II. Außenpolitik.

Die umfangreiche Literatur zur europäischen Politik der Epoche konzentriert sich ganz überwiegend auf die Zeit von 1900 bis 1914. Ältere Einzelthemen werden nur behandelt in einem Aufsatz von Sir R. Beazley < 1179> über die Samoafrage, der in Kombination der englischen und deutschen Akten die Hartnäckigkeit des Widerstandes hervorhebt, den Salisbury seit 1897, Chamberlain nach dem Mißerfolg seiner Bündniswünsche jedem Entgegenkommen an den deutschen Standpunkt entgegenstellten. -- Ad. Hasenclever < 1185> hat in einer seiner letzten Arbeiten die Erinnerungen des amerikanischen Gesandten Herb. W. Bowen zum Venezuelakonflikt von 1901 kritisch untersucht. Er weist nach, daß das Buch ganz unter dem Eindruck der Weltkriegsabneigung gegen Deutschland entstanden ist und als Quelle nur mit stärksten Vorbehalten benutzt werden kann. Bowen hat die Politik Castros gegen die europäische Intervention rücksichtslos unterstützt und ist auch in Washington ausschließlich bemüht gewesen, die Krise als Mittel zur Störung der deutschenglischen Zusammenarbeit zu benutzen.

Von allen Einzelthemen der Vorkriegsgeschichte tritt diesmal in der Literatur am stärksten Vorgeschichte und Verlauf der ersten Marokkokrise hervor, für die die Ergebnisse der französischen Aktenausgabe eifrig bearbeitet worden sind. Eine, übrigens wertvolle, Sonderstellung nimmt das Buch des Amerikaners


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Williamson < 1184> über die Entwicklung der deutschen Marokkointeressen bis 1905 ein. Es verfolgt materialreich und erschöpfend auf Grund der gedruckten Literatur die Entstehung des wissenschaftlich-geographischen und später des wirtschaftlichen deutschen Anteils an Marokko und gewinnt damit einen recht instruktiven Ausgangspunkt für die Beurteilung der Aktionen von 1905 bis 1906. Die auf ein überreiches Material gestützte Feststellung, daß die wirtschaftliche Beteiligung Deutschlands an Marokko zwar in aussichtsreicher, von starkem ideellen Interesse geförderter Entfaltung begriffen war, aber weder ihrer materiellen Größe nach, noch im Verhältnis zu den älteren Positionen Englands, Frankreichs und Spaniens allein den Einsatz der Holsteinschen Politik hätte rechtfertigen können, ist geeignet, dämpfend auf die Neigung einzuwirken, den Kolonialimperialismus um 1900 zu sehr wirtschaftlich zu erklären. Die Schlußfolgerung, daß die deutsche Aktion in Marokko ohne ernste rationelle Wirtschaftsgrundlage gewesen sei, geht sogar an den Motiven der öffentlichen Meinung in Deutschland schon zu stark vorbei. Aber das Buch ist als Hinweis auf den wesentlich politischen Hintergrund der deutschen Marokkopolitik doch eine recht nützliche Leistung.

Im Mittelpunkt der aktenmäßigen Forschungen steht der große Eindruck, den die erfolgreiche Zielsicherheit der französischen Politik unter Delcassé und P. Cambon seit der Erschließung der diplomatischen Dokumente gemacht hat. Mehr und mehr beginnt die Gestalt des Londoner Botschafters noch vor dem Minister als wichtigster Träger dieser Politik zu erscheinen, die Frankreich auf dem Wege über die Regelung seiner kolonialen Zwistigkeiten mit England zur Vorhand im Spiel der europäischen Bündnispolitik erhob. Die aus an sich sachkundiger Feder stammende Biographie des großen Diplomaten < 1182> hat dazu freilich wenig beigetragen. Ebenso arm an originalen Mitteilungen, wie reich an Verzeichnungen und Lücken, durchaus tendenziös, ist sie eine schwere Enttäuschung geworden. Die wertvollen Forschungsergebnisse des Berichtsjahres sind durchweg aus der direkten Prüfung der Dokumente gewonnen worden.

