4. Lokales.

Die st. gallische Geschichte ist durch eine Reihe von Neuerscheinungen bereichert worden. An die Spitze stellen wir die Arbeit von Henggeler ( 1598). Ausgehend von der Bedeutung der ma.lichen Professbücher gibt der Verfasser eine Geschichte der Abtei St. Gallen von den Anfängen bis zur Aufhebung 1798 resp. 1803. Die Personalien der einzelnen Äbte und Mönche werden zusammengestellt und zeigen den Wandel, der sich im Laufe der Zeit in bezug auf die Standesverhältnisse der aufzunehmenden Mönche ergeben hat: auch St. Gallen war einst ein freiherrliches Kloster, ging aber im Spätmittelalter von diesem Prinzip ab. Besonders dankenswert ist in diesem Werke die Zusammenstellung der Literatur zu den einzelnen behandelten Persönlichkeiten. Der Leser ist durch sie imstande, sich ein Bild der literarischen und wissenschaftlichen Tätigkeit der st. gallischen Konventualen zu machen.

Aus der Arbeit von Ganahl ( 1272) sei folgendes notiert. Das Kloster St. Gallen war ursprünglich unabhängig. Es wurde um 759/760 Eigenkloster des Bischofs von Konstanz, konnte sich aber von dieser Unterordnung befreien und wurde nach langwierigen Auseinandersetzungen um die Mitte des 9. Jhds. königliches Kloster. Ein besonderer Abschnitt des Buches ist der Entstehung der Ministerialität gewidmet, wobei der Verfasser zum gleichen Ergebnis wie Georg Caro kommt: die Ministerialen gehen in der Hauptsache aus dem Kreise der freien Hintersassen hervor. Im ferneren behandelt Ganahl die Frage der Entwicklung der st. gallischen Klostervogtei.

Die nächste Neuerscheinung zur st. gallischen Geschichte, von Ehrenzeller ( 776) ist eine auf den Quellen aufgebaute Darstellung der Geschichte von Stadt und Kloster St. Gallen im Spätmittelalter. Die Glanzperiode der Abtei im Hochmittelalter war vorbei und so setzt Ehrenzeller in breiterem Flusse mit dem 14. Jhd. ein. Die Stadt emanzipiert sich vom Kloster und erwirbt schließlich die volle Unabhängigkeit. Ehrenzeller bietet u. a. eine neue Darstellung des Appenzeller Krieges. Der vorliegende erste Band des Unternehmens reicht bis 1458.

Die dergestalt selbständig werdende Stadt besaß ein eigenes Archiv, das sich erhalten hat. Moser-Nef ( 1271) hat dieses Archiv weitgehend ausgebeutet und bietet in einer reichen Folge von Einzeldarstellungen die Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der freien Reichsstadt St. Gallen. St. Gallen brachte es nie zu einem größeren Territorium, die Stadt besaß aber ein reiches Innenleben, wofür das Buch von Moser-Nef die Belege liefert.


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Im Kampf um die Landeshoheit im Domleschg erblickt Liver ( 1269) nicht bloß die machtpolitische Auseinandersetzung zwischen zwei Feudalherren, sondern eine Phase der Entwicklung vom Feudalismus zur Demokratie. Die starke Erschütterung, welche die feudalherrliche Stellung der Grafen von Werdenberg-Sargans durch ihn erfuhr, bedeutet scheinbar den Sieg des anderen feudalen Herrn, des Bischofs von Chur. Der eigentliche Sieger war jedoch der Gotteshausbund, d. h. einer der drei Volksbünde in Graubünden. Gegenüber der früheren Darstellung von Muoth war Liver in der Lage, den Werdegang dieser Entwicklung anders zu deuten; gegenüber der Auffassung Gassers über die Landeshoheit ergibt sich, daß die Einzelforschung immer wieder abweichende Resultate zeigt, die im Gegensatz zu dem Versuch stehen, ein allgemein gültiges Bild herauszuarbeiten. Liver baut seine Arbeit -- es handelt sich um den Teildruck einer Dissertation aus der Schule Karl Meyers -- auf Prozeßakten aus der 2. Hälfte des 15. Jhds. auf und kann daher nicht nur auf den Rechtssatz, sondern auf die Rechtswirklichkeit abstellen.

