III. Das letzte Jahrhundert.

Ein halbes Jahrhundert deutscher Gelehrtengeschichte spricht aus der Biographie Harnacks, die seine Tochter vorlegte < 2462>. Es ist nicht bloß die Lebensbeschreibung eines einzigen Gelehrten und Theologen, sondern hier ist der Mittelpunkt einer ganzen geistigen Generation herausgegriffen. Leben und Werk wachsen aus dem theologischen Bereich in die Allgemeinheit hinüber. Deshalb haben seine religiös-kirchlichen und schließlich politischen Kundgebungen so aufreizend gewirkt. Denn die Gegner sahen in H. mehr als den Inhaber bestimmter Ämter. Wer einmal aufmerksam das Namenregister des Buches liest, der findet kaum eine führende Persönlichkeit jener Zeit vor dem Krieg und unmittelbar darauf nicht verzeichnet. H. kennt sie alle: Politiker und Militärs, Theologen und Kirchenleute, die gelehrten Freunde aus der Berliner Akademie und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Nur Dichter und Künstler sind weniger vertreten. Auch die vielen schnellen Besprechungen dieser Biographie zeugen von der universalen Bedeutung des Mannes. Die Frage nach der zeitlosen Wirkung dieses Lebens liegt nahe für eine Zeit, die von Grund aus neu aufbaut. Der Theologe denkt zunächst an H.'s theologische Stellung. Da klingt das Schlußwort in W. Richters Urteil auf, das in ihm das deutsche Gelehrtentum einer Epoche verkörpert sieht, welche die zwischen Idealismus und Christentum bestehende Aporie nicht mehr oder noch nicht wieder hinreichend würdigt. Damit ist das eigentliche Problem dieses Lebens berührt: Es ist die Frage der Kulturtheologie. Man darf sich über dieser allgemein bewegenden Frage nicht die Freude an dem so fein gezeichneten Charakterbild nehmen lassen. Alles Wertvolle hat die sammelnde und sichtende Hand der Tochter zu einem Lebensbild vereinigt, dessen Wesen das eigene Wort deutet: »Nur ein geschlossener, starker Mensch vermag die Ungerechtigkeiten der Welt zu ertragen und doch liebevoll zu bleiben.« -- Nur wenige Einzelarbeiten zur Kirchengeschichte des letzten Jahrhunderts sind noch zu nennen. Die gründliche Untersuchung Lehmanns über Rautenberg († 1865) läßt wieder einmal alle die großen Männer der Hamburger Kirche lebendig werden, deren Führerstellung in der Erweckung und in der Inneren Mission unbestritten ist < 2360>. Der Hamburger Geistliche Rautenberg, dessen Leben in den Kampf zwischen Rationalismus und Erweckung hineingestellt ist, ist der Lehrer Wicherns und der Seelsorger Amalie Sievekings. Die Arbeit gewährt einen guten Einblick in die praktische Wirksamkeit eines Predigers der Erweckungszeit. Der Aufbau der Großstadtgemeinde vollzieht sich. Von besonderer Aktualität ist das Verhältnis zwischen Erweckung und Union bei diesem Mann. Da zeigt sich doch in der Stellung zur geforderten Konfessionalisierung der norddeutschen Missionsgesellschaft ganz klar das rein religiös bedingte Einheitsgefühl aller Erweckten, das die konfessionellen Schranken durchbricht. Rautenberg kämpfte leidenschaftlich gegen die Versuche extrem lutherischer Kreise, dieser Missionsgesellschaft den allgemein protestantischen Charakter zu nehmen. -- In P. Fleischs Werk liegt die Geschichte der streng lutherischen Leipziger Mission vor < 2361>. Eindrucksvoll bringen dies die Anfangsworte des Buches zum Ausdruck: Am 17. August 1836 beschloß das Komitee des Missionsvereins in Dresden, das bisher die Baseler Mission unterstützt hatte, als Evangelischlutherische


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Missionsgesellschaft zu Dresden sich selbständig zu machen. Damit ist das vorliegende Buch ein wertvoller Beitrag zur Geschichte des aus der Erweckung hervorgehenden Konfessionalismus. Doch gerade die Durchführung des streng lutherischen Prinzips ist nicht ohne Schwierigkeiten verlaufen. Denn die hinter dieser Missionsgesellschaft stehenden Kreise waren landeskirchliche, freikirchliche und schließlich auch nordländische Lutheraner. In der Stellung zur Abendmahlsgemeinschaft waren sie durchaus nicht einig. Doch dadurch, daß Fl. nicht nur die Geschichte der Missionsgesellschaft, sondern auch der Mission selbst gibt, gewinnt sein Werk weit über den engeren Kreis der Missionsfreunde hinaus Bedeutung. Was über die Mission in Ostafrika und Ostindien bis in alle Einzelheiten berichtet wird, ist eine deutsche Kulturgeschichte in fremden Ländern. Der Volkskundler nimmt daraus reichste Belehrung für sich, und der Historiker verfolgt den Strom deutsch-evangelischen Geistes. Eine schöne Gabe zur Hundertjahrfeier der Leipziger lutherischen Mission. -- Ebenfalls ein Festbuch liegt vor in dem Werk, das zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Evangelischen Bundes in Erfurt herausgekommen ist < 2362>. Es enthält neben einigen lokalgeschichtlichen Abhandlungen Beiträge zur Gründungsgeschichte dieser großen protestantischen Organisation in Mitteldeutschland. Dabei wird manche bekannte Persönlichkeit wie z. B. Willibald Beyschlag wieder dem Leser näher gebracht. --Tiedemanns Untersuchungen über Staat und Kirche geben vier Ausschnitte, deren Brennpunkte die Jahre 1814, 1830, 1848 und 1870 sind < 990>. Dabei ist der Protestantismus nur wenig berücksichtigt, wie überhaupt diese allgemein gehaltenen Ausführungen mehr eine Zusammenfassung sind als daß sie eigene historische Entdeckungen darstellen. Fruchtbringender wäre es zweifellos, eine andere, von T. selbst erkannte Aufgabe in Angriff zu nehmen: das Verhältnis zwischen Kirche und Volk im letzten Jahrhundert!


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