Nur eine einzige dieser Arbeiten, die Leipziger Studie von F. Melzer < 1183> über die Bedeutung der Marokkofrage für die englisch-französischen Beziehungen von 1901 bis 1904 sucht mit an sich scharfsinniger Kritik der Meinung entgegenzutreten, daß die Politik Delcassés im Grunde schon seit Faschoda, die englische seit dem Ausgange der Bündnisbesprechungen mit Deutschland 1901 dem Endziele der gegenseitigen Verständigung zugesteuert seien. Er beleuchtet lehrreich die gerade in Marokko deutlichen Spannungen zwischen beiden Ländern und glaubt betonen zu müssen, daß Delcassé noch bis Ende 1902 von tiefem Mißtrauen gegen den alten englischen Rivalen erfüllt gewesen sei. Erst durch die Initiative Eduards VII. und Chamberlains im Frühjahr 1903 sei der Beginn einer Auflockerung dieser Spannung gemacht worden. Das beruht zum Teil auf richtiger kritischer Einschränkung der zu sehr vereinfachenden älteren Anschauungen. Indessen bleibt die Frage offen, ob die episodischen Vorläufer der Verhandlung von 1903/04 in diesem Bilde nicht doch zu gering gewertet sind und die versuchte Korrektur nicht ihrerseits zu weit geht. -- Die in ihren Anfängen parallele Arbeit H. Hallmanns < 1181> über Spanien und die Mittelmeerpolitik der beiden großen Westmächte von 1898--1907 weist doch einen Weg, die Spannung ihrer Interessen über Marokko zuzugestehen,


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ohne die Grundlinie der älteren Auffassung über die Politik Delcassés preiszugeben. Sie zeigt lehrreich, wie in der Regelung der Besitzfrage an der Küste Nordmarokkos und in dem verdeckten englisch-französischen Ringen um maßgebenden Einfluß in Madrid die überlieferte Mittelmeereifersucht beider Mächte bis zum Abkommen von 1907 fortwirkt, ohne daß durch diese bis zur Gegenwart bedeutsame Problematik der Herrschaft über die Westhälfte des Mittelmeeres die große zur Entente führende Hauptlinie der Politik Delcassés und Cambons aufgehoben zu werden braucht. Seine Studie erweitert sich von diesem Ausgangspunkte her zu einer Gesamtskizze des Marokkokonfliktes, in der die neuen Ergebnisse der französischen Akten für die Politik Delcassés und die großen Umrisse und Entscheidungen der Algeciraskonferenz heute am übersichtlichsten und vollständigsten zusammengetragen sind. Auch er gelangt zu rückhaltloser Anerkennung für die geschichtliche Bedeutung der Arbeit, die das sechsjährige Außenministerium Delcassé, gestützt auf einen Kranz ansehnlicher diplomatischer Talente, geleistet hat. »Die Tradition der Ententepolitik vermochte er so fest zu begründen, daß sie den Sturz ihres Schöpfers überleben konnte.«

Damit stimmt im Kerne völlig die umsichtige Untersuchung Haverkamps < 1184 a> mit dem Nachweis überein, daß die Festigung der Entente cordiale nicht erst durch die Marokkokrise von 1905/06 erfolgt ist, sondern entscheidend bereits mit den verwickelten internationalen Ereignissen des Sommers und Winters 1904 beginnt. Schon im Augenblick der ersten englischen Flottenpanik an der Jahreswende hat die umsichtig zwischen Rußland und England vermittelnde französische Diplomatie mit ihrem Bestreben einen entscheidenden Fortschritt erreicht, das Inselreich einer deutschfeindlichen Front einzugliedern.

Die Einzelereignisse, die den Sturz Delcassés begleiten, sind von Aug. Bach < 1194> unter Verwertung des ganzen Quellenstoffes der letzten Jahre, gelegentlich auch unter Heranziehung neuer Einzelstücke aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, noch einmal in einer kritisch zunächst abschließenden Studie behandelt worden. -- Bereits über diesen Zeitpunkt hinaus führt der neueste Band der französischen Aktenausgabe (II, 7 < 1191>), der die Ereignisse bis zum Ende September 1905 behandelt. Er umfaßt damit wesentlich die Krise, in der Rouviers Hoffnung scheiterte, durch Preisgabe seines Außenministers zu einer schnellen Regelung der Marokkofrage ohne Konferenz zu gelangen. Über diese in der deutschen Literatur bereits mehrfach verhandelte Frage hinaus ist aber wieder der Reichtum der Streiflichter auf den weltpolitischen Hintergrund des deutsch-französischen Ringens von ausschlaggebendem Interesse. Der Band bringt wichtiges Material über die sorgfältige Beeinflussung Roosevelts durch den französischen Botschafter Jusserand, das wieder deutlich macht, wie Rouviers ganze Politik von der Hoffnung lebte, die Konferenz auf diplomatischem Wege entbehrlich zu machen. Gegen die gelegentlich aufgetauchte Neigung, der Bjoerkoepolitik Wilhelms II. gewisse Erfolgsaussichten zuzusprechen, wird hier erneut beleuchtet, daß in Petersburg Lamsdorff ihr stets unbedingt entgegenarbeitete, auch wenn er den Zweibund nicht als Hindernis guter Beziehungen zu Deutschland gelten lassen wollte. Die Schärfe, mit der Rouvier Wittes Kontinentalblockneigungen im Juli 1905 zurückwies -- vouz oubliez 70! --, zeigt für die französische Seite noch einmal abschließend, wie bedenklich


