§ 5. Allgemeines zur deutschen Geschichte und Gesamtdarstellungen

(P. Sattler)

Eine umfassende Gesamtdarstellung bietet das Handbuch der deutschen Geschichte, das nach dem frühen Tode von Otto Brandt von A. O. Meyer und H. Ullmann herausgegeben wird. Es ist unmöglich, mit wenigen Worten ein so umfassendes Werk, an dem 24 Mitarbeiter beteiligt sind, hinlänglich zu charakterisieren, zumal seine Erscheinungsform in einzelnen Lieferungen eine Gesamtübersicht zunächst noch nicht gestattet. Da die Bibliographie < 221, 808> lediglich die für den bislang vorliegenden Inhalt des Handbuchs wenig besagenden Titelblätter anführt, so sollen an dieser Stelle jedenfalls die im Berichtsjahr erschienenen Beiträge genannt werden. Es enthält Bd. 1: F. Metz, Geographische Grundlagen der deutschen Geschichte; E. Wahle, Von der Urzeit bis zum Ende des Römischen Reiches; H. Steinacker, Die germanischen Mittelmeerreiche der Völkerwanderung; F. Steinbach, Das Frankenreich; E. Caspar, Deutsches Reich und Kaisertum. Begründung und Aufstieg. 919 bis 1056; E. Maschke, Der Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum; H. Heimpel, Deutschland im späten MA. (noch nicht abgeschl.). Bd. 2: R. Stadelmann, Das Zeitalter der Reformation; J. Paul, Die Gegenreformation (noch nicht abgeschl.). Die vorliegenden Lieferungen lassen eine gute redaktionelle Durcharbeitung erkennen. Es ist weder ein bloßes Nachschlagewerk nach der Art des Gebhardt, noch eine popularisierende Erzählung geschaffen; jedem Beitrag ist eine knappe Übersicht über das Schrifttum, die sich stellenweise zu einer Forschungsgeschichte erhebt, nachgeschickt. An wissenschaftlichem


