IV. Kirchen- und Bildungsgeschichte.

Dresbachs Kirchengeschichte der beiden preußischen Westprovinzen ( 1609) will in erster Linie belehren und unterrichten, und zwar durch nüchterne Mitteilung des rein Tatsächlichen. Der sachkundige Leser wird in dem umfangreichen Material, das darin zusammengetragen ist, manche Fehler und Lücken bemerken und auch sonst an nicht wenigen Punkten Anstoß nehmen; denn namentlich in den mittelalterlichen Abschnitten zeigt sich verschiedentlich eine nicht ausreichende Bekanntschaft des Verfassers mit dem neueren Stande der Forschung. Am besten vertraut ist ihm sichtlich die evangelisch-kirchliche Entwicklung in Westfalen und auch am Niederrhein, wie überhaupt das Werden und die eng verbundenen Geschicke der evangelischen Kirche in Rheinland und Westfalen dem ganzen Werk die Hauptrichtung geben. -- In einem starken Bande legt Gemmeke ( 1618) die Früchte jahrelanger Beschäftigung mit der Geschichte des Stiftes Neuenheerse vor. Seine Darstellung folgt der Reihe der Äbtissinnen und ist stark durchsetzt von wörtlichen oder auszugsweisen Wiedergaben der Quellen, auf deren Sammlung und Mitteilung der Verfasser den Hauptwert gelegt hat (darunter ein bisher kaum beachteter bemalter Ablaßbrief von 1334 und ein Lehnregister von 1403). Der vielseitige Inhalt läßt sich nicht auf wenigen Zeilen umschreiben; ausdrücklich hingewiesen sei auf das darin enthaltene wirtschaftsgeschichtliche Material auch aus jüngerer Zeit (z. B. über industrielle Anlagen im 17. u. 18. Jhd.). Für die kirchliche Verfassungsgeschichte ist die 1803 angeordnete und auch durchgeführte Umwandlung in ein konfessionell gemischtes Stift von besonderem Interesse. --Bauermann ( 1628) räumt mit den bisherigen halblegendären


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Ansichten über die Gründung des Prämonstratenserstiftes Scheda, einer Tochter Kappenbergs, auf. Als Gründer sind nicht die Herren von Ardey, sondern die Edeln von Rüdenberg anzusehen; spätestens 1146 schon ist von Scheda aus das Wipertistift in Quedlinburg mit Prämonstratensern unter dem bisherigen ersten Schedaer Propst Gottfried besetzt worden. Damit wird auch die Behauptung hinfällig, der durch seine Schilderung der eigenen Bekehrung berühmt gewordene Jude Hermann von Kappenberg sei erster Vorsteher Schedas gewesen. -- Aus einigen von Wrede ( 780) mitgeteilten, bisher nicht verwerteten Urkunden und Aufzeichnungen läßt sich auf nahe Beziehungen Dietrichs von Nieheim zum Stift St. Marien in Lemgo schließen, die anscheinend durch Verwandtschaft mit Stiftsinsassen begründet sind. Auch zeigt sich, daß er sich 1386 nicht, wie von manchen angenommen, ständig in Italien aufgehalten hat: im Frühjahr ist er in der Paderborner Diözese bezeugt. -- Schon ein Jahrhundert nach der Gründung traten im Stift Kappenberg arge Mißstände auf, Anzeichen einer beginnenden Verweltlichung, die seit dem 15. Jhd., wie Pfeiffer ( 1703) aktenmäßig dartut, immer weiter fortschritt, ungeachtet aller von seiten des Ordens wie der münsterschen Bischöfe dagegen unternommenen Schritte; auch der adlige Charakter des Konvents blieb erhalten. Schwere Gefahr drohte dem Bestand des Stifts im Dreißigjährigen Kriege durch die hessische Besatzung -- ein hessischer Oberst wurde mit dem Stift belehnt -- und dann wieder 1770/73 durch Fürstenbergs Säkularisationsplan. Beide Male entging Kappenberg dem Schicksal der Aufhebung; erst 1802/03 wurde sie Tatsache. Daß das Stift reichsunmittelbar gewesen wäre, wie es nach dem Reichsdeputationshauptschluß scheint, trifft nicht zu.

