§ 2. Archivwesen

(H. O. Meisner)

Neben das Minervahandbuch <1931, S. 101> und den Guide international <1935, S. 135> ist im Berichtsjahre ein dritter allgemeiner Archivführer getreten; es handelt sich um das Ergebnis einer Umfrage der Kommission für Archivfragen des Internationalen Ausschusses für Geschichtswissenschaft bei den einzelnen Archivverwaltungen in der Bearbeitung von H. Nabholz und P. Kläui < 56>. Kann sich das Büchlein an Inhalt und Umfang mit seinen beiden Vorgängern nicht messen, so hat es doch vor jenen einstweilen den Vorzug der (relativen) Vollständigkeit: es umfaßt die wichtigeren Archive sämtlicher Erdteile mit Ausnahme des Fernen Ostens. Auch bringt es die neuste Literatur. Der Schwerpunkt liegt in der knappen Orientierung über die Organisation des Archivwesens, die Formalitäten des Zutritts, das sog. Grenzjahr, die Möglichkeit einer Kopierung und Ausleihung des Archivstoffs, also diejenigen Fragen, welche die Forscher in erster Linie interessieren. In dieser Hinsicht ist sein Nutzen unbestreitbar. Aufs neue zeigt sich die Tatsache, daß Archive Wesen eigener Art sind, die jeder Uniformierung widerstreben. So gibt es auf die Frage nach dem Umfang der freigegebenen Archivalien beinahe so viele Antworten wie Institute. Ohne Einschränkungen geht es natürlich auch dort nicht ab, wo man stolz die archivalischen Menschenrechte proklamiert. Der Schein trügt auch hier. Bezeichnend dafür ist die Auskunft der U.S.S.R.: »Die Archivalien stehen der geschichtlichen Forschung je nach dem Gegenstande und Zeitabschnitt frei« (!). Merkwürdigerweise unterscheiden sich die Angaben mancher Archivverwaltungen in den doch fast gleichzeitig bearbeiteten Fragebogen des »Guide« und des neusten Hilfsmittels. Mitunter sind die Fragen der Kommission verschieden aufgefaßt und daher verschieden beantwortet worden, so ist z. B. im Abschnitt Schottland freier Zutritt (accessibilité) und Gebührenfreiheit verwechselt.

Die Erschließung einzelner Archive macht weitere Fortschritte. Zu den »Übersichten« in der neuen Serie der Mitteilungen der preußischen Archivverwaltung <1933/34, S. 185; 1935, S. 135 f.> ist jetzt die des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs getreten < 57>, über das bisher noch keine befriedigende Literatur existierte. Auch hier wieder ein Archivtyp für sich, dessen sog. Fürstenreposituren als ausgesprochene Pertinenzabteilungen aus dem Rahmen moderner


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Archivorganisation fallen, wegen ihrer Entstehung übrigens fallen müssen. Da die Scheidung zwischen staatlichem Archivgut und Hohenzollernschen Hausarchivalien nicht streng durchgeführt ist und vielfach gar nicht durchgeführt werden konnte -- »Briefe« Friedrichs des Großen lassen sich nicht in staatliche und private Stücke zerschneiden -- ist dieses Archiv bei vielen Forschungen eine wichtige Ergänzung des Dahlemer Geheimen Staatsarchivs und der Wegweiser durch seine Bestände ein Hilfsmittel, das die Forschung dankbar begrüßen wird (vgl. im übrigen Dt. Lit.-Ztg. 1937, Sp. 1793 ff.). -- Ein lang erwartetes Quellenhilfsmittel erster Ordnung entsteht in Wien, das Inventar des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, an welchem sämtliche wissenschaftlichen Beamten dieses Instituts mitarbeiten < 65>. Die 200 Seiten starke Einleitung Bittners schildert das allmähliche Wachstum des archivalischen Besitzes seit den Babenbergern, die Stellung des Instituts im Rahmen der Staatsverwaltung, seinen Beamtenkörper und seine Leistungen für die Hoheitsverwaltung, schließlich im längsten Abschnitt (das Archiv als wissenschaftliche Anstalt) das Raumproblem, die Ordnungs- und Inventarisierungsarbeiten, Archivalienkonservierung und Archivbenutzung sowie die wissenschaftliche Tätigkeit der Archivare (vgl. im einzelnen Archival. Z. Bd. 45). Es folgen sorgfältig bis ins kleinste gearbeitete Biographien der Archivbeamten seit 1749 (von F. Huter) und eine Übersicht der Archivbehelfe (Übersichten, Repertorien, Namen- und Sachweiser usw.), und nun erst beginnt das Gesamtinventar im engeren Sinne. Der vorliegende Band bringt die Abteilungen: Reichsarchive (Reichshofrat und Reichshofkanzlei, Reichskammergericht, Mainzer Erzkanzlerarchiv) von L. Groß, Staatskanzlei und -- als Nachfolger seit 1848 -- Ministerium des Äußern, Gesandtschaftsarchive (von J. K. Mayr), schließlich die sogenannten Staatenabteilungen, eine Kombination von politischen Akten der Reichs- und der Staatskanzlei in geographischer Anordnung (Groß und Mayr), und die sogenannte »Große Korrespondenz«, nämlich das aus den Registraturen der genannten beiden Hauptkanzleien abgetrennte »private« Briefmaterial diplomatischer Persönlichkeiten (Reichsvizekanzler, Reichsreferendare, Staatskanzler, Gesandte usw.) von L. Groß. Wie man sieht, die Masse der außenpolitischen Bestände dieses »diplomatischen« Archivs. (Haus- und Hofarchivalien einschließlich der Kabinettsakten werden im zweiten Bande, Urkunden, Handschriften und kleinere Bestände im dritten folgen.) Auch die Anordnung wird bereits aus der Inhaltsangabe erkenntlich. Es handelt sich nicht um geschlossene Registraturen, sondern in der Regel um eine Mischung von Akten verschiedenster Herkunft nach Auswahloder Betreffgesichtspunkten, häufig sogar in chronologischer Folge. Hat man sich doch in Wien zu dem heute herrschenden Herkunftsgrundsatz, dem auf Archivalien angewandten modernen Entwicklungsgedanken (Bittner), erst spät bekannt, wohl zu spät, um ihn jetzt noch am Objekt vollständig verwirklichen zu können. In der Abteilung »Reichstagsakten« z. B. finden sich neben den hier zu erwartenden Protokollen, Abschieden usw. aus der Reichskanzlei folgende Provenienzen: Österreichische Gesandtschaft in Regensburg, Kanzleien der tirolischen und steirischen Habsburger, österreichische Hofkanzlei Ferdinands I., Hof- und Staatskanzlei, Kanzlei der Reichserbmarschälle und andere mehr. Um so wichtiger war die Veranschaulichung der organischen Zusammenhänge wenigstens auf dem Papier, in der Inventarisation. Aus dieser Notwendigkeit heraus sind, wenigstens in dem vorliegenden Teile, die bestandsgeschichtlichen