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es wäre, den Abstand zu überschätzen, der trotz der verschiedenen taktischen Mittel zwischen diesem Ministerpräsidenten und Delcassé bestand.

Beruht der Reichtum dieser Marokkoliteratur auf den Anregungen, die der Fortschritt der französischen Aktenausgabe gemacht hat, so ist die Zahl der Arbeiten zur Außenpolitik Italiens durch das Fehlen des entsprechenden Hilfsmittels noch immer recht spärlich. Auf Grund der Kenntnisse, die ihm eine zwanzigjährige Tätigkeit in Rom als Presseleiter der österreich.-ungarischen Botschaft und Korrespondent seit dem Kriege vermittelte, hat M. Claar < 1180> die Reihe der Botschafter der Doppelmonarchie von Pasetti bis Macchio mit wohl abgewogenem, kritischem, aber für das Verständnis der Beziehungen zwischen Österreich und Italien aufschlußreichem Urteil behandelt. -- Dazu ist der 3. Band des großen Werkes von Tommasini < 1206> über die Außenpolitik Tittonis erschienen. Er behandelt in der gleichen materialreichen und gediegenen Art wie seine Vorgänger die Übergangszeit von der ersten Marokko- zur bosnischen Annexionskrise. Der Verf. stand in den Jahren 1906/07 dem Minister als persönlicher Sekretär nahe und vermag auf europäischem Hintergrunde ein ausgeführtes Bild der Zwischenstellung Italiens zwischen der Entente und dem immer stärker ausgehöhlten Dreibunde zu geben. Der (4.) Schlußband soll bis zu Tittonis Sturze im Jahre 1909 führen. Zusammen mit dem Buche Cataluccios über San Giuliano <1935, 1191> wird damit die Lücke unserer Kenntnisse über die italienische Außenpolitik vor 1914 so weit geschlossen sein, wie es durch private Leistung vor der Publikation der Akten zur Zeit zu erhoffen ist.

In der Literatur zur englischen Politik wiegen die biographischen Arbeiten, zum Teil freilich sehr gewichtiger Art, vor. Die Studie Amalie Denglers < 1200> über den Petersburger Botschafter Sir G. Buchanan sucht methodisch richtig, durch die kritische Vereinigung von Aktenpublikation und älterer Memoirengrundlage einen Beitrag zur tieferen Kenntnis der englischen Diplomatie zu gewinnen. Das wird ein Weg sein, der nach Abschluß der British Documents noch öfters zu beschreiten ist. In dem vorliegenden Falle sind die Ergebnisse zwar einwandfrei, aber begrenzt, da ein reicheres Bild neben den typischen Konturen der allmählichen Wendung Buchanans gegen Deutschland sich erst für die letzten Vorkriegsjahre seit 1912 gewinnen ließ. Die spröde und nüchterne Art dieses englischen Diplomaten, der doch kaum aus dem Durchschnitt hervorragte, stellte wohl von vornherein kein sehr ergiebiges Thema dar. Die Bearbeitung hat auch kaum alles erreicht, was sich durch die kritische Konfrontierung hätte erzielen lassen.

