VI. Rechts- und Verfassungsgeschichte.

Boca ( 19) schreibt auf Grund der erhaltenen Aktenbestände über die Strafgerichtsbarkeit des Schöffenstuhls in Abbeville (1184--1516). Die Arbeit ist von Bedeutung für die Kenntnis der picardischen Rechtsgeschichte, namentlich auch im Gegensatz zu der Entwicklung in Flandern. Eine eingehende Besprechung der Arbeit gibt Espinas (S. 59, Nr. 1256). Monier ( 143) hat auf die Beziehungen zwischen den Schöffenstühlen von Lille, Vervins und Sart-les-Fagne vom 13.--15. Jhd. hingewiesen. Der Schöffenstuhl von Lille bildet eine Berufungsinstanz, auch über die Territorialgrenzen hinüber. Für die Neuordnung des kirchlichen Gerichtswesens in dem nordfranzösisch-belgischen Gebiet nach dem Tridentiner Konzil ist eine Veröffentlichung von Fournier ( 77) von grundlegender Bedeutung. Er hat die Gerichtsstatuten der Diözese Arras und auch die Statuten der kirchlichen Gerichtshilfe von Cambrai 1632 herausgegeben mit einer kritischen Einleitung. Auch politisch wichtig ist eine von ihm aufgefundene Anklageschrift ( 78) gegen die bischöfliche Rechtspflege in Arras im Anfang des 14. Jhds.; sie gehört in den Kampf Philipps des Schönen gegen Bonifaz VIII. Bei der Untersuchung des Verhältnisses des Decretum Gratiani zu den Arbeiten des berühmten Lütticher Kanonisten Alger [ca. 1050 bis ca. 1130] kommt le Bras ( 24) zu neuen und bedeutenden Ergebnissen. Die bisher Alger zugeschriebenen Sentenzen spricht er diesem ab, dagegen sucht er Algers Liber de misericordia als wichtige Quelle Gratians zu erweisen. Gimberg ( 84) gibt eine kurze Übersicht über die Rechtsverhältnisse in Zutphen, und zwar seit der Verleihung des Stadtrechts 1190. Eine Untersuchung von Obreen ( 152) von Urkunden, die sich mit der Eindeichung der Hincline in Süd-Beveland (Seeland) beschäftigt, bringt wichtige Aufschlüsse über die Anfänge des Deichrechts in diesen Gegenden. -- Eine besonders bedeutsame Neuerscheinung zur Verfassungsgeschichte des Mittelalters ist der Abschluß der kritischen Ausgabe der Werke des Lütticher Geschichtsschreibers Jacques de Hemricourt [1333--1403]. Die Ausgabe ( 97) ist von Borman, Bayot und Poncelet


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mit größter Sorgfalt vorgenommen worden. Der Band enthält den berühmten »Traité des guerres d'Awans et de Warroux«, Geschichte einer Feudalfehde im 13. Jhd., die zur Vernichtung der alten Feudalgeschlechter im Fürstentum Lüttich führte. Ferner ist abgedruckt »Le patron de la temporalité«, eine Darstellung der öffentlichen Rechtszustände und der staatsrechtlichen Verhältnisse im Fürstentum Lüttich im 14. Jhd. Die große historische Einleitung von Poncelet gilt für alle drei Bände und bringt gleichzeitig eine umfassende Auswertung der verfassungsgeschichtlichen Arbeiten Hemricourts. Der Umfang dieser Einleitung -- 463 Seiten -- und die großen Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte Lüttichs machen sie zu einem selbständigen Werk. Die Ergebnisse sind auch für die allgemeine Verfassunggeschichte von erheblichem Wert (Harsin, Rev. hist. du droit franç. et étrang. 11, 180--182). Rolland ( 187), der ausgezeichnete Kenner der Geschichte Tournais, hat wiederum eine bedeutende Arbeit über dieses Gebiet veröffentlicht. Er behandelt die Entstehung der Stadtverfassung und die damit zusammenhängende Stadtherrschaft der Bischöfe von Tournai. Tournai bildete bis auf Karl V. ein selbständiges Gebiet in den Niederlanden unter der Oberhoheit Frankreichs. Die Grundlage dieser Stellung war die Gewinnung der Grafenrechte durch die Bischöfe in karolingischer Zeit; ihre Behauptung war aber nur möglich durch Ausbildung einer autonomen Stadtverfassung. Die Arbeit ist politisch und verfassungsgeschichtlich von weit mehr als lokalem Interesse, doch wird die Selbständigkeit der Entwicklung in einzelnen Punkten vielleicht etwas überschätzt (van Werveke, Rev. belge 12, 239--242). Die Untersuchung der Verfassungsverhältnisse von Löwen [900--1700] von Brughmans ( 29) ist etwas zu stark vom juristischen Standpunkt geschrieben und trotz des wertvollen archivalischen Materials nicht ohne Bedenken (Unger, Tijdschr. v. geschied. 47, 446--447). Dagegen ist die Arbeit von Poncelet ( 169) über die Vogtei der Altstadt von Lüttich eine wertvolle Bereicherung unserer Kenntnis der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte. Die Vogtei hatte immer juristischen und niemals militärischen Charakter (Closon, Rev. belge 11, 932--934). Ebenfalls großes Interesse verdient die Untersuchung von Massiet du Biest ( 138) über die Rechtsstellung der Bewohner von Arras im hohen Mittelalter. Die Arbeit ist auch ein Beitrag zur Kenntnis der Städtepolitik der Grafen von Flandern. Auch der Aufsatz von de Poerck ( 167) über das Privileg von Brügge von 1304 gibt neue Aufschlüsse über die innerflandrische Politik. Favresse ( 70) behandelt die Geschworenen von Brüssel in ihrer wechselnden Stellung. Feytmans ( 73) erweist die »Scabini terrae« bei Galbert von Brügge als Schöffen von Flandern, und zwar sowohl Kastellanie- wie Stadtschöffen. Die Veröffentlichung von Enklaar ( 63) bringt neues Material über die Rechtsstellung der Leute von St. Peter in Löwen. Für die Rechtsgeschichte der Niederlande ist der Artikel von erheblichem Interesse (Ganshof, Rev. belge 10, 785). Für die Geschichte der burgundischen Verwaltungsorganisation ist der von Strubbe ( 199) veröffentlichte Erlaß einer Neuordnung des Rats von Flandern 1483 von Belang. Es zeigt sich, daß Maximilian hierdurch bedeutenden Einfluß auf die Neugestaltung dieser Zentralbehörde geübt hat.

Die Berichterstattung ist wiederum durch den sachkundigen Rat von Professor F.-L. Ganshof in Gent gefördert worden und fand die tatkräftige Unterstützung des Herrn Generalarchivar Cuvelier in Brüssel.


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