I. Allgemeine Darstellungen.

Erich Marcks < 991> hat mit seinem Werk »Der Aufstieg des Reiches« die hochgespannten Erwartungen noch übertroffen. Mit dieser Vorgeschichte des Werdens des Reiches ist ein großer Teil der Lebensarbeit des Lehrers und Forschers der Öffentlichkeit übergeben worden; es wurde ein Buch, in dem der bedeutende Historiker die Erfahrungen und Erkenntnisse eines reichen, langen Lebens zusammengefaßt und ein persönliches Bekenntnis zur Bismarckzeit, die seine Entwicklungsjahre umfing, abgelegt hat. Marcks hat im Vorwort die Aufgabe umrissen, die ihm vorschwebte; er wünschte die Voraussetzungen zur Anschauung zu bringen, aus denen das zweite Reich erwuchs. Im Bürgertum und im monarchisch-staatlichen Prinzip, verkörpert durch Bismarck, erblickt er die zwei Säulen des siebziger Reiches, die zwei vornehmsten Träger seiner Vorgeschichte. »Beiden waren die beiden Menschenalter von 1807--1871, vom Ende des alten Reiches bis zur Enthüllung des neuen, eine einheitliche Gesamtperiode. Gewechselt hatte innerhalb dieser vierundsechzig Jahre ihre Stellung und ihre Bedeutung; die Einigung war vorbereitet worden bis gegen Ende der 50er Jahre, dann war sie, in den 60ern in neuem Geiste, mit neuer Entscheidungsgewalt vollzogen worden. Das Bürgertum war in der Vorgeschichte, bis um 1860, lange Zeiträume hindurch, fast der lebensvollere Mitschöpfer gewesen, dann war, über ihm, zur Führerin jene monarchische Gewalt geworden: der Genius des großen Staatsmanns.« Von selbst ergab sich hieraus die äußerliche Zäsur. Der erste Band schließt mit Roons Telegramm ab, das Bismarck zum Handeln aufrief; die Einteilung in drei Hauptabschnitte orientiert über den Aufbau des Ganzen: Neue Gewalten in Staat und Geist 1807--1840 -- Vorbruch und Rückschlag 1840--1858 -- Die Reichsgründung Bismarcks 1858--1871, um dann in einem Schlußumblick, betitelt »Die siebziger Jahre« auszuklingen. Es kann im Rahmen eines Sammelreferates nicht die Aufgabe sein, den Inhalt zu erzählen bzw. sich mit dem Verfasser über


