restaurationspolitik aufgenommen, die durch die Niederlassung der Jesuiten in Münster, die Veranstaltung einer Visitation ( 1592), die Einsetzung eines Geistlichen Rates ( 1601) und durch die Reform der geistlichen Gerichtsbarkeit ( 1603) gekennzeichnet wird. In enger Verbindung damit kommt es zu Eingriffen in die Selbständigkeit des Domkapitels und der Städte, als ersten Schritten zur Stärkung der Fürstenmacht im absolutistischen Sinne. Leider hat Heger die lokalen Auswirkungen und Erfolge der Rekatholisierungsmaßnahmen nicht näher untersucht und den Zusammenhang mit den parallelen Vorgängen in Köln (vgl. Weiler Nr. 1699) übersehen.


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