Völker ( 1790) legt in quellenmäßig eingehend begründeter Form dar, wie in einem nördlichen Grenzbezirk des Bistums Paderborn (Steinheim, Marienmünster, Lügde) etwa gegen 1540 die Reformation eindrang und allmählich fortschreitend in fast allen Gemeinden festeren Boden faßte, bis im ersten Viertel des 17. Jhds. ziemlich rasch und ebenso allgemein der Rückschlag eintrat. Im Normaljahr 1624 hat sich nur noch die Kirche von Lügde in protestantischer Hand befunden; doch ist die Restitution nach dem Westfälischen Frieden unterblieben. -- Etwas problematisch erscheint der Versuch Benkerts, die religiössozialen und politischen Zwistigkeiten innerhalb der Bürgerschaft von Höxter, die zu der Rebellion von 1602 und zu ihrer Niederwerfung durch den Abt von Corvey mit braunschweigischer Hilfe und damit zu einem Erfolg des Katholizismus und zugleich Braunschweigs gegenüber Hessen führten, neu zu beleuchten ( 822). -- Die von Freisen veröffentlichte Matrikel der Paderborner Universität ( 1962) kann neben ihrer personengeschichtlichen Bedeutung auch als Maßstab der Kulturkraft des westfälischen Katholizismus seit der Gegenreformation gelten. Gegen die Mitte des 18. Jhds. offenbart sie den einsetzenden Niedergang der Universität, der bald rasche Fortschritte machte. Die Einleitung des Herausgebers skizziert knapp die Geschichte und Organisation der Theodoriana, ihres Vermögens und ihrer Sammlungen. Der etwas später erschienene 2. Band (Würzburg 1932) enthält biographische Angaben über die Immatrikulierten und einige ergänzende Quellen. Gegen die Zuverlässigkeit der Edition sind starke Einwendungen erhoben worden.

Die Entwicklung der beiden reformatorischen Bekenntnisse in der Grafschaft Mark und die Herausbildung des beiderseitigen Besitzstandes erfuhr


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durch Wilh. Noelle (Lutheraner und Reformierte in der Grafschaft Mark. Phil. Diss. Münster) eine übersichtliche, aber im einzelnen verbesserungsbedürftige Bearbeitung (vgl. Ed. Schulte in: Westfalen 19, 1934). -- Zum gleichen Thema bieten manches auch die meist recht nüchternen Briefe, die Wotschke aus seinem schier unerschöpflichen Portefeuille zu veröffentlichen begonnen hat ( 1791); unter ihnen stellen die von westfälischen Freunden und Schülern an A. H. Francke gerichteten den Hauptanteil. -- Besonders im Ravensbergischen hat der hallische Pietismus früh Fuß fassen können. Er hat dort der jüngeren Erweckungsbewegung eines Volkening vorgearbeitet, deren tiefgehender, das gesamte ländliche Gemeinschaftsleben erfassender Einfluß von Hagemann ( 568) kräftig herausgearbeitet wird. Der darin zutagetretenden Bedeutung des Religiös-kirchlichen für die ländliche Sozialethik entspricht die beherrschende Stellung, die der kirchlichen Gemeinde, dem Kirchspiel, gegenüber sonstigen Gemeinschaftsbildungen (z. B. der Dorfgemeinde) zukommt. -- Für Bathes Arbeit ( 1619) bildet das Kirchspiel nichts anderes als einen äußeren Rahmen. Ihr Hauptgegenstand ist der Wattenscheider (kath.) Armenfonds, über dessen Vermögen, Verwendung und Verwaltung (durch ein Konsistorium) sich die Verfasserin an Hand der Rechnungen bis in die kleinsten Einzelheiten verbreitet hat; bemerkenswert ist vielleicht, daß der Fonds sich dauernd als kirchliche Einrichtung erhalten hat, bis er 1809 durch die bergische Gesetzgebung in bürgerliche Verwaltung überführt wurde. Einleitend sind noch zwei andere mittelalterliche Stiftungen, ein Gast- und ein Leprosenhaus, kürzer behandelt, während nachmittelalterliche Schöpfungen, wie der lutherische Armenkasten, nur gestreift sind.

In dem Jubiläumswerk »Die Evang. Kirche in Nassau-Oranien« ( 1785) ist die ältere Zeit von 1530--1815, die H. Schlosser in einem guten Abriß schildert, hinsichtlich des Umfanges schlecht weggekommen gegenüber der anschließenden Periode von 1815--1930, die für das preußische Siegerland in so umfassender Art von W. Neuser zur Darstellung gebracht worden ist, daß sein Beitrag noch den zweiten Band (Siegen, Kreissynode 1933; S. 415 bis 628), der im übrigen der Entwicklung der nassauischen Kirche gewidmet ist und außerdem die umfangreichen Quellennachweise Neusers enthält, zu einem großen Teile füllt. Doch wird man diesen ebenso gründlichen wie ausführlichen Bericht, der u. a. zeigt, welchen Widerhall kirchenpolitische Vorgänge wie die Einführung der Union und der Agende im Siegerland gefunden haben und welche Wirkung die vom Wuppertal her eingedrungene Erweckungsbewegung unter ihren Führern Weisgerber u. T. Siebel ausgeübt hat, darum nicht minder willkommen heißen.


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