I. Allgemeines und Innenpolitik.

Die Forschungslage für das Zeitalter der Vorgeschichte des Weltkrieges ist wie in den letzten Jahren dadurch bestimmt, daß die großen Aktenpublikationen sich allmählich ihrem Abschluß nähern. Er steht jetzt für die englische und französische Sammlung nahe bevor, so daß die Voraussetzungen für eine wissenschaftlich zusammenfassende Neubearbeitung der Epoche von 1890--1914 zur Zeit kaum gegeben sind. Der größere Teil der Literaturbeiträge beschäftigt sich mit dem stufenweisen Ausbau unserer Kenntnisse für diejenigen Ereignisse, die durch den Fortschritt der diplomatischen Publikationen neue Beleuchtung erfahren haben. Alle anderen Literaturkategorien bleiben demgegenüber an Umfang zurück.

Von deutscher Seite ist jedoch eine Arbeit zu verzeichnen, die in größerem Stile die politischen Lehren der Zeit von 1890 und 1918 auf historischer Grundlage zu ziehen versucht. Das persönlich scharf geprägte Buch von L. Geßner < 1171> lehnt trotz aller Klarheit über den Ernst des deutschen Zusammenbruchs ebenso entschieden jene ältere Neigung ab, die seine letzte Ursache in einer politischen Unterbegabung des deutschen Volkes hat sehen wollen, wie den Versuch, eine übersteigerte imperialistische Machtpolitik der kaiserlichen Regierung für ihn verantwortlich zu machen. Im letzten Kerne sicher zutreffend, leitet er die Katastrophe im Gegenteil aus der seit Bismarcks Entlassung eintretenden Ermattung des realistischen Machtwillens in der deutschen Politik


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ab und stellt von dieser Grundlage aus umfassend die Schwächen der politischen und militärischen Führung Deutschlands in dem behandelten Zeitraume fest. Seine kritische Charakteristik des persönlichen Versagens, der zeitbedingten und der in einem politisch jungen Volke aus einer trüben Vergangenheit wurzelnden Schwächeelemente der wilhelminischen Zeit ist einer der energischsten Versuche, vom politischen Denkwandel der Zeit seit 1933 her die Kritik der jüngsten deutschen Geschichte neu zusammenzufassen. Der Verf. ist Militär, und der Zusammenhang von Politik und Wehrmacht steht durchweg im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Das hat die gegenwartspädagogische Zuspitzung des Buches gesteigert, läßt ihn aber doch nicht übersehen, daß die Frage der Schuld im engeren Sinne historisch aufgewogen werden muß durch eine Problemstellung, die die zeitbedingte Notwendigkeit des Geschehens im Rahmen der epochenbedingten politischen und geistigen Strömungen berücksichtigt. -- Der Verf. selbst hat im Schulungsbrief der NSDAP. (Jg. 4, S. 349 bis 365: Die Fehlerschau. Führung und Volk in der Vorkriegspolitik) eine knappe Zusammenfassung seiner Ergebnisse gegeben. -- An gleicher Stelle (Jg. 4, S. 330--348. W. von Koehler: Von der Reichsgründung zum Weltkrieg) ist auch eine gedrängte Übersicht über die Entwicklung der deutschen Außenpolitik enthalten, die kritisch gegen das Bismarckreich die tragischen Folgen seiner kleindeutschen Begrenztheit als letzte Ursache für den Zusammenbruch seiner Außenpolitik durch die zu lange festgehaltene Bündnisbindung an den übervölkischen Donaustaat hervorhebt. Ebenso stark ist aber der Unterschied der überlegenen politischen Führungskunst des Reichsgründers gegen das Versagen der Epigonengeneration nach 1890 betont, um eine richtige Verteilung der historischen Wertakzente auch in dieser Kritik aufrechtzuerhalten.

Eine etwas größere Literaturgruppe führt die im Fluß befindlichen personengeschichtlichen und innenpolitischen Untersuchungen fort. Das Buch des Engländers J. D. Chamier < 1172> über Wilhelm II. als das Fabeltier unserer Zeit hat durch die menschlich saubere Entschiedenheit, mit dem er den gestürzten Herrscher gegen die Flut gehässiger Anfeindungen im Ausland in Schutz nahm, einen begreiflichen und nicht unverdienten Erfolg errungen. Historisch muß freilich problematisch bleiben, ob der Versuch, auch die Politik des Kaisers gegen die Anklage des Versagens in Schutz zu nehmen, gerechtfertigt ist. Die These, daß die Daily Telegraph-Krise von 1908 das Selbstbewußtsein des Monarchen tragisch vor dem Zeitpunkt aussichtsvoller Reife gebrochen habe, ist gegen die Gesamtheit der Zeugnisse über seine Regierung doch nicht aufrechtzuerhalten. -- Das mit Recht aufsehenerregende Erinnerungswerk Hutten-Czapskis ist von Maximilian Hagen < 1212> noch einmal einer verständnisvollen Würdigung unterzogen worden, die gegen einen Teil der inzwischen laut gewordenen Kritik mit Recht seine unleugbar große Bedeutung als historische Quelle unterstreicht und die eigenartig schwierigen Voraussetzungen seiner Lebensbahn mit ihrem katholischen und polnischen Hintergrund klarzumachen sucht.

Biographisch geht auch die kritische Beschäftigung mit der Persönlichkeit Fr. von Holsteins ununterbrochen weiter, ohne bisher zu abschließenden Ergebnissen zu führen, die trotz des Roggeschen Briefbandes doch erst von erneuter und vertiefter Durcharbeit der Akten des Auswärtigen Amtes oder der


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Erschließung weiterer vertraulicher Materialien zu erhoffen sind. Der Versuch E. Klockes < 1175>, nachzuweisen, daß in den Anfangsjahren des Neuen Kurses bis 1894 sein Einfluß und seine Verantwortlichkeit sehr viel geringer gewesen seien, als man bisher annahm, scheint freilich wenig glücklich. Es ist doch nicht möglich, aus dem Fehlen von Holstein konzipierter Schriftstücke in der diplomatischen Korrespondenz für bestimmte Arbeitsgebiete zuverlässig auf Fehlen oder Schwäche seines Einflusses zu schließen, wie es hier versucht wird. Wo einmal -- so bei der Kündigung des Rückversicherungsvertrages -- vertraulicheres Material schon vorliegt, tritt die Bedenklichkeit dieser Methode des argumentum e silentio sofort deutlich hervor. -- Die zusammenfassende Charakteristik, die H. von der Goltz < 1176> zu Holsteins 100. Geburtstage gegeben hat, spiegelt in der Hauptsache die seit Rogges Buch vorherrschende Neigung zu einer günstigeren Beurteilung seiner Persönlichkeit wider. Sie wird wesentlich als Verdeutlichung des gegenwärtigen Forschungsstandes, kaum als abschließende Feststellung zu benutzen sein.

Für den mit Holstein eng befreundeten Pariser Botschafter Fürst Radolin verdanken wir dem soeben tragisch verschiedenen, unermüdlichen Fr. Thimme < 1177> eine sehr bedeutsame, auf Briefmaterial und Aufzeichnungen des Nachlasses gestützte Studie. Sie stellt die Neigung richtig, in dem Botschafter nur ein willenloses Geschöpf Holsteins zu erblicken. Radolin hat zu Recht oder Unrecht in Paris mehrfach den Versuch gemacht, die Härten der Berliner Politik abzuschwächen. Obwohl er mit großer Entschiedenheit gewünscht hat, das begrenzte Entgegenkommen Rouviers in der Marokkokrise nicht einfach abzustoßen, kann er doch auch nicht einfach summarisch als von seiner französischen Umgebung schwächlich abhängig charakterisiert werden. Die Anklagen, die Fr. Rosen anläßlich seiner Pariser Sondermission im Sommer 1905 gegen den Botschafter erhoben hat, müssen nach dieser Studie wesentlich eingeschränkt werden. Gegen Thimmes sehr günstiges Urteil bleibt freilich das Bedenken, daß auch die französische Seite nach den Documents Diplomatiques die Berichterstattung Radolins schließlich als durchaus ungenügend kritisiert hat. Der Wert des Aufsatzes als wesentliche Bereicherung unserer Kenntnis über die deutsche Marokkopolitik und tiefgehende Kritik ihrer steuerlosen Uneinheitlichkeit unter der versagenden Leitung Bülows kann jedoch durch gewisse Zweifel, ob das Ausmaß der persönlichen »Rettung« zutrifft, nicht aufgehoben werden.

Zur Geschichte der deutschen Innenpolitik untersucht die Dissertation von K. H. Kröger < 1208> das Verhältnis der konservativen Partei zur Politik Caprivis. Sie bringt keine wesentlich neuen Ergebnisse, da sie in Beschränkung auf die gedruckte Literatur gearbeitet ist. Für den Historiker ist am ersten die eingehende Behandlung der Kämpfe um die Handelspolitik des Neuen Kurses durch Ausnutzung von Parlamentsberichten und volkswirtschaftlicher Literatur brauchbar. -- Die Bonner Arbeit von Dietr. Jung < 1209> über den Alldeutschen Verband kann für Einzelheiten in den wichtigen Verhandlungen zwischen H. Claß und Kiderlen-Wächter (1910/11) ergänzende Mitteilungen beibringen. Sie sucht vor allem auf Grund der neuerdings stark angeschwollenen Literatur zu einer Gesamtwertung seiner historischen Bedeutung vorzudringen, die ihn als Wegbereiter des völkischen Gedankens anerkennt, ohne seine Grenzen im Besitz- und Bildungsbürgertum der Vorkriegszeit und die bei allen Verdiensten


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der Aufrüttelung unleugbaren Schwächen seiner außenpolitischen Zielsetzungen zu verkennen.

Der einzeln bedeutendste Beitrag des Jahres zur inneren Geschichte Deutschlands, als solcher auch anerkannt in der schönen Besprechung H. Ritter von Srbiks (Berliner Mhh. Jg. 16, 1938, S. 860--863), ist zweifellos das Fr.-Naumann-Buch von Th. Heuß < 1210>. Gewiß bleibt als letztes Ergebnis die Sicherheit, daß sein Held keine eigentlich politische Natur gewesen ist. Naumanns Anschluß an den demokratischen Linksliberalismus seit 1903 hat ihn in eine verwickelte Lage gebracht, die den fruchtbaren Impuls seiner christlichsozialen und nationalsozialen Anfänge verhängnisvoll lähmte. Aber seine allen Anregungen offene Natur macht ihn historisch zu einem selten reichen Spiegelbilde der gärenden Übergangszeit um die Jahrhundertwende, und dieser biographische Reichtum ist von seinem Schüler und Vertrauten Heuß mit sehr glücklicher, feinsinniger Hand entfaltet worden. Alle großen wirtschaftlichen und sozialen, religiösen und künstlerischen Strömungen der Krise um 1900, vielfach doch als Keime der Nachkriegsgeschichte von großer Tragweite, werden in farbigem Reichtum sichtbar. Es bleibt, wie Srbik mit Recht betont hat, historisch auch bestehen, daß Naumann in allen Wandlungen, in dem ahnungsvollen Schwung seiner Herkunft von Stoecker, auf dem Höhepunkte der nationalsozialen Episode, auf dem er die Besten seiner Generation um sich scharte, aber auch in der demokratischen Wendung stets um die große Aufgabe einer organischen Einordnung der Massen in den Staat gerungen hat. Der Mann, der zweimal -- mit »Demokratie und Kaisertum« und dem Mitteleuropabuch der Kriegszeit -- dem Ringen seiner Zeit vorbildlichen publizistischen Ausdruck gegeben hat, blieb bis in seinen Widerstand gegen die Annahme des Versailler Diktates eine der lautersten und repräsentativsten Erscheinungen seiner Zeit, für deren geschichtliches Schicksal diese Lebensdarstellung, weit über den engeren politischen Bereich hinaus, in dem seine letzte Stärke nicht lag, wichtige Aufschlüsse gibt.


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