Die Dissertation von Schwarzenbach ( 167) beginnt mit einem Überblick über die politische Geschichte des Oberengadins und mit einer Würdigung der erdkundlichen Grundlagen. Als Landesherr erscheint im Oberengadin im Mittelalter der Bischof von Chur. Markgenossenschaft, Meierhöfe und kirchliche Organisation werden dargestellt in ständiger Bezugnahme auf den geistlichen Landesherrn. In einem Abschnitt über die Verkehrsgeschichte wird die Bedeutung der Pässe erörtert. Der dritte Teil befaßt sich mit der Geschichte von Alp- und Weidewirtschaft, Getreidebau und Bergbau. Festgehalten sei die Beobachtung der Verfasserin, daß das Oberengadin in drei Kirchspiele (romanisch »pleifs«) zerfiel, deren Grenzen auch für die politische und für die Verwaltungseinteilung maßgebend wurden.

Das Buch von Schäfer ( 168) über das Sottocenere stellt eine Leistung dar, wie man sie sonst in Dissertationen selten zu finden pflegt. Um es gleich vorwegzunehmen: wir besitzen heute in den Büchern von Karl Meyer über Blenio und Leventina (1911) und über die Capitanei von Locarno ( 1916) sowie in dem eindrucksvollen Werke des Meyer-Schülers Schäfer die ma. Geschichte des Kantons Tessin, wie man sie vortrefflicher gar nicht wünschen kann. Geographisch ist das Sottocenere keine geschlossene Landschaft wie etwa Blenio, Leventina oder Mesocco und trotzdem stand schon im Mittelalter, mehrere Jahrhunderte vor der eidgenössischen Herrschaft, die heutige Grenze fest. So umfaßt das Sottocenere das Gebiet vom Monte Cenere bis Chiasso, d. h. die Bezirke Mendrisio und Lugano. Was von archivalischen Quellen heute noch zur Verfügung steht, ist äußerst dürftig: die Staats- und Gerichtsarchive sind alle verloren. So war Schäfer fast ausschließlich auf Privaturkunden angewiesen. Trotzdem hat er mit erstaunlichem Spürsinn sein Material aus den Ortsarchiven der Patriziate und Kirchgemeinden und aus den Archiven von Como und Mailand herausgeholt. Er ist denn auch in der Lage, 69 zum Teil unbekannte Urkunden von 1010 bis 1511 mitzuteilen. Dadurch ist die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Urkundenwerkes über den Tessin wieder einen Schritt näher gerückt. In fünf große Hauptabschnitte teilt Schäfer sein Buch ein: 1. Grundlagen, 2. Der Feudalismus, 3. Die Landgemeinden, 4. Der Staat. In der Geschichte des Sottocenere spielten der Bischof von Como, der Erzbischof von Mailand und das Kloster S. Ambrogio in Mailand hinein, bis


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schließlich die Kommune Como den Feudalismus überwand und eine einheitliche Territorialherrschaft schuf. Mit einem Ausblick auf die eidgenössische Geschichte des Tessins schließt Schäfer sein Buch ab. Das Werk Schäfers ist ein bedeutender Beitrag zur Geschichte der Südschweiz und des italienischen Mittelalters. Eine gute Karte erläutert die ma. Rechtsverhältnisse der Landschaft.

Die Darstellung der Verfassungsentwicklung der Stadt Schaffhausen vom 15. bis zum 18. Jhd. von Leu ( 1270) fußt nur zu einem kleinen Teil auf der Durcharbeitung der Schaffhauser Archivbestände. Die Arbeit orientiert gut über den allgemeinen Verlauf der Dinge, der eine und andere Punkt bedarf auch heute noch der Spezialuntersuchung. So ist z. B. der Abschnitt über die Territorialherrschaft lediglich eine Wiedergabe der früheren vortrefflichen Arbeit von C. A. Baechtold. Leider ist das Kapitel über die Verwaltung der Landschaft ganz kurz; es erschöpft das reiche Material des Staatsarchives Schaffhausen keineswegs und doch hätte gerade auf diesem Gebiete dankbare Neuarbeit geleistet werden können. Man vermißt auch ungern den Abdruck von Dokumenten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, wie sie sich aus einer systematischen Durcharbeit des Staatsarchives Schaffhausen ohne Schwierigkeit ergeben hätten.


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