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Gehalt stehen diesem Sammelwerk alle anderen Gesamtdarstellungen erheblich nach. Einhart < 216>, Suchenwirth < 218> und Goltz-Stiefenhofer < 220> sind Unterrichtswerke der geschichtlich-politischen Bildung, Schilling < 219> ist ein Erzeugnis rein literarischer Bemühungen, Galéra < 217> kann man nicht als eine Gesamtdarstellung ansprechen. Eine deutsche Geschichte, die es in 28 Jahren zu 16 Auflagen bringt, wird schon allein dadurch unsere Aufmerksamkeit beanspruchen; aus dem zum Hausbuch ganzer Bildungsschichten gewordenen Einhart < 216> hat eine ganze Generation ihre Anschauungen und ihr Wissen um die deutsche Vergangenheit geschöpft; die aus ihm gewonnenen Ansichten sind heute zum Teil Gemeinbesitz geworden. Das Buch stellt nicht das Ideal einer wissenschaftlichen Durchdringung dar; ihm fehlt die Distanz zu den Dingen, in seiner Stoffverteilung (80 Seiten sind dem MA. gewidmet und 430 der Neuzeit), in seiner fachwissenschaftliche Ausdrücke vermeidenden Sprache, in seiner bewußt völkischen Tendenz kommt es den Ansprüchen weiterer Bildungsschichten sehr entgegen. Die Frische der persönlichen Diktion ersetzt den Mangel an literarischer Formgestaltung. -- Auch Suchenwirth < 218> schreibt für weiteste Verbreitung, die neueste mir vorliegende Auflage (1937) erreicht das 251. bis 270. Tausend. In der grundsätzlichen völkischen Haltung kommt er der des Einhart sehr nahe. Erfreulich an beiden Werken ist die rege Anteilnahme an den Geschicken des österreichischen Deutschtums im letzten Jahrhundert. Suchenwirth versteht es jedoch, unpersönlicher und mehr aus geschichtlicher Schau zu urteilen, seine Ansichten sind nicht abhängig von einzelnen Lehrmeinungen. Die Betrachtung tritt bei ihm ganz hinter der Erzählung zurück, die Charakteristik hinter der gedrängten Fülle einzelner Tatsachen. Das von Goltz und Stiefenhofer < 220> gemeinsam verfaßte Werk, das jetzt (1937) auch bereits in neuer Auflage herausgekommen ist, trägt den Charakter eines Schulungsbuches. Sie vermeiden bewußt eine Häufung der Tatsachen, sie führen den Leser immer wieder aus der Sphäre der Schilderung in die der politischen Betrachtung, warum der Schicksalsweg des deutschen Volkes nicht gradlinig verlaufen und warum ihm Jahrhunderte hindurch eine Einheit von Volk und Führung, von Staat und Macht versagt geblieben sei. Demgemäß werden einmalige Ereignisse, die die Möglichkeiten dazu eröffneten, sowie verpaßte Gelegenheiten verhältnismäßig breit ausgesponnen. In der Beurteilung dieser Situationen zeigen die Verf. aber zugleich Umsicht und Zurückhaltung; man wird gerade bei den entscheidenden Fragen der ma.'lichen Geschichte häufig an das Urteil von Dietrich Schäfer erinnert. Die kleine deutsche Geschichte von Schilling < 219> kann nur in einem sehr weiten Abstand von den vorgenannten Werken genannt werden. Augenscheinlich handelt es sich bei diesem weder wissenschaftlichen noch politischen Buch um eine rein literarische Fortsetzung des der deutschen Vorgeschichte gewidmeten Buches desselben Verfassers <1933/34, 849>. Ein besonderer Wert ist dieser Fortsetzung nicht zuzuerkennen. Je mehr die Darstellung sich der neuesten Zeit nähert, um so mehr beschränkt sich die Erzählung auf die Aufzählung der z. T. ganz äußerlich aufgefaßten Ereignisse. So weit in dieser Zusammenfassung eine Tendenz wahrgenommen werden kann, muß dringend vor ihr gewarnt werden. Mit Staunen liest man über das 19. Jahrhundert und über die Vorgeschichte des Weltkrieges Urteile, die man früher einmal in ausgesprochen pazifistischen Büchern lesen konnte. --Sachs < 222> gehört zu den in den letzten Jahren häufig gewordenen

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Büchern betrachtender, nicht erzählender Geschichte, die aus einer Teilaufgabe der Gegenwart die Vergangenheit betrachtet. Dieselbe raumpolitische Idee, die das im Vorjahr besprochene Buch von Staritz <1935, S. 147> kennzeichnete, beherrscht auch diese Schrift, sie ist allerdings sehr viel skizzenhafter in der Betrachtung, unselbständiger in der Beherrschung der Tatsachen und abhängiger von z. T. recht veraltetem Schrifttum. Diese »Deutsche Sendung in der Geschichte« weiß von den Befreiungskriegen kein einziges Wort, von Friedrich dem Großen nur die Erwerbung Westpreußens und die Ansiedelungspolitik, und von Bismarck nur die Polenpolitik zu erzählen. Soweit andere als raum- oder siedlungspolitische Fragen des deutschen Ostens behandelt werden, etwa Karl der Große und Widukind, Barbarossa und Heinrich der Löwe oder die Bauernkriege, wirken diese Einschiebsel als Zugeständnisse gegenüber Lieblingsthemen der Zeit. -- Man kann daran zweifeln, ob das Büchlein von L. v. Kohl über das dänische Schicksal < 232> hier anzuzeigen ist. Dieses Thema überschreitet erheblich den Rahmen der Jahresberichte, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die gegenwärtigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Tages werden behandelt. Der geschichtliche Teil des Buches bietet mehr dichterisch gestaltete Skizzen einzelner Ereignisse unter bewußter Berücksichtigung volkstümlicher Sagen und Stoffe. Wichtig ist es für uns allein dadurch, daß es den ideellen und blutmäßigen Anteil des deutschen Volkes am Aufbau des dänischen Staates und Volkes und die gemeinsamen Beziehungen beider Länder stark heraushebt.