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Vorbemerkungen zu den einzelnen Abteilungen meist weit ausführlicher gehalten als die Inhalts- oder Bestandsübersichten selber. Mit dem neuen Gesamtinventar haben die Wiener Archivare der Wissenschaft einen sobald nicht wiederkehrenden Dienst geleistet, sich selbst aber ein neues Denkmal gesetzt. (Vgl. auch Archival. Z. Bd. 45.)

Die Reihe der Archivgeschichten wird vermehrt durch die Jubiläumsschrift, die der derzeitige Leiter des Frankfurter Stadtarchivs O. Ruppersberg zu dessen fünfhundertjährigem Bestehen geschrieben hat < 63>. Der Verf. fußt auf dem Werke seines Vorgängers R. Jung, beabsichtigte aber, den »Stoff fester zusammenzufassen und das Persönliche schärfer herauszuarbeiten«. Dem zweiten Ziele dienen auch treffliche Bildbeigaben der Frankfurter Archivare, beginnend mit Jodocus Authaeus († 1639), und ein biographischer Anhang. -- Zu den an dieser Stelle verfolgten Archivpublikationen im engeren Sinne gehört das von O. Koser bearbeitete »Repertorium der Akten des Reichskammergerichts« < 62>; es verzeichnet in seinem nunmehr erschienenen zweiten Teile von dem bei der Reichsarchivabteilung Frankfurt beruhenden sogenannten »Untrennbaren Bestand« die »Prozeßakten aus dem Elsaß, aus Lothringen und angrenzenden ehemaligen Reichslanden«. Die Ausgabe unterscheidet sich wesentlich von der des ersten Teiles <1933/34, S. 185 f.>. Sie ist nicht nach den Akten gearbeitet, die schon 1881 von Wetzlar nach Straßburg gelangten, sondern exzerpiert ein älteres Spezialreportorium des genannten Bestandes, das sich auf die Wiedergabe der Namen der Prozeßparteien und eine Rubrik des Prozeßgegenstandes beschränkt. Es fehlen also diesmal die allein aus Aktendurchmusterung zu gewinnenden Intus-Vermerke und damit die rechts- und kulturgeschichtlich wertvollen Aufschlüsse und Hinweise. Freilich konnten in dem verkürzten Verfahren statt der 700 Prozesse des ersten Teils ungefähr 2000 registriert werden; extensives und intensives Verfahren schließen sich eben gegenseitig aus. Bei der geplanten Fortsetzung sollte man aber doch, wenn nicht zwingende Gegengründe vorliegen, diesem den Vorzug geben. Hinsichtlich der »notwendigen Erläuterungen« ist das bei der Anzeige des ersten Teiles Gesagte zu wiederholen.