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Einzelfragen auseinanderzusetzen. »Der Aufstieg des Reiches« erfüllt alle Anforderungen, die an die Geschichtsschreibung gestellt werden können: meisterliche Kunst der Schilderung verbindet sich hier mit feinstem Verständnis für das Wesen geschichtlicher Vorgänge. In voller Breite zieht der Strom deutschen Lebens an dem Leser vorüber, aber das liebevolle Versenken in das Individuelle und Besondere bleibt von einer großartigen Einheit getragen; die Mitte hält Bismarck, der erste ganz große Deutsche seit Goethe, wie ihn Marcks nennt, der schließlich alles allein gewollt und getan hat. Sein Werk, die nationale Einheit, ist für den Verfasser, das ist das Ergebnis der Schlußbetrachtung, die Vorbedingung für alle Lebensmöglichkeiten der Nachzeit geblieben, »wie für alle äußere, alle wirtschaftliche, alle gesetzgeberische Gesundheit, für Weltstellung und tragende und dekkende Macht, so für die innersten Güter, für jedes Bedürfnis innerlicher Gemeinsamkeit, für die Selbstempfindung und den Stolz und den Willen, auf denen alles Völkerleben ruht; die unentbehrliche Vorbedingung, aufgenommen in alles Blut ihres Volkes, unwegdenkbar auch aus allen weiterströmenden Fortsetzungen der deutschen Entwicklung«. Marcks ist aber auch eines erstaunlichen Abstandes von seiner eigenen Welt fähig, wenn er für die eine der Gewalten, die das Reich trug, die bürgerliche Kultur, das Schwinden ihrer bestimmenden schöpferischen Kraft nach der Reichsgründung feststellt. Es ist ein besonderer Vorzug dieses Werkes, daß es bei aller Ruhe und Höhe der Betrachtung Treitschkesche Leidenschaft nicht vermissen läßt und der Geschichtsschreiber den Gegenwartsproblemen aufgeschlossen gegenübersteht. Das gilt vor allem für die innere Haltung zum gesamtdeutschen Schicksal; wenn die kleindeutsche Lösung als eine in den Verhältnissen liegende Notwendigkeit vom Verfasser nach eingehender Erörterung des Für und Wider bejaht werden muß, so geschieht das nicht ohne das tiefste Mitgefühl für das tragische Geschick der außerhalb des Reiches lebenden Deutschen. Srbik als Vorkämpfer gesamtdeutscher Geschichtsauffassung hat Erich Marcks für diese Gesinnung ausdrücklich gedankt (s. Bln. Mh. Febr. 1937). »Der Aufstieg des Reiches« ist so nicht nur bestes Erbe, sondern eine Brücke in die Zukunft geworden; zuversichtlich darf erwartet werden, daß die junge Generation einer solchen Leistung nicht nur mit Achtung begegnen, sondern aus diesem Buch vielfältige Anregung und Ansporn für die ihr gestellten Aufgaben schöpfen wird.

H. Ullmann < 939> ergründet in seinem geistvollen Buch über das 19. Jh. das Verhältnis zwischen Volk, Nation und Masse aus der geschichtlichen Entwicklung seit der Französischen Revolution. Die Masse wird in diesem Zusammenhang als ein psychologisches Problem der modernen Zeit angesehen; von Heimat und Stand losgelöste Menschen paßten zunächst nicht in das Weltbild des 19. Jh.'s. Die Nation konnte diese Masse nicht verarbeiten und binden. »Sie siedelt sich gewissermaßen am Rande der Nation an, in dem Augenblick, in dem diese in ihrer stärksten, geschlossensten Form geprägt wird: in der Revolution.« Jedes Volk habe, so lautet Ullmanns These, um seine eigene Ordnung gekämpft; auf dem Wege hierzu sah es sich nicht nur der Gegnerschaft der überalterten und erstarrten Gewalten, sondern auch der noch ungestalteten und geschichtslosen Masse gegenüber. Die entscheidende Aufgabe der Gegenwart müsse darin bestehen, die Masse im Volk einzuschmelzen. Das verlange den Verzicht auf den liberalbürgerlichen Nationalstaat und den Ersatz durch eine neue völkische Ordnung, das Reich. Das 20. Jh. werde aller Voraussicht nach das Zeitalter der Völker und Reiche sein. Ausführlich behandelt der Verfasser die besonderen Schwierigkeiten,


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die sich für Deutschland ergaben; nachdem die Volkwerdung in der Reformzeit nicht geglückt sei, war es wegen der verspäteten Nationalstaatsbildung und des stürmischen Tempos der Industrialisierung nicht möglich, die Masse in Volk überzuführen, bevor das letztere sich zur politischen Nation formte. Die Nation war daher auflösenden Einflüssen sehr stark ausgesetzt, das Fehlen einer völkischen Einheit wurde für Deutschland im Weltkrieg verhängnisvoll, »weil es sich nicht als Ganzes empfinden und als Ganzes verteidigen konnte, obgleich es im Weltkrieg als Ganzes angegriffen wurde«. -- Der Sammelbericht von Braubach < 988> »Deutschland und Europa im 19. Jh.« enthält eine Anzahl von Besprechungen, unter anderem über die Quellenwerke zur auswärtigen Politik Preußens, zur deutschen Politik Österreichs und zur schleswig-holsteinischen Geschichte.


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