In einem Bericht über allgemeine deutsche Geschichte wird es aber sehr viel mehr darauf ankommen, die Erörterungen über die grundsätzlichen Fragen zu verfolgen, als die Summe der mehr oder weniger zufällig gerade in diesem Berichtsjahr auf den Büchermarkt geworfenen Zusammenstellungen zu ziehen. In den letzten Jahren hatte die Vorgeschichte, das Verhältnis des Germanischen zum Deutschen, die Übernahme einer auf antikem Kulturboden gewachsenen politischen Idee des Reiches und schließlich die Richtung der ma.'lichen Kaiserpolitik in dem Vordergrund der Auseinandersetzungen gestanden. Das umfassende Werk von Srbik hat das Weiterwirken der ma.'lichen Traditionen in der Schicksalsfrage der deutschen Einheit für das vergangene Jahrhundert verfolgt. Nachdem die beiden Bände bereits in den Berichten über das 19. Jh. besprochen wurden <1935, S. 249, 257>, so muß doch auch hier darauf eingegangen werden. Denn die Erörterungen über dieses Buch haben zu einem Wechselgespräch über grundsätzliche Fragen geführt, die weit über die Geschichte eines einzelnen Zeitraumes hinausführen. Srbiks in diesem Jahr erschienenen Berliner Vorträge »Österreich in der deutschen Geschichte« < 226> sind im wesentlichen eine knappe Zusammenfassung seines großen Werkes, die zwar sehr viel weiter ins MA. zurückgreifen, und auch die Darstellung über 1866 bis an die Schwelle der Gegenwart heranführen. Ein recht wesentlicher, keineswegs bloß äußerer Unterschied liegt in der Titelfassung. Die beiden Bände der »Deutschen Einheit« hätten gewiß nicht soviel Widerspruch erfahren, wenn sie unter dem gleichen Titel wie die Berliner Vorträge erschienen wären. Ein über die Einzelkritik hinausführender Einspruch gegen sie ist von Hartung und Brandenburg < 227> erhoben, denen S. inzwischen ausführlich (»Zur gesamtdeutschen Geschichtsauffassung«. Hist. Z., Bd. 156, 1937, S. 229--262) geantwortet hat. Es wurde früher <1930, S. 105> an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß es eine gesamtdeutsche


