2. Paläographie.

Die St. Galler Handschrift 912, schon seit dem 18. Jhd. Gegenstand der Beobachtung, wird von Lehmann ( 441) einer erneuten Betrachtung unterzogen. Es handelt sich um die Palimpsesttexte aus der profanen Literatur der Antike. Lehmann bestimmt den Text in Kapitalschrift als Fragmente des Heauton Timorumenos des Terenz. Das Stück ist ins 4. Jhd., spätestens an die Wende zum 5. Jhd. zu setzen. Wir besitzen in dem von Lehmann nachgewiesenen Stück den Rest einer antiken Klassikerhandschrift, der wir von abendländischen Pergamentcodices nur wenige dem Alter gleich oder voranstellen können. Neben diesem Fragment existiert nur ein einziger antiker Terenzkodex, der sog. Bembinus der Vaticana. Die Varianten des Fragmentes beweisen die Güte des zertrümmerten Codex. -- Der zweite Teil von Lehmanns Ausführungen befaßt sich mit einem grammatikalischen Fragment in Unciale aus der zweiten Hälfte des 6. Jhds. Es handelt sich um Aelius Donatus de partibus orationis ars minor. Der Wert der Entdeckung liegt darin, daß in dem Sangallensis Fragmente der ältesten uns bekannten Donathandschrift gefunden worden sind; die bisher als die älteste Handschrift betrachteten Stücke liegen in der Mitte des 8. Jhds. -- Unter dem Donat stehen dann noch einmal Texte in Unciale des 5. Jhds., des weiteren finden sich Reste einer kleinen Kursive oder Kursivminuskel, die von einem gynäkologischen Rezeptbuch herstammen dürften. Alles in allem: die verschiedenen Schichten dieses Codex ter scriptus sind nun auseinandergehalten. -- Als Heimat des Stückes kommt Italien (Bobbio?) in Betracht.

Die Arbeit von Paul Maria Krieg ( 1599) wendet sich der bisher noch wenig bearbeiteten st. gallischen Schreibschule zu. Nachdem die Schreibzentren von Lyon, Lorsch, Verona, Benevent, Tours usw. festgelegt waren, drängte sich eine Erfassung des Scriptoriums der Abtei St. Gallen auf. Das Profeßbuch, dessen Text schon mehrfach veröffentlicht worden ist, hat eine besondere Bedeutung für die Schreibgeschichte St. Gallens. Denn die Profeßeintragungen der Mönche sind ein Niederschlag st. gallischer Schreibweise vom 9. bis 11. Jhd. Als das Profeßbuch angelegt wurde, hatte sich die karolingische Minuskel in St. Gallen noch nicht durchgesetzt; daher zeigen die ersten sieben Seiten den sog. »Rätischen Typus«. Die letzten Seiten leiten schon zu den gebrochenen gotischen Formen über. Die abschließende Würdigung des st. gallischen Scriptoriums im 9. und 10. Jhd. wird illustriert durch die vollständige


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Wiedergabe des Codex, dem noch eine Anzahl von Abbildungen von Urkunden beigegeben sind. Die Qualität der Tafeln ist vorzüglich.

Die Herkunft der sog. »Rätischen Schrift« auf Grund st. gallischer Quellen diskutiert Bruckner ( 207). Er stellt die Argumente auf, die für und gegen eine italienische Beeinflussung dieses Schrifttypus sprechen, ohne sich einstwei- len zu entscheiden; die Arbeit soll fortgesetzt werden. Aus den st. gallischen Urkundenbeständen sind 6 Stücke in guten Wiedergaben als Tafeln beigefügt.


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