II. Reichsgründung.

Der vierte Band der Quellen zur deutschen Politik Österreichs < 1113> enthält infolge einer Vereinbarung mit dem Reichsinstitut keine Aktenstücke mehr, die schon in anderen großen Publikationen Aufnahme gefunden haben. Es wäre zweckmäßiger gewesen, wenn hierüber schon von Anfang an Klarheit bestanden hätte, da unter dem Wechsel naturgemäß die Einheitlichkeit des Gesamtwerkes etwas leidet. Der vierte Band umfaßt die Zeit von März 1864 bis August 1865, also eine besonders wichtige Epoche. Wie bereits in den vorigen Bänden treten die verschiedenen Tendenzen der österreichischen Politik charakteristisch in Erscheinung. Die ersten Monate werden noch durch den Zwang Österreichs bestimmt, in der schleswig-holsteinischen Frage mit Preußen zusammen zu gehen, obgleich das Mißtrauen gegen die letzten preußischen Ziele im Wachsen begriffen war. Allmählich gleitet man in die große Krise hinüber, die von der Gasteiner Konvention vorläufig überbrückt wird. Der konservative Gesichtspunkt, daß die beiden deutschen Großmächte gegen die Revolution zusammenhalten müßten, wird in einem Bericht von Biegeleben an Rechberg vom 29. April 1864 aufgegriffen, bemerkenswerterweise stoßen wir also hier auf eine österreichische Initiative. Eine Bestätigung, daß das gemeinsame konservative Interesse auch für Bismarcks Politik des Jahres 1865 richtunggebend gewesen sei, findet sich demgegenüber im Band IV nicht. Vielmehr sprechen auch die österreichischen Berichte durchaus für die Möglichkeit eines bewaffneten Konfliktes. An einigen Stellen kommt allerdings zum Ausdruck, daß man an Bismarcks Kriegswillen nicht recht glaubt. Sehr wichtig bleibt eben, daß die Situation noch nicht reif war, und daß vor allem die österreichische Politik die Verständigung suchte. Der Band enthält wieder viel Neues für die Beziehungen Österreichs zu den Mittelstaaten, zur erschöpfenden Klärung dieses Themas kann der Wert dieser Publikation, wie schon im vorigen Berichtsjahr betont worden ist, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Engel v. Janosi < 1114> behandelt die Vorgeschichte des österreichischen Ultimatums 1859. Die im Anhang abgedruckten Wiener Ministerialprotokolle vom 6., 19. und 27. April zeigen, daß die österreichische Regierung trotz der Erkenntnis der schwierigen Lage zum Kriege entschlossen war. F. Valsecchi < 1115> schildert den dramatischen Ablauf der europäischen Vermittlungsversuche am Vorabend des Krieges 1859, die die volle Wachsamkeit von Cavour herausforderten und ihm zur Entfaltung seiner großen staatsmännischen Kunst Gelegenheit gaben. Im Berichtsjahr liegen zwei Arbeiten über den polnischen Aufstand vor: von Goldschmidt < 1122> und H. Scheidt < 1123>. G., der


S.287

wenig sorgfältig gearbeitet hat, legt das Schwergewicht darauf, die Auswirkung des Aufstandes auf den preußischen Verfassungskonflikt zu zeigen. Sch., der ebensowenig wie Goldschmidt unbekanntes Material bringt, gelangt zum Ergebnis, daß die Konvention Alvensleben durchaus den Absichten Bismarcks entsprach. Trotz des bedrohlichen europäischen Widerstandes habe der Erfolg durchaus bei Bismarck gelegen, der, ohne sich zu stark an Rußland zu binden, doch die Gefährdung der guten Beziehungen zu dieser Großmacht vermieden und gleichzeitig den Versuch der inneren und äußeren Opposition, seine Politik von vornherein lahmzulegen, zum Scheitern gebracht habe.

V. Valentin < 1141> hat die Möglichkeit, die Papiere des Public Record Office für die Zeit von 1848 bis 1870 einzusehen, ausgenützt. Er beabsichtigte ursprünglich nur die Berichte Lord Cowleys aus der Revolutionszeit zu verwerten, erweiterte aber dann seinen Arbeitsplan dahin, die Berichterstattung der englischen Diplomaten während der ganzen Reichsgründungsperiode zu einer größeren Darstellung heranzuziehen. Wenn auch die englische Politik für diese Zeit im ganzen festliegt, die Ergänzungen im einzelnen sind vielseitig und wichtig. Vor allem fällt die sehr verschiedenartige Auffassung der Engländer auf. Während die einen ohne Verständnis dem mitteleuropäischen Problem gegenüberstanden, wurden Bedeutung und Notwendigkeit von anderen durchaus anerkannt, man stellte die überlegene staatsmännische Kunst Bismarcks rechtzeitig in Rechnung. Es war ein glücklicher Gedanke, die britischen Vertreter in Berlin kurz zu charakterisieren, erst hierdurch wird der Wert bzw. der Unwert ihrer Urteile ins rechte Licht gerückt. Eine grundsätzliche Festlegung gegen Deutschland ist in der englischen Politik noch nicht erkennbar, wohl aber instinktive Sorge vor der deutschen Machtsteigerung und ideologisches Ressentiment. Das große Belastungsjahr der deutsch-englischen Beziehungen 1864 erhält auch von hier aus manche Aufklärung, der Eindruck wiegt vor, daß trotz allen Lärmens eine ernstliche Bereitschaft, die Machtmittel auf dem europäischen Kontinent einzusetzen, nicht bestand (auch ohne die Gegenwirkung der Königin). Hervorzuheben ist besonders ein Erlaß vom 21. Juni 1864 an Buchanan, der diesem ausdrücklich Drohungen untersagt. Der Verf. hätte sich mit dem bekannten Stoff stärker auseinandersetzen sollen, um das Neue hervorzuheben, auch gegen die Betrachtungsweise erhebt sich manches Bedenken. Bereits im letzten Berichtsjahr mußte der von V. unternommene Versuch, bestimmte Spielregeln für die außenpolitische Entwicklung aufzustellen, abgelehnt werden. Im Anhang sind bisher unveröffentlichte Berichte in größerer Anzahl beigegeben worden, aus den Jahren 1848--1869, die die Beachtung des Forschers verdienen.