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Geschichte auf dem Gebiet der staatlichen Entwicklung im 17. bis 19. Jh. nur als Aufgabe, nicht als Wirklichkeit gegeben habe. S. sucht nun die Gesamtdeutschland tragende staatliche Idee in dem alten Reich, der von allen geistlichen Bindungen befreiten Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches, das nicht etwa 1648, auch nicht 1806, sondern erst bei Königgrätz endgültig zugrunde gegangen sei. Es kommt hier nicht darauf an, ob nicht S. in dem Bestreben, die gesamtdeutsche Antwort gegen den kleindeutschen Droysen oder den großpreußischen Treitschke vorzulegen, Rücksichten verletzt hat, die für friderizianische Überlieferungen unantastbar sind. Entscheidend ist vielmehr, ob es S. wahrscheinlich gemacht hat, daß aus dem alten Reich -- aus dem Regnum, nicht aus dem Imperium (auf den Unterschied dieser Begriffe hat auch Hugelmann < 223> hingewiesen) -- ein Gesamtdeutschland hätte entstehen können. Niemand wird sich ganz des lebendigen volksdeutschen Gefühls, von dem sein Buch getragen ist, entziehen können. Alles, was das österreichische Deutschtum im letzten Jh. hat tragen müssen, als es sah, daß man es aus Deutschland ausschloß, hat S. nacherlebend zum Bewußtsein gebracht. Aber sein Werk hinterläßt zugleich einen zwiespältigen Eindruck, da er als denkender Historiker nicht den Weg aufzeigen kann, den sein Gefühl ihn weist. Er kann die Kräfte, die das alte Reich durch ein neues Kleindeutschland ersetzten, als solche nicht verurteilen oder eine andere Möglichkeit, die deutsche Frage wesentlich besser zu lösen, nicht aufweisen. In seiner Erwiderung muß S. außer seinen Grundanschauungen auch seine allgemeinen historiographischen Grundsätze verteidigen. Es wäre sicherlich über das Ziel hinweggeschossen, wollte man grundsätzlich jede Ideengeschichte, die zweifellos die letzte historiographische Leistung des Liberalismus darstellt, verwerfen. Es ist aber nicht mit Unrecht darauf hingewiesen, daß durch seine Überbewertung des politischen Gedankens an sich ein schiefes Bild von den tatsächlichen Verhältnissen entstanden sei. Ob noch so viele Denker, Dichter und Gelehrte, vor deren geistigen Leistungen wir nur mit Achtung sprechen, an dem Heiligen Römischen Reich bis an sein Ende gedanklich festhielten, ist als Stimmungshintergrund wichtig, sagt aber nicht das mindeste darüber, ob diese Institution über dem Bewahren bloßer Tradition hinaus eine in die Zukunft weisende Aufgabe besaß. Eine Überschätzung des Gedanklichen und Bewußten z. B. liegt auch vor, wenn S. (II, 285) mit besonderem Nachdruck Friedrich Wilhelm IV. »den letzten Hohenzollern, der ... nicht nur preußisch, sondern zugleich gesamtdeutsch gedacht und gefühlt hat«, nennt. Darauf ist zu erwidern, daß die Leistung von Friedrich dem Großen und Wilhelm I. für Gesamtdeutschland unendlich viel höher anzuschlagen ist. Nicht das gesamtdeutsche Bewußtsein ist das letztlich entscheidende, sondern die politische Kraft, die sich seiner bemächtigt. Die politische Auswirkung der gesamtdeutschen Idee, so wie sie S. darstellt, läuft aber auf eine Vorherrschaft des Kaiserstaates Österreich kraft der Tradition des alten Reiches hinaus. Sein Begriff »gesamtdeutsch« erweitert sich folgerichtig von der nationalstaatlichen Basis zu einem neuen universalistischen Prinzip, dem ein bestimmtes politisches Wunschbild zugrunde liegt. Von allen Argumenten, die er in seiner Erwiderung vorbringt, scheint nur eine die Möglichkeit eines glücklicheren Verlaufes zu eröffnen. Die Erörterung der schlesischen Frage und die Polemik gegen A. O. Meyer < 251> gibt jedenfalls zu überlegen, ob nicht dem deutschen Dualismus unendlich viel von seiner schneidenden Schärfe genommen und ob nicht das Deutschtum

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in den Ostmarken und in Böhmen seine führende Rolle im Habsburgerstaat mit dem Rückhalt in einem österreichischen Schlesien besser behauptet hätte, wenn Friedrich der Große die notwendige territoriale Erweiterung seiner Macht anderwärts gesucht hätte. -- Srbik hat es sich keineswegs zur Aufgabe gemacht, alles zu rechtfertigen, was Österreich getan hat; er hat auch ein gerade für seine Behauptung der deutschen Aufgabe der Kaiser aus dem Habsburgerhause peinliches Kapitel, die Rolle der »Casa d'Austria«, zwar nicht verschwiegen, aber doch sehr in den Hintergrund treten lassen. Dieses Thema hat dafür Rapp < 230> in einem besonderen Buch aufgegriffen. Mit erheblichem schriftstellerischen, aber auch propagandistischen Geschick geschrieben, stellt es von der ersten bis zur letzten Seite eine einzige große Anklageschrift gegen die Schicksaldynastie des Deutschen Reiches dar. Den politisch-polemischen Tenor des Buches müssen wir feststellen, ohne selbst dazu Stellung nehmen zu können. Darüber hinaus kommt ihm aber auch eine wissenschaftliche Bedeutung zu, indem es das europäische Phänomen einer Weltdynastie mit allen den charakteristischen erbbedingten Zügen einer Sippeneigenart wirkungsvoll herausstellt.


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