Am bedeutendsten ist die intime Lebensdarstellung Greys aus der Feder G. Macaulay Trevelyans < 1201>, die bei allen leicht festzustellenden Schranken zu den für die politische Vorgeschichte des Weltkrieges wichtigsten und anregendsten Büchern der letzten Zeit gehört. E. Brandenburgs < 1202> Kritik hat mit gutem Grunde zunächst scharf betont, daß die unbedingte Bewunderung des Verf.'s für Persönlichkeit, innerpolitischen Standpunkt und Außenpolitik Greys an allen neuen historisch-kritischen Problemstellungen vorübergeht, die seit 1918 dem Lebenswerke seines Helden entgegengestellt sind. Wenn dieser Kritiker für Grey seine alte Formel als wohlmeinenden, aber im Grunde schwachen und versagenden Politiker aufrecht erhalten zu können meint, so scheint das aber doch dem lebensvollen Inhalt dieses Buches nicht


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gerecht zu werden. Es hat, wie die schöne Einleitung K. A. von Müllers zur deutschen Übersetzung herausgearbeitet hat, zunächst einmal das Verständnis des Menschen Grey in seiner eindrucksvoll verhaltenen Eigenart für immer ermöglicht. Faßt man die Gesamtheit des hier gebotenen intimen Materials zusammen, ordnet man das Bild des idealistisch radikalen Innenpolitikers mit der so ganz aristokratischen persönlichen Eigenart und der Linie des Außenpolitikers Grey einheitlich zusammen, der ebenfalls angeborenen und in der Natur geschulten Realismus mit zähen ideologischen Grundtendenzen vereinigte, so ergibt sich eine zwar ausschließlich englisch geprägte, aber doch unendlich zähe und elastische Gesamthaltung, die seinen großen und lange bleibenden Einfluß im englischen Denken als historisches Phänomen begreiflich und des Nachdenkens wert macht. Grey ist bei allen idyllischen Neigungen zu sehr Willensmensch gewesen, um ihn grundlegend als Politiker zu verstehen, der in der höchsten Krise seines Lebens unter dem Druck der Verantwortung Besinnung und Augenmaß zeitweilig völlig verloren habe. Wie er schon seit 1906 die englisch-amerikanische Freundschaft der Kriegszeit still vorbereitete, so ist auch seine Haltung in der Julikrise des Jahres 1914 das reife Ergebnis einer seit 1904 feststehenden politischen Anschauung über die Gesamtlage Europas gewesen. Anfechtbar in der Wertung dieses Lebenswerkes, ist das Werk Trevelyans doch gerade dadurch besonders lehrreich, daß es, selbst aus der Lebensatmosphäre Greys heraus geschrieben, ihren Inhalt noch einmal unmittelbar lebendig macht und so zu einem Dokument für ihre weiterwirkende Kraft in der englischen Politik wird.

Gleichzeitig mit Grey hat der ihm als liberaler Imperialist eng verbundene Haldane durch Sir Fred. Maurice < 1204> eine Biographie erhalten, die in dem erschienenen 1. Bande bereits den Hauptinhalt seines Lebens bis 1915 umfaßt. Sie ist neben seinen Vorkriegsbüchern und der immer noch grundlegenden Autobiographie nicht von der gleichen Unentbehrlichkeit wie das Buch Trevelyans für den verschlosseneren Außenminister. Aber auch sie ist anziehend als verständnisvolle und vielfach als Schlüssel zu diesen älteren Quellen wirkende Deutung dieses eigenartigen philosophierenden Politikers und praktischen Philosophen. Sie bringt auch ein ganz Teil wertvolles neues Material wie die erste Korrespondenz mit Grey bei der Einleitung der französisch-englischen Militärbesprechungen Ende 1905 und die bezeichnenden Briefe des Ministers an seine greise Mutter über den Verlauf der Berliner Mission von 1912. Das Buch macht erneut deutlich, daß der im inneren Parteigetriebe stets etwas isolierte und nicht allzu erfolgreiche Haldane eine jener Naturen war, denen die Realität der Macht wichtiger ist, als ihr äußerer Schein, eine der stärksten Persönlichkeiten des englischen Kabinetts vor 1914. M. hat die große Leistung seiner Heeresreform noch einmal recht glücklich geschildert und sie gegen die ungerechte Kriegskritik im eigenen Lande energisch in Schutz genommen. Sie hat, wie Kluke mit Recht betont, erst die feste reale Grundlage der Greyschen Außenpolitik geschaffen, zu deren eifrigsten Helfern Haldane, sein regelmäßiger Vertreter im Foreign Office, gehörte. Trotzdem er 1912 ehrlich auf einen Erfolg seiner Friedensmission gehofft hat, wird man sich doch noch stärker als bisher hüten müssen, ihn mit der Schablone des Deutschenfreundes charakterisieren zu wollen, die durch sein Verhalten in der Julikrise 1914 grell widerlegt wird. Daß seine philosophische Neigung für Hegel nicht einfach als


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Bekenntnis zum deutschen Idealismus zu werten ist, hat gleichzeitig Liselotte v. Reinkens Studie (Haldane, Umriß eines liberalen Imperialisten. Stuttgart, Kohlhammer, VI, 56 S.) noch einmal nachgewiesen, die außerdem seine Entwicklung fruchtbar in das Gesamtbild des liberalen englischen Imperialismus um 1900 einordnet.