Das Historische Jahrbuch druckt den geistvollen Vortrag ab, den Srbik < 1132> auf dem deutschen Historikertag 1937 gehalten hat. S. glaubt die österreichische Regierung von dem Vorwurf entlasten zu können, sie habe im Juni 1866 Frankreich als Entschädigung deutsches Gebiet zur Verfügung gestellt. Es hätte sich bei den Verhandlungen lediglich um die Errichtung eines neuen deutschen Staates innerhalb des Deutschen Bundes gehandelt. Ich vermag dieser Auslegung nicht zu folgen. Wie man auch den genauen Text des Vertrages deuten mag, die Absicht der französischen Regierung, sich einen abhängigen Pufferstaat zu schaffen, ist durch andere Zeugnisse unzweifelhaft belegt und konnte Wien unmöglich verborgen sein. Eine andere Frage ist es


S.288

natürlich, ob Österreich überhaupt imstande gewesen wäre, die Zusage einzulösen. Übrigens war auch die preußische Weste nicht blütenweiß.

Ochsenius < 1133> stellt die Tätigkeit Goebens als Kommandant der 13. Division 1866 dar. Er weist auf die schwierige Lage des Generals hin, der als gebürtiger Hannoveraner gegen die hannöverische Armee kämpfen mußte, bis er im Mainfeldzug auf andere Gegner stieß. Die öffentliche Meinung und das Schicksal Sachsens 1866/67 ist der Inhalt eines Aufsatzes von R. Dietrich < 1136>. Aus Flugschriften, Zeitungen, Zeitschriften, Briefen und Reden ist ein übersichtliches Bild entstanden, wie die Öffentlichkeit bis zum Friedensschluß reagierte. Der Wahlkampf für den konstituierenden norddeutschen Reichstag schließt die Studie ab. Die Diss. von J. Lenzen < 1137>, die nur im Teildruck vorliegt, stützt sich auf rheinische und Luxemburger Zeitungen für eine Betrachtung der Krise von 1867. Viel kommt dabei nicht heraus. E. Feder < 1144> ist durch die Veröffentlichung der Queen-Briefe (Jagow, K.: Queen Victoria ... Briefe u. Tagebuchblätter 1834--1901. Berlin 1936) angeregt worden, die politische Linie der Königin, soweit sie aus diesen Briefen erkennbar wird, nachzuziehen. Das Einzigartige ihrer Erscheinung wird in die Worte zusammengefaßt: »In der Tat war diese Herrscherin, ohne je auf den Titel Frau und Mutter zu verzichten, eine Institution des Britischen Reiches geworden.« Die von L. Oken 1822 begründeten und lange Zeit hindurch von Rudolf Virchow beherrschten Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte untersucht E. Zevenhuizen < 2658> für die Jahre von 1848 bis 1872. Sie waren von der politischen Zeitrichtung nicht unberührt. Immer wieder wurde in diesem Kreise der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß es zur Einigung kommen möge; die Versammlungen sind absichtlich in verschiedenen Teilen Großdeutschlands abgehalten worden, wie z. B. 1869 in Wien. C. Le Mercier d'Erm < 1139> stellt in anregender und anschaulicher Weise die Kämpfe der Armee von der Bretagne 1870/71 dar, ein Ruhmeskapitel französischer Tapferkeit, das sicherlich der Vergessenheit entrissen zu werden verdient. Aus der Zeit der Gefangenschaft Napoleons III. in Kassel schildert Lindenberg < 1140> die Rolle, die die Gräfin Louise de Mercy-Argenteau als Vermittlerin gespielt hat. Napoleon schrieb ihr am 4. Febr., daß er an Stelle des preußischen Königs bei Annahme des Friedens durch die Nationalversammlung das französische Volk befragen, bei Ablehnung in Paris einziehen, die Demagogen vertreiben, der legitimen Regierung einen milderen Frieden anbieten und eine Allianz mit gerechter Abschätzung der Interessen der beiden Länder vorschlagen würde. Einige Tage später mußte die Gräfin Wilhelm I. einen Brief des Gefangenen nach Versailles überbringen, in welchem Louis Napoleon um Gefangenenaustausch und Linderung der Friedensbedingungen bat; das letztere aber lehnte Kaiser Wilhelm unbedingt ab. Den Vorschlag Napoleons, er wolle an der Spitze einer Armee aus Gefangenen die französischen Verhältnisse in Ordnung bringen, benutzte Bismarck geschickt gegenüber Thiers bei den Friedensverhandlungen. Einen lehrreichen Beitrag zur Frühgeschichte der deutschen Kriegsmarine liefert Fecht < 1138>. Er zeigt, welche Rolle die Flottenstation in Ostasien von ihrer Begründung 1869 an bis zum Abschluß des Friedens von 1871 gespielt hat. Während des Krieges wurde -- übrigens auf amerikanische Vermittlung hin -- zwischen den deutschen und französischen Befehlshabern in den ostasiatischen Gewässern ein Neutralitätsvertrag abgeschlossen. Jedoch versagte


S.289

die französische Regierung ihre Zustimmung angesichts der damaligen französischen Überlegenheit zur See, während Bismarck und Roon einverstanden waren. Zu Kampfhandlungen ist es nie gekommen.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)