Der »Internationale Ausschuß für Geschichtswissenschaft« veröffentlicht den ersten Band eines »Repertoriums der diplomatischen Vertreter aller Länder« < 856>. Als Herausgeber zeichnen L. Bittner und L. Groß, Präsident und Sekretär der »Kommission für diplomatische Geschichte«, wie dieser Unterausschuß heißt, seitdem ihm auch noch die Herausgabe eines Verzeichnisses der diplomatischen Farbbücher und der sonstigen Veröffentlichungen von diplomatischen Akten übertragen worden ist (1931). Der Gedanke eines Findbuchs für das diplomatische Korps der Welt seit Entstehung einer ständigen Diplomatie, also etwa seit dem Westfälischen Frieden, war eine naheliegende und lohnende Aufgabe für das internationale Historikerkomitee, wie ihre Lösung eine Gemeinschaftsarbeit der beteiligten Staatsarchive. Der nun vorliegende Abschnitt (bis 1715) zeigt die Lösbarkeit der Aufgabe und die Fruchtbarkeit der Arbeitsverbindung. Das Hauptverdienst an seinem Zustandekommen aber gebührt der ständigen Initiative und dem vorbildlichen Einsatz der beiden Herausgeber und ihres Stabes, ohne deren entsagungsvolles Bemühen die Beiträge aus aller Herren Länder nur Teile ohne geistiges Band geblieben wären. -- Das Nachschlagewerk erfaßt nicht nur die ständig beglaubigten Missionschefs und die als offizielle Vertreter eingesetzten »Geschäftsträger«, sondern auch sogenannte


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Sondermissionen einschließlich der Friedensunterhändler und Kongreßdelegierten, diese Spezialgesandten allerdings nur, »soweit sie im Zuge der Nachforschungen nach den ständigen Gesandtschaften aufgefunden werden konnten«, eine Richtlinie, die sich in den einzelnen Ländern je nach Quellenlage und Arbeitsweise sehr verschieden auswirken mußte. Zugrunde liegt das Verhältnis von Entsende- und Empfangsstaat, d. h. die Diplomatie ist zunächst länderweise, innerhalb jedes Absendestaates sodann nach Empfangsstaaten und hier wieder in zeitlicher Folge geordnet. (Der zweite Band wird in gleicher Anordnung das Material bis 1815 bringen.) Es finden sich folgende Angaben: Name des Gesandten, der seine diplomatische Funktion kennzeichnende Titel, Beginn, Ende und Zweck der Mission, Quellennotiz (aus Raumgründen statt der Archivsignaturen leider nur der Archivort). Als »beste Daten« sind nach Möglichkeit die Überreichungen des Beglaubigungs- und des Abberufungsschreibens gewählt, erst wenn diese nicht zu ermitteln waren, der Tag der Ankunft oder Abreise, der ersten und letzten Audienz, des ersten und letzten Berichts usw. Für diese Termine wurden lateinische Abbreviaturen gewählt, also prs. c. (praesentatio credentialis) bzw. prs. a. (avocationis), adv., part. usw., wodurch nicht nur Platz gespart, sondern auch eine internationale Verständlichkeit erzielt wurde. Die Abkürzungen erläutert eine bequem zu benutzende Schlußtabelle in den fünf Verhandlungssprachen des Internationalen Ausschusses (deutsch, englisch, französisch, italienisch, spanisch). Auch die Hauptüberschriften und die in das Personenregister aufgenommenen Länder sind fünfsprachig vertreten. Diesem von W. Latzke bearbeiteten Index (S. 564 bis 733!) gebührt besondere Erwähnung. Er bringt über den Text hinaus sämtliche Adelsprädikate und etwa noch erfaßte Amtstitel, durch die ein gewisses Licht auf die beteiligten Berufskreise fällt, was in jener Werdezeit der ständigen Diplomatie von Bedeutung ist. Die Diplomaten stehen unter ihrem Familiennamen, z. B. Marlborough, Duke of unter Churchill; auf diese Weise heben sich förmlich »diplomatische« Geschlechter hervor, wie die Danckelmans, Dohnas, Dolgorukis. Dieser neuartige »codex diplomaticus« wird seinen Hauptwert bei der Einzelbenutzung enthüllen, er bietet aber auch Gelegenheit zu allgemeinen Beobachtungen. So stellt man fest, daß die Abteilung »Deutsches Reich, Kaiser« für den Zeitraum von 1648 bis 1715 trotz Chemnitz und Pufendorf mit 116 »Empfangsstaaten« an der Spitze marschiert -- Frankreich zählt 85, Brandenburg-Preußen 77, England 48 --, wobei allerdings die deutsche Kleinstaaterei zu berücksichtigen ist. Ein Kaiserlicher Gesandter geht 1697 zum Großmogul. Frankreich unterhält ebenfalls diplomatische Beziehungen mit Indien, ferner mit Äthiopien, Marokko, Tripolis, Tunis und Siam, für England sind nur Gesandte in Marokko, Tripolis und Tunis verzeichnet. Unter den Absendestaaten erscheinen Indien, der Johanniterorden, Kalmücken, Persien, Siam, Tatarei und Tripolis. Während der Ferne Osten noch nicht in den diplomatischen Gesichtskreis getreten ist, spielen die italienischen Stadtstaaten -- die Wiege der ständigen Diplomatie -- noch, wenigstens formell, eine große Rolle. Interessant wäre eine übersichtliche Zusammenstellung des corps diplomatique bei den einzelnen Ländern, sie würde die diplomatischen Fäden mit einem Blick erkennbar machen. Vielleicht ließe sich ein solches »Tableau« am Schlusse des Gesamtwerkes hinzufügen.


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