Dem materiellen Inhalt nach überwiegend ein Beitrag zur Geschichte der englischen Innenpolitik, ist der zweite aus dem Nachlaß Austen Chamberlains erschienene Briefband: Politics from Inside, 1906--1914 < 1199> doch auch für die Einstellung der Nation zu Deutschland von großer Bedeutung. Es ist daher voll berechtigt, daß er inzwischen, mit seinem früheren Buche Down the Years vereint, in einer sonst einwandfreien, glücklichen deutschen Übersetzung von Fr. Pick verarbeitet ist, deren Vorwort der Feder des gegenwärtigen Premierministers Neville Chamberlain entstammt. Ist auch der historische Ruf Austens in erster Linie an seine Bedeutung als Träger der Locarnopolitik nach dem Kriege geknüpft, so stellen diese Rechenschaftsbriefe der Vorkriegsjahre an seinen leidenden großen Vater doch ein einzigartiges Zeugnis für die in der Familiendynastie Chamberlain ganz plastisch greifbare Kontinuität der englischen Politik dar. Die Opposition der Konservativen vor 1914 besitzt schon durch ihr Eintreten für Schutzzollforderung und Empiregedanken unmittelbar europäische Bedeutung als Trägerin zukunftswichtiger Grundtendenzen im politischen Leben Englands. Und schließlich sind, wenn auch an Zahl und Umfang nicht allzu reichlich, die Beiträge nicht zu übersehen, die beleuchten, wie gerade in diesem mittleren Vertreter der »Chamberlaintradition« die englischen Konservativen immer ausschließlicher in den Bannkreis eines gegen Deutschland gerichteten Ententegedankens gerieten. Chamberlains in den letzten Jahren wiederholt beleuchtetes wichtiges Eingreifen in der Julikrise erhält hier seinen tieferen Hintergrund, so daß das Buch auch als Quelle zum Studium der öffentlichen Meinung Englands in der Entwicklung zum Kriege hin stärkste Beachtung verdient.

Eine letzte, zahlenmäßig nicht geringe, an Gehalt aber doch diesmal schwächere Literaturgruppe befaßt sich schließlich mit den Fragen der europäischen Ostpolitik vor 1914. Helmreich und Black < 1186> haben zu dem umstrittenen Problem der russisch-bulgarischen Militärkonvention von 1902 nachgewiesen, daß ihr authentischer Text auch heute noch nicht zweifelsfrei vorliegt. -- Eine bisher nur im Teildruck vorliegende Berliner Dissertation von Gerh. Richter < 1195> hat durch umfassende Heranziehung der russischen Materialien über den Ententeabschluß von 1907 einen lehrreichen Beitrag für ihre politische Wertung gegeben. Sie macht die Größe der russischen Zugeständnisse in Zentralasien sehr deutlich und beweist, daß England nicht nur durch die Verschiebung der europäischen Gesamtlage, sondern auch durch wesentliche Verstärkung der indischen Grenzsicherung mit diesem Vertrage die Ernte seiner ostasiatischen Druckpolitik in Sicherheit brachte. Nach der englischen Seite wird sie fruchtbar ergänzt durch H. Onckens Studie (Die Sicherheit Indiens. Ein Jahrhundert englischer Weltpolitik. Berlin, Grote, 181 S.) über die Bedeutung des indischen Sicherheitsproblems in der englischen Weltpolitik seit Disraeli, die vor allem nach dem englischen Aktenwerk in großen Zügen die Bedeutung umreißt, die die Behauptung des asiatischen Hauptbesitzes für die moderne englische Weltpolitik erlangt hat. O. unterstreicht scharf, daß schon


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aus dieser Sorge heraus ein Bündnis mit Deutschland um die Jahrhundertwende stets nur das »petit dessein« der englischen Politik habe sein können, solange sich die Russen ihnen verweigerten. Wenn gegen seine Beurteilung der russischen Politik einzelne Bedenken geäußert sind, so greift hier die von O. Hoetzsch angeregte und geleitete Untersuchung von Richter in glücklicher Weise ergänzend ein.

