II. 1715--1789.

Als die Zeit des englischen Übergewichts kennzeichnet der von P. Muret mit Unterstützung von Ph. Sagnac bearbeitete XI. Band der bekannten französischen Weltgeschichte »Peuples et civilisations« die Epoche von 1715 bis 1763 < 953>. Wenn sich gegen die Anlage des Buches und die in ihm vertretenen Auffassungen auch manches einwenden läßt, so muß doch anerkannt werden, daß der Verf. über umfassende Kenntnisse verfügt, daß er klar darzustellen versteht und vielfach auch die Dinge in ganz neuartiger Beleuchtung zeigt. Einer Übersicht über die Grundlagen des englischen Machtanstiegs folgt die Schilderung der politischen Geschehnisse in Europa von 1715 bis 1739. Das nächste Buch vereinigt einen Querschnitt durch die inneren Zustände in den europäischen Staaten, einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse und in die geistige und künstlerische Entwicklung und einen Abriß der Vorgänge in Asien und Amerika. Endlich wird der Ablauf der großen kriegerischen Krisen zwischen 1739 und 1763 vorgeführt, von wo aus noch einmal unser Blick auf Geist und Kunst gerichtet wird. Ein kurzes Schlußwort kennzeichnet Lage und Tendenzen im Jahre 1763. Hier interessieren uns vor allem die Abschnitte über die europäische Politik: in ihnen werden die großen Linien ebenso deutlich wie die oft unberechenbaren geheimen Einwirkungen dynastischer und persönlicher Politik, die häufigen Schwankungen der Kabinette ebenso wie der Einfluß nationaler Bestrebungen. Als die führende Kraft erscheint der englische Versuch, die in Utrecht begründete Vorherrschaft aufrechtzuerhalten und auszubauen. Daß die französischen Staatsleiter den Engländern dabei vielfach sekundierten, wird von dem Verf. scharf kritisiert, energisch verficht er die These, daß nach Utrecht eine völlige Neuorientierung der französischen Politik notwendig gewesen sei, nämlich Aussöhnung und Bündnis mit dem Kaiser zwecks Sicherung des Friedens auf dem Kontinent und Beseitigung des drohenden englischen Übergewichts: wenn Ludwig XIV. diese Wendung im letzten Jahre seines Lebens angestrebt hat, so leitete dann Dubois eine lange Ära der Unterwerfung unter den englischen Willen ein, und wenn Fleury nach dem Polnischen Thronfolgekriege die letzten Instruktionen Ludwigs zu verwirklichen suchte, so stürzte Belle-Isle Frankreich in das verhängnisvolle Abenteuer des Österreichischen Erbfolgekrieges. England selbst hat zwar durch die Behandlung Österreichs die Voraussetzungen für das tatsächliche »renversement des alliances« geschaffen, aber dem Versailler Kriegsbündnis von 1757 wußte Maria Theresia die Richtung gegen Preußen zu geben, wodurch die französischen Kräfte wiederum falsch geleitet wurden. Wenn so Pitt den Sieg erringen konnte, so war immerhin 1763 auf Grund der geschickten Gegenaktion Choiseuls die Lage für England keineswegs so günstig, wie es nach außen den Anschein hatte. Bedauerlich ist, daß die Politik der deutschen Mächte und die Vorgänge im Reich vielfach allzu knapp und mitunter auch nicht zutreffend behandelt sind. Gestalt und Werk Friedrich Wilhelms I. werden kaum ausreichend gewürdigt. Wenn wir von der Staatsauffassung und Innenpolitik Friedrichs


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des Großen so gut wie nichts erfahren, so mag das damit zusammenhängen, daß der Band ja nur die erste Hälfte seiner Regierung umfaßt. Zustimmen kann man im allgemeinen den Ausführungen über seine Außenpolitik, so dem betonten Hinweis, daß er niemals gewillt war, irgendwie die Geschäfte fremder Mächte in Deutschland zu befördern, so auch der Herausstellung der Verteidigungsabsichten des Königs in den Jahren 1755/56. -- Mit der Darstellung Murets berührt sich vielfach die zeitlich weitergreifende Übersicht über die englische Außenpolitik des 18. Jh.'s von E. F. Malcolm-Smith < 952>. Klar und überzeugend sind die Tendenzen dieser Politik und ihrer Träger von Marlborough über den klugen Stanhope, den um den Ausbau der merkantilen Vorherrschaft bemühten Walpole, den kühnen und energischen Carteret und den unfähigen Newcastle bis zu den beiden Pitts gekennzeichnet. Auffallen muß die besondere Berücksichtigung der Beziehungen zu Preußen, für die neben dem bekannten Buche von Sir Richard Lodge auch archivalische Quellen, so die Berichte Whitworths aus den letzten Jahren des Nordischen Krieges, Mitchells aus dem Siebenjährigen Krieg und Cornwallis' aus dem Jahre 1785 verwertet wurden. Nicht immer wird man freilich dem Verf. gerade in seinen Ausführungen zur deutschen Geschichte zustimmen können. Daß ein eigenhändiger Brief des Kaisers den jungen Friedrich vor dem Tode von seines Vaters Hand bewahrt habe, ist eine Legende. Wenn mit Recht betont wird, daß Friedrich den Westminstervertrag in der Hoffnung schloß, Rußland an die Kette zu legen und dadurch den Frieden zu bewahren, so überrascht dann die Auffassung, daß der Krieg ohne des Königs übereilten Losbruch vermieden worden wäre: hier wird doch die Kriegsentschlossenheit der Gegenseite und die Tragweite der von Kaunitz getroffenen Vorbereitungen unterschätzt.

Einzeluntersuchungen zur europäischen und allgemein-deutschen Geschichte des 18. Jahrhunderts liegen nur in geringer Zahl vor. O. Schmid berichtet über den einflußreichsten spanischen Politiker am Hofe Kaiser Karls VI., den Marques Rialp, der seit Ende 1713 an der Spitze des 1711 begründeten spanischen Staatssekretariats stand < 960>. Diesem Staatssekretariat fiel die Bearbeitung der Angelegenheiten der italienischen Provinzen und Belgiens zu, daneben aber auch der diplomatische Verkehr mit Spanien, und darüber hinaus hatte Rialp in den zwanziger Jahren Anteil an der Korrespondenz mit Frankreich. -- L. Just stellt die entscheidenden Etappen für die Trennung Lothringens von Kaiser und Reich heraus < 966>. Er zeigt, daß der Nürnberger Vertrag vom 26. August 1542, durch den Kaiser Karl V. dem Verlangen der Herzöge auf eine selbständige Stellung gegenüber dem Reich weitgehend nachgab, nicht etwa eine Überantwortung des Herzogtums an Frankreich bedeutete, der Kaiser vielmehr hoffte, gerade auf diesem Wege Lothringen vor der Erdrückung durch Frankreich bewahren zu können. Die Herzöge selbst suchten, während sie sich dem Reich entzogen, engen dynastischen Anschluß an das Haus Habsburg, der sich in der Tat in der Folgezeit bewährte. Im 18. Jh. hat das Herzogtum sich dann keineswegs selbst vom Reiche getrennt, es wurde vielmehr von Wien geopfert, weil nur dadurch die Pragmatische Sanktion gesichert und der gewünschte Ausgleich mit Frankreich erreicht werden konnte, aber auch weil die Entwicklung an der Westgrenze zur Bildung einer neuen Verteidigungslinie geführt hatte, für die das vor ihr liegende Lothringen militärisch wertlos war. -- Es ist nicht zutreffend, wenn K. H. Schwebel in der Einleitung zu seinem Buche über Bremens Beziehungen zu Kaiser und Reich < 978> von einer völligen Vernachlässigung der Reichsgeschichte des 18. Jh.'s


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durch die deutschen Historiker spricht: sind doch im letzten Jahrzehnt wichtige Arbeiten über die Reichsinstitutionen, wie zum Beispiel den Reichstag und verschiedene Reichskreise, erschienen <u. a. 1931, 857, 872; 1936, 867>. Doch bleibt eine so eingehende Untersuchung, wie der Verf. sie unter Verwertung der Aktenbestände des Bremer Staatsarchivs vorlegt, immer sehr erwünscht. Er schildert zunächst den Kampf, den die Stadt Bremen im 17./18. Jh. um die Anerkennung ihrer Reichsstandschaft gegen den Besitzer des Erzstifts, also gegen Schweden und -- nach kurzem dänischen Zwischenspiel -- gegen Hannover, führte. Der eigentliche Hauptteil behandelt Rechte und Pflichten der Reichsstandschaft, und zwar werden dabei einmal die Beziehungen zum Kaiser als Reichsoberhaupt und dann die Tätigkeit Bremens als Reichsstand, also seine Vertretung auf dem Reichstag, seine Beteiligung an Reichssteuern und vor allem die Aufbringung der angeforderten Reichskontingente in Reichskriegen -- hier werden für die Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges die Angaben v. Hasselns <1933/34, 1278> vielfach berichtigt und ergänzt -- dargelegt. Ein letzter Abschnitt berichtet über die durch die Handelsinteressen verursachten besonderen Anforderungen der alten Hansestadt an Kaiser und Reich, so über die Bemühungen um die Anerkennung von Handelsfreiheit und Neutralität bei Reichskriegen und um die Aufhebung des Elsflether Weserzolls. Wenn die Arbeit viel neues Material und neue Kenntnisse für die Geschichte Bremens enthält, so liegt ihr Hauptwert doch in dem Einblick, den sie in das Leben des alten Reiches mit seinen schwerfälligen Institutionen, mit seinem unmöglichen Finanzwesen und mit seiner auf Assignationen und Reluitionen sich aufbauenden Heeresverfassung gibt. Was wir über die Behandlung der Reichsangelegenheiten am Kaiserhofe in Wien erfahren, ist nicht immer erfreulich, immerhin ergibt sich doch, daß die Kaiser »die Kaiserwürde nicht bloß als toten Zierat, sondern immer noch als eine lebendige Verpflichtung auffaßten, sofern es die Interessen der habsburgischen Politik erlaubten, als Beschützer der kleinen Stände gegen die Willkür der großen aufzutreten«. -- Die Schriften von K. Borgmann über den Religionsstreit der Jahre 1719/20, der eine schwere Krise über das Reich brachte < 983>, und von E. Solf über die Reichspolitik des habsburgfreundlichen Mainzer Kurfürsten Johann Friedrich Karl von Ostein < 1004> sollen an anderen Stellen dieses Bandes besprochen werden.


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