Bibliographieen und Kataloge.

Der Plan eines Handschriften-Weltkatalogs ist in den letzten Jahren mehrfach besprochen worden, von deutscher Seite etwa von Bömer im Zentralblatt für Bibliothekswesen Jg. 52, S. 265 ff. im Anschluß an einen Aufsatz von H. Schreiber, Hist. Vierteljahrsschrift Jg. 29. Die Erörterung, wie heute die Absichten eines Montfaucon oder Hänel mit Erfolg verwirklicht werden könnten, ging von Seymour de Ricci aus, der 1927 der Pariser Académie des inscriptions et belles lettres das Projekt einer »Bibliotheca manuscriptorum nova« unterbreitete. Die Gedanken de Riccis fanden besonderen Anklang und tätige Förderung in den Vereinigten Staaten. Im Auftrage des »American Council of Learned Societies« und der Congress Library konnte de Ricci in Zusammenarbeit mit W. J. Wilson eine der zahlreichen Vorarbeiten unternehmen, welche der Redaktion eines Welt-Handschriftenkatalogs voraufgehen müssen: eine Inventarisierung der in Nordamerika (USA. und Canada) befindlichen Handschriften des MA.'s und der Renaissance (Zeitgrenze: 1600). Der erste Band dieses »Census« < 186> weist den öffentlichen und privaten Handschriftenbesitz in 16 Bundesstaaten der USA. nach. Die Beschreibungen sind nur wenige Zeilen lang; für eine erste Unterrichtung über den Inhalt erscheinen sie ausreichend, soweit es sich nicht um anonyme Schriften handelt. Wichtig gerade bei dem jungen amerikanischen Besitz sind die nicht seltenen Angaben über die Provenienz der Handschriften. Daß ein solcher Census viele berechtigte Wünsche unerfüllt läßt und ausführliche Einzelkataloge nicht zu ersetzen vermag, ist klar. Ebenso unbestreitbar ist, daß beim Fehlen derartiger Einzelkataloge die Arbeit de Riccis Dank verdient und daß er im Recht ist, wenn er mit Carlyle sagt, der schlechteste Katalog


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sei immer noch ein großes Teil besser als gar keiner. Die stets wachsenden Ansprüche an die wissenschaftliche Qualität und an die Ausführlichkeit der Handschriftenkataloge führen leicht zu einer völligen Katalogisierungsmüdigkeit, da Werke, wie sie von einer strengen Fachkritik verlangt und in einzelnen, bezeichnenderweise nicht sehr umfangreichen oder unvollendeten Katalogen vorliegen, bei den zur Verfügung stehenden Arbeitskräften und Geldmitteln in vielen Fällen einfach nicht erstellt werden können. Das Erreichbare sollte hier stets den Maßstab für das Wünschbare abgeben, und alle Auseinandersetzungen über eine möglichst verfeinerte Beschreibungstechnik sind von sekundärer Wichtigkeit, solange noch umfangreiche und wichtige Handschriftenbestände in europäischen Bibliotheken in keinem gedruckten Katalog verzeichnet sind. Diese Aufgabe müßte von den einzelnen Ländern in einer einheitlichen und staatlich subventionierten Weise nach einem Plane in Angriff genommen werden, der eine Fertigstellung in einer absehbaren Zeit gewährleistet, selbst auf die Gefahr hin, daß vorläufig nicht das Bestmögliche erreicht wird. Das kann auch weiterhin der Einzelforschung überlassen bleiben, sonst bleibt das Bessere der Feind des Guten, nämlich des Notwendigen. Bei dem gegenwärtigen Zustand der Handschriftenkatalogisierung scheint es mir utopisch zu sein, bereits den Plan eines Welt-Handschriftenkataloges ins Auge zu fassen, da die notwendige Vorarbeit, die national zu organisierende Inventarisierung der Handschriftenbestände, zum Teil unvollendet, zum Teil überhaupt noch nicht begonnen ist. Wer auf dem Gebiete internationaler bibliographischer Arbeit Erfahrungen gemacht hat, weiß, daß die Schwierigkeiten keineswegs nur sachlicher, formaler und methodischer Art sind, sondern daß Gleichgültigkeit oder auch Eifersüchteleien und Prestigebedürfnisse von Institutionen oder Personen einer als richtig erkannten Zielsetzung schwer überwindliche Hindernisse in den Weg legen können. Unternehmungen, die auf internationale Zusammenarbeit angewiesen sind, gedeihen nur in einer Atmosphäre allgemeinen guten Willens und bei einer Arbeitsteilung, die jeden Partner zu seinen Rechten und zu seinen Pflichten kommen läßt. Diese psychologischen Bedingungen werden leicht unterschätzt. Die internationale Inkunabelinventarisierung hat gelehrt, daß der brauchbarste Weg die Schaffung nationaler Zentralstellen ist, welche in den einzelnen Ländern die Inventarisierung durchführen. (Vgl. den Bericht von K. Ohly: Der gegenwärtige Stand der internationalen Inkunabelinventarisierung <1935, S. 138>.) Auf solchen gesunden Grundlagen kann dann eine allgemeine Katalogisierung aufbauen.

Auf dem Gebiete der Handschrifteninventarisierung sind diese notwendigen nationalen, organisatorischen und materiellen Grundlagen noch zu schaffen. Ich halte daher die methodischen Vorstudien für einen Union World Catalog of Manuscripts, die von amerikanischen Bibliothekaren unter der Leitung von Ernest Cushing Richardson mit anerkennenswertem Unternehmungsgeist in Angriff genommen sind (I: The Worlds Collections of Manuscript Books, New York 1933; II: The Manuscript Book Collections of Spain and Portugal, 1933; III: A List of Printed Catalogs of Manuscript Books, 1935), für verfrüht. Ein Studium dieses Experiments ist trotzdem lehrreich. Es zeigt die großen Gefahren, die in einer Übertragung der bei der Katalogisierung gedruckter Bücher entwickelten Methoden auf eine Liste ma.'licher Handschriften liegen, denen das Element des vom Verfasser festgelegten Titels fehlt. Um brauchbare Register der ma.'lichen Handschriftenbestände zu erhalten, müßte zunächst eine einheitliche Titelgebung


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der Texte des ma.'lichen Schrifttums vereinbart werden, sonst bleibt die Registrierung, die jeder Handschrift nach dem Probekatalog der amerikanischen Bibliothekare nur eine (!) Zeile widmen würde, praktisch unbrauchbar. Man fragt sich, ob unter solchen Umständen ein allgemeines Initienverzeichnis nicht zweckmäßiger wäre. Auf das 3. Heft der Vorstudien Richardsons sei hingewiesen, da es ein nach Orten alphabetisch geordnetes bibliographisches Hilfsmittel zum Nachweis von Handschriftenkatalogen darstellt, das auch Zeitschriftenliteratur heranzieht.

Ebenfalls bibliographischen Wert haben die Veröffentlichungen von Gabrieli < 185> und Omont-Lauer < 311>. Gabrieli gibt eine sehr nützliche Ergänzung zu dem 1933 erschienenen Annuario delle Biblioteche Italiane für die besonderen Fragestellungen der Handschriftenkunde. Zum Teil berichtigt er die nicht stets zuverlässigen statistischen Angaben des Annuario; außerdem macht er reiche Angaben zur Literatur über die italienischen Handschriftenbestände. Lauer hat den Omont'schen Katalog der Tafelwerke, die in der Handschriftenabteilung der Pariser Nationalbibliothek aufgestellt sind, neu herausgegeben. Als Omont 1903 begann, die paläographischen Faksimilewerke in dem Département des manuscrits zusammenzuziehen, und ihren ersten Katalog (Revue des bibliothèques III, 111--178) veröffentlichte, hatte dieser 309 Titel. Inzwischen ist die Sammlung und damit auch der bibliographische Wert ihres Katalogs beträchtlich gewachsen. Die 2. Auflage konnte 1912 bereits 700 Werke verzeichnen und die jetzt erschienene 3. Auflage weist wiederum fast eine Verdoppelung des Bestandes an Faksimilewerken nach (1229 Titel), »et cela grâce surtout aux dons, à la fondation Rockefeller et aux Réparations«, wie Lauer im Vorwort feststellt. Im Gegensatz zu dem zuletzt 1933 in 4. Auflage erschienenen »Catalogue Alphabétique des Livres Imprimés« der Pariser Handschriftenabteilung sind die Titelaufnahmen ausführlich gehalten, was den selbständigen bibliographischen Wert als Nachschlagewerk sehr erhöht. Dem Katalog, der (mit Ausnahme der orientalistischen Abteilung) alphabetisch nach Verfassern bzw. Herausgebern geordnet ist, ist ein Register beigegeben, das auch die Sachtitel (wenn auch nicht vollständig) berücksichtigt. Bemerkenswert ist, daß nach dem Vorwort ein Inventar der Handschriftenphotographien aus dem Besitz des Département des Manuscrits in Vorbereitung ist.

Das Unternehmen der Universitätsbibliothek Erlangen, ihre Handschriften (mit den wichtigen Heilsbronner und Altdorfer Beständen) neu zu katalogisieren, hat im Berichtsjahr entscheidende Fortschritte gemacht. 1924 war dank der Initiative des neuen Bibliotheksdirektors Prof. Dr. Stollreither die Arbeit begonnen worden. 1928 konnte der erste Band, der die lateinischen Pergamenthandschriften beschreibt, erscheinen, mit hingebendem Fleiß von Hans Fischer bearbeitet. Der gleiche Verfasser kann jetzt auch den Katalog der lateinischen Papierhandschriften < 183> vorlegen und damit seinen Anteil an der Katalogisierung der Erlanger Hss. abschließen. Kurz vor diesem Bande erschien der 6. Band des Erlanger Katalogwerkes, in dem ein Kunsthistoriker (Eberhard Lutze) den Buchschmuck (man vgl. dazu die Besprechung von A. Boeckler, Zentralbl. Bibliothekswesen 54, S. 151 ff.) und ein Einbandkenner (Ernst Kyriss) die Einbände der Erlanger Hss. würdigt. Der Kataloganteil von Kyriss enthält u. a. die monographische Behandlung einer spätma.'lichen Klosterbuchbinderei (Heilsbronn). Als weiterer Band ist demnächst der Katalog der Briefsammlung des Nürnberger Arztes Trew zu erwarten, der die 19_000 Briefe des 16.-18. Jh.'s aus diesem für die Gelehrtengeschichte


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wichtigen Nachlaß verzeichnen wird. Man darf die Erlanger Bibliothek zu der vorbildlichen Art, in der sie ihre Handschriftenbestände nicht nur betreut, sondern auch mitteilt, beglückwünschen. -- Der kurzgefaßte, aber von sorgfältigem Bemühen um ausreichende Angaben zeugende Vorauer Handschriftenkatalog < 184> ist ein Lichtblick in dem, wie es scheint, unaufhaltsamen Ausverkauf der österreichischen Klosterbibliotheken. (Besprechung von Menhardt, Anzeiger dt. Altertum LVI. 1/2, S. 52 ff.). Bei der Katalogisierung fand der Vf., Chorherr Fank, Bruchstücke einer unbekannten Hs. des Nibelungenliedes, die von Menhardt (Z. dt. Altertum, Bd. LXXIV, S. 149 ff.) veröffentlicht wurden.


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