Die Annexionskrise von 1908/09 hat jetzt endlich zwei umfassende Darstellung, beide von Rang und Bedeutung, erhalten. Das zweibändige Werk des früheren serbischen Außenministers M. Nintschitsch < 1197> stellt trotz der Nationalität des Verf.'s die europäische Seite der Vorgänge in den Vordergrund. Es läßt im Gegensatz zu seinem von ihm scharf bekämpften Landsmann Boghitschewitsch das Verständnis für die Notwendigkeit der Abwehrpolitik Österreich-Ungarns vermissen und stützt sich nach dieser Seite, wie H. Uebersberger nachgewiesen hat, auf sekundäre publizistische Literatur. Der Inhalt der österreichischen Aktenpublikation ist etwa für den Prozeß Friedjung völlig unbeachtet geblieben. Im übrigen ist aber dem Buche Großzügigkeit und fleißige Arbeit nicht abzusprechen. -- Verwandte Vorzüge besitzt auch das Werk B. E. Schmitts < 1196>, das die riesige Literatur zum Thema lückenlos erfaßt und sogar -- leider vergeblich -- versucht hat, die Lücken unserer russischen Aktenkenntnis zur Buchlauer Politik Iswolskis zu schließen. Zu Einwänden führt jedoch, wie in dem älteren Kriegsschuldwerk des Verf.'s, wieder die Einseitigkeit, mit der er die Politik Greys in der Krise zu idealisieren versucht hat. Seine These, daß ihre Lösung der Vermittlungskunst des englischen Staatssekretärs zu verdanken sei, sein Versuch, die enge Bindung Greys an Rußland in der Wertung mehr als in der Einzeldarstellung abzuschwächen, die gleiche Bindung Berlins an Wien dagegen zu unterstreichen, ist von der Kritik Herm. Lutz' mit Recht zurückgewiesen worden. Das Verdienst, diesem großen Vorspiel der Julikrise endlich eine zusammenfassende Darstellung gegeben zu haben, überwiegt aber im ganzen entschieden diese Schwächen.

Mehr episodische Bedeutung hat das Buch des Grafen G. von Lambsdorff < 1188>, das nach eigener Erinnerung und unter umfassender Benutzung und Wiedergabe ihrer Berichte über die Tätigkeit der deutschen Militärbevollmächtigten in Petersburg von 1904--1914 berichtet. Mit Ausnahme des Kpt. von Hintze hat keiner von ihnen stärkeren Einfluß auf den Zaren gewinnen können. Die Zeit der dynastischen Freundschaft zwischen Romanows und Hohenzollern war durch stärkere Kräfte abgelöst, als Wilhelm II. auf dies Mittel der Bismarckschen Überlieferung zurückgriff. Es bleiben eine Reihe interessanter Streiflichter auf die innere Entwicklung Rußlands, die Art der maßgebenden Persönlichkeiten, die militärischen Institutionen, die der besonderen Stellung dieser kaiserlichen Flügeladjutanten in der russischen Gesellschaft zu verdanken sind. Das Charakterbild des letzten Zarenpaares gewinnt erneut durch eine Fülle von Einzelzügen an Anschaulichkeit. Die an dieses Buch anschließende Polemik Raschdaus < 1189> gegen den Verf. über die Bedeutung der Kündigung des Rückversicherungsvertrages hat nichts Neues ergeben.

Als letztes sind noch zwei Memoirenwerke zum Themenkreis der russischen Politik zu erwähnen. Das Buch M. Bompards über seine russische Mission von 1903--1908 < 1187> bietet zwar nichts entscheidend Neues gegen die französischen Dokumente, ergänzt aber das Bild der Ententepolitik in Rußland


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während der entscheidenden Übergangsjahre von 1904 bis 1907. -- Die neue Auflage des bekannten Taubeschen < 1190> Buches berücksichtigt nicht nur die seit dem ersten Erscheinen vorliegende Literatur, sondern ergänzt auch in Einzelkapiteln die persönlichen Erinnerungen des Verf.'s, vor allem für seine Teilnahme an den Haager Friedenskonferenzen; sie darf daher neben der Erstausgabe nicht